Schluss mit der Perfektion
Was lässt uns zögern, die drängenden Themen unserer Zeit anzugehen, wo sich doch alle einig sind? Im nachfolgenden Essay reflektiert der Architekt Dr. Stefan Nixdorf (Partner in der agn-Gruppe / www.agn.de) die Geschichte des nachhaltigen Bauens. Er zieht Zwischenbilanz und fordert vereinfachte Lösungen im digitalen Arbeiten sowie deren geschickte Kombination mit Erfahrungen, die den Bau und die Entwicklung von Gebäuden zukünftig bestimmen könnten.
Rettet uns jetzt nur noch, im Kreis zu laufen, um vorwärts zu kommen? Der Impuls, zirkulär zu denken und in Zukunft anders zu bauen statt einfach so weiter zu machen, fordert Überzeugung und Entscheidungskraft. Vielleicht ist weniger manchmal mehr.
Der Amerikaner und Informatiker Alan Kay soll gesagt haben: „Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet.“ Lassen Sie uns alle gemeinsam, Bauherr:innen wie Bauschaffende, Architekt:innen und Ingenieur-:innen die Zukunft unserer Kinder wirklich gestalten – und zwar in der Verantwortlichkeit, die unserem Berufsstand zukommt! Scheinbar wollen alle eine Bauwende, denn es ist fünf vor Zwölf oder später. Und es besteht offenbar Einvernehmen darüber, dass dies nur durch eine grundsätzliche Transformation der Bauwirtschaft möglich ist. Doch wie soll diese aussehen? Was können oder müssen wir tun?
Es sind zwei sonnige Tage im UNESCO-Weltkulturerbe Zeche Zollverein Essen. Man ist umgeben von rotem Klinker, gefasst in klaren Linien industrieller Bauweise und beeindruckt von der Kraft grundlegender Wandelbarkeit einer Region. Diese Atmosphäre ist architektonisch ebenso inspirierend, wie Engagement und Botschaften der anwesenden Fachleute auf dem Nachhaltigkeitssymposium der Bauwirtschaft 2022 – nicht die erste Konferenz zu dem Thema, aber erneut richtungsweisend in ihren Aussagen,
Die Antwort auf die Frage, was zu tun ist, ist aus Sicht der Bundesregierung klar: Baukostenbegrenzung, Digitalisierung und Planungsbeschleunigung werden zentrale Themenfelder. Nachhaltigkeit, klimagerechtes Bauen, und zwar flächen- und ressourcenschonend unter Beibehaltung der Qualität und Bezahlbarkeit sind entscheidende Schlagworte. Laut dem Bundes-Klimaschutzgesetz müssen die betriebsbedingten CO₂-Emissionen der Gebäude bis 2030 fast halbiert werden, so ein parlamentarischer Staatssekretär: „Hierfür müssen wir die Energieeffizienz stärken, den Einsatz erneuerbarer Energien deutlich steigern und wir müssen in Zukunft anders bauen als bisher.“ Und hier ist der letzte Teilsatz entscheidend – anders bauen als bisher! Nur wie?
Eine Lösung kann die Änderung der Bauweise sein. Ein hoher Marktanteil vorgefertigter 2D-Elemente in witterungsunabhängiger Herstellung oder modulares Bauen in 3D-Einheiten wird die Bauqualität weiter steigern, die Bauzeit verkürzen und die bauleistende Arbeitskraft optimal am regionalen Ursprungsstandort halten. Die Wiederverwendungsfähigkeit der Bauteile wird wichtig, denn die Rückbaufähigkeit – Voraussetzung für eine Rückführung in den baulichen Kreislauf – ermöglicht ein „2nd life“. Zentraler Punkt für das Erreichen all dieser Ziele ist eine Digitalisierung der Bauwirtschaft. Um Themen wie Lebenszyklus-Betrachtung und Kreislaufwirtschaft zu befördern, hat die neue Bundesregierung daher die Einführung eines Gebäuderessourcenpasses (GRP) vereinbart.
Frühzeitig digital und modellbasiert arbeiten entspricht dem Grundsatz der Qualitätssicherung während der Evolution BIM. Aber der Ansporn vollsynchroner Tätigkeit kann im Alltag planerische Abhängigkeiten unterhalb der Gewerke nicht ausschalten. Immer schneller zu werden, scheint das digitale Ziel. Aber statt die Zeit zu nutzen, die man gewinnt, wird die Genauigkeit und Anforderung an die jeweilige Leistungsphase maximal ausgereizt. Die Frage: „Wofür tun wir das?“ muss erneut beantwortet werden. Überlassen wir es den Planer:innen, sich diese zu eigen zu machen und stärken ihren Fokus auf das Ergebnis: das gebaute Haus. Die digitale Methode steht als modellbasiertes Planen außer Zweifel und bleibt wichtiger Baustein zur Dokumentation von Nachhaltigkeit. Aber ihr Mehrwert könnte sich im Lebenszyklus noch stärker entfalten. Ein Materialpass wird zu einem nützlichen Werkzeug des FM-Betriebs. Dann steht BIM für ein Building-Information-Management.
Gute Materialien günstiger machen
Politische Absichten stehen fest: 400 000 Wohneinheiten pro Jahr sollen nun die drängendsten Probleme auf dem Wohnungsmarkt lösen. Doch wer wird diese Häuser bauen? Wo kommen all die erforderlichen Fachkräfte her, die auch im hochwertigen Teil des Baugewerbes immer noch fehlen? Und am Ende: Wer soll das bezahlen? Vielleicht braucht es eine grundsätzliche Evolution wirtschaftlicher Förderungsanreize. Bislang haben günstige Kredite sekundär gefördert, um nachhaltig zu bauen. Dabei bräuchte es Zielvorgaben, deren Umsetzung über einen Nachweis zwingend wäre. Was wäre, wenn die guten Materialien preisgünstiger einzukaufen sind oder Bauweisen direkt gefördert werden und dadurch primär weniger kosten? Im Umkehrschluss könnten schlechte, CO₂-intensive Baustoffe direkt besteuert und teurer werden, um sie aus dem Markt zu verdrängen. Hier ist der Gesetzgeber in der Verantwortung und die Industrie gefragt.
Regionales Engagement sollte gefördert werden, um geringere Fahrdistanzen zur Baustelle zu unterstützen. Und: Die Ressource Mensch (und dessen Erfahrung) wird immer noch zu hoch belastet. Arbeitslohnkosten sollten nicht mehr relevant sein, wenn es darum geht, handwerklich intensive bzw. qualitativ hochwertige Bauweisen einzusetzen (hier geht es nicht um billigere Arbeitskraft!). Das Ergebnis scheint einfach: gut = günstig/ schlecht = teuer. Doch wer traut sich, gut/schlecht zu definieren?
„Fehlerkultur“ ist hier ein Stichwort
Politik und Verordnungsgeber sind angesprochen, Unternehmungen mit den notwendigen Rahmenbedingungen aktiv zu unterstützen, die mit Pioniergeist neue Materialien ausprobieren oder alte Methoden reaktivieren. Ideen gibt es viele.
Dies fordert von allen fachlich an der Planung Beteiligten großes Umdenken und vor allem den Mut der Entscheidungsträger:innen. Bauherr:innen müssen vertrauen dürfen, nicht allein auf bestehende Normen gründen zu müssen, sondern auch auf der Basis von Erfahrungen zu entscheiden. „Fehlerkultur“ ist hier ein Stichwort.
In Zukunft spannende Geschäftsmodelle
Das Potenzial, neue Wege zu finden, um die viel beschworene Bauwende zu erreichen, erscheint größer als das Risiko. Einen Versuch ist es wert. Also Schluss mit der Perfektion, der permanenten Beweisführung vorgeschlagener Planungsansätze, dass man nur ja nichts falsch gemacht hat. Packen wir das Problem vorne an: Material und Bauweise. Hier werden in Zukunft viele spannende Geschäftsmodelle entstehen. So gibt es Überlegungen zu sogenannten „Product as a Service“-Modellen, die Baustoffe gegebenenfalls mit Rücknahmegarantien versehen oder „energy-on demand“-Systeme als „plug-n-play“ zur bedarfsgerechten Versorgung.
Die Maxime heißt im besten Fall: Gebrauchen statt Verbrauchen. In Kreisläufen denken bedeutet eine wirklich neue Chance. Voraussetzung ist die Dokumentation der eingesetzten Baustoffe, denn in unserer Altbausubstanz sind in den letzten Jahrzehnten enorme Materialdepots entstanden, die je nach Material und Konstruktionsweise großes Potenzial als zukünftige Quelle für Sekundärrohstoffe aufzeigen. Ihre Erschließung kann einen wichtigen Beitrag zur Schonung natürlicher Ressourcen leisten. Dokumentieren wir die verwendeten Materialien zunächst und sorgen dafür, dass sie als Depot erkannt oder gar als Wertstoff-Bank genutzt werden. Der Urban Mining Index ist eine Systematik zur quantitativen Bewertung der Kreislaufpotenziale von Baukonstruktionen in der Neubauplanung. Andere Lösungen zur Erfassung von Bestandsbauten sind verfügbar und schaffen Zugang zur Vermarktung identifizierter, wiederverwertbarer Bauprodukte.
Doch was tun?
Seit etwa 50 Jahren wird der Bausektor immer wieder optimiert. Mittlerweile ist ein Bauprojekt für Bauherr:in und Planer:in so komplex, dass die Beantwortung der Frage WIE mindestens so aufwendig ist wie das WAS. Ein vereinfachtes Rechenbeispiel verwundert: Zwar verbrauchen wir heute pro Flächeneinheit offenbar nur noch etwa
halb so viel Energie wie damals, doch benötigen wir nun pro Kopf nahezu doppelt so viel Fläche. Es scheinen sich also persönlicher Komfortanspruch und energetische Erreichbarkeit aufzuheben. Wir können uns aber nach einem halben Jahrhundert der Optimierung nicht mit einer Nullsummenrechnung begnügen.
Die Zeit scheint reif zu sein, grundlegend andere Schwerpunkte setzen zu können. Durch Corona, Krieg und andere (globale) Krisen haben viele Menschen und Institutionen erkannt, dass eingefahrene Systeme infrage gestellt werden müssen, dürfen und können. Diese Bereitschaft zur Transformation fordert nun heraus, alte Pfade zu verlassen. Doch was tun? Natürlich ist das klimatechnisch beste Gebäude immer noch das, welches man nicht baut. Über Jahrzehnte hinweg hatten Neubauten die Vorfahrt. Daher werden wir unsere Aufmerksamkeit auch auf den Baubestand lenken. Die Kreativität der Architekt:innen und Ingenieur:innen reicht schon heute aus, um auch in bestehenden Strukturen attraktive Häuser entstehen zu lassen. Erfahrungen haben und machen dürfen, ist der Schlüssel.
Planung bleibt die stufenweise Verdichtung von Annahmen
Branchenexperten sagen nun zu Recht: „Kein ‚Ja, aber‘ mehr!“. Mit diesem Schritt wollen sie einen echten Systemwechsel herbeiführen, bei dem es darum geht, nicht nur die Dinge richtig zu tun, sondern die richtigen Dinge zu tun. Jetzt sind Kompetenz, Leidenschaft und Überzeugungskraft erwünscht. Wertschöpfung ohne Verschwendung, indem alle Aktivitäten optimal aufeinander abgestimmt und überflüssige Tätigkeiten vermieden werden. Hieran muss sich die Baubranche neu ausrichten (ohne komplexer zu werden). Also: Schluss mit der Perfektion, denn Planung bleibt die stufenweise Verdichtung von Annahmen. Daher hat jede Leistungsphase ihren geeigneten Maßstab zur Darstellung von Erkenntnissen. Von der Idee bis zur Ausführungsreife sollten Projektziele maßstabsgerecht sein und dies gilt für modellbasiertes 3D-Planen gleichermaßen. Nur weil die Visualisierung im Wettbewerb fotorealistisch ist, muss das Haus selbstverständlich noch ge-plant werden! (Natürlich helfen Erfahrungen bei ersten zeichnerischen Annahmen.)
Heute verantworten die echten Baumeister:innen nicht nur – nach Vitruv – utilitas (Funktion), firmitas (Stabilität) und venustas (Schönheit), sondern sie müssen mehr denn je Kosten, Termine und Qualitäten im Griff haben. Und nun lastet auch noch noch die Zukunft der Menschheit auf ihren Schultern, wenn angeblich mehr als 60 Prozent der verbrauchten Rohstoffe unseres Planeten für den Bau unserer Gebäude und Infrastrukturen verwendet werden, etwa 55 Prozent des Abfalls in Deutschland aus dem Bausektor stammen und rund 40 Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen dem Bauen zuzuordnen sind.
Nur gemeinsam ist die „mission possible“ – nicht alles muss perfekt sein. Stefan Nixdorf