Preisträger Hobelwerk Haus D, Winterthur
Der Zürcher Architekt Pascal Flammer hat in Winterthur ein Wohnhaus für die Baugenossenschaft „mehr als wohnen“ geplant. Auf den ersten Blick fällt besonders die Fassade des Hauses auf, die komplett in Weiß gehalten ist. Diese Vereinheitlichung dient dazu, die Vielfalt des Gesehenen zu kaschieren. Denn viele der Fenster, Balkonbrüstungen, Türen und Fassadenelemente am Haus D auf dem ehemaligen Hobelwerk sind nicht zum ersten Mal verbaut. Sie stammen aus Abbruchbauten und wurden für das Wohngebäude aufgearbeitet. Architekt Pascal Flammer hatte den Auftrag, so viel wiederverwendbare Bauteile wie wirtschaftlich sinnvoll in das Gebäude zu integrieren. Gemeinsam mit der Bauherrschaft und dem Schweizer baubüro in situ untersuchte er 60 Elemente, von denen schließlich 21 ausgewählt wurden.
So sind die Fenster alle unterschiedlich alt. Einen großen Unterschied zur Arbeit mit standardisierten Bauteilen stellten die Beteiligten bald fest: „Als wir die Türen einer früheren Bankfiliale auf ihre Wiederverwendbarkeit prüften, taten wir das anhand von Proben. Beim Einbau zeigte sich jedoch, dass es viel mehr Abweichungen gab, als wir bemerkt hatten“, so Flammer. Was auf anderen Baustellen undenkbar wäre, gelang hier aufgrund der funktionalen Ausschreibung, auf der die Planung beruhte. Die ArchitektInnen gaben dabei keine spezifischen Ausführungsdetails vor, wodurch Bauteile aus verschiedenen Quellen integriert werden konnten. Lernen musste er, so Flammer, sich auf das Wesentliche zu reduzieren und die Unvollkommenheit als architektonischen Willen zu akzeptieren. Dem fertigen Bau tut das gut, denn die Akzeptanz von Unregelmäßigkeiten und die bewusste Gestaltung mit dem Vorhandenen verleihen dem Gebäude eine eigene Identität.
Im Haus D sind nicht nur Familienwohnungen, sondern vielmehr Großraum-Cluster für Gemeinschaften und Atelierwohnungen für die Kombination von Wohnen und Arbeit entstanden. Das Erdgeschoss nimmt gleich mehrere Formate auf: Während an der Nordostseite die Zugänge zu den Atelierwohnungen hinter kleinen Gärten liegen, blickt man auf der eher öffentlicheren Südwestseite in die Arbeitsräume. Die westliche Ecke besetzt eine Werkstatt, die von mehreren Parteien genutzt wird. In der Mitte der Längsfassade führt eine außenliegende Wendeltreppe zu den drei oberen Geschossen.
Der erste Stock ist als Clusterwohnung mit 14 Zimmern und einer Wohnlandschaft mit halböffentlichen Räumen wie Wohnzimmern, Küchen und Balkonen geplant. Die gemeinsam genutzten Küchen- und Wohnräume sind großzügig, die rückwärtigen Zimmer bieten den BewohnerInnen Rückzugsmöglichkeiten und haben entweder eigene oder direkt vorgelagerte Bäder. In den darüber liegenden Geschossen schließen an einen mittigen Zugang jeweils zwei Clusterwohnungen an. Die fünf privaten Wohnbereiche sind zur Rückseite orientiert, davor liegen eine Gemeinschaftsküche und mehrere Aufenthaltsbereiche sowie der Zugang zum Balkon. Wer hier wohnt, hat im privaten Cluster ein bis drei Zimmer zur Verfügung – geeignet für Einzelpersonen, Paare und Familien.
Mit diesem Experiment unterscheidet sich Haus D deutlich von den hochspezialisierten Zürcher Wohnungsarchitekturen. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenräumen werden genauso verwischt wie die Übergänge zwischen Privatheit und Gemeinschaft. Wie Rahel Leugger, die Geschäftsführerin der Genossenschaft erklärt, ist „mehr als wohnen“ nicht nur ein Name, sondern auch ein Auftrag: „Die Genossenschaft wurde als Innovations- und Forschungsplattform gegründet, um in den Bereichen Bauen, Nachhaltigkeit und soziales Zusammenleben zu experimentieren. Unsere Erkenntnisse wollen wir allen gemeinnützigen Bauträgern zur Verfügung stellen.“
Dass sich die Baugenossenschaft als Bauherrin für die Wiederverwendung von Bauteilen und die Zusammenarbeit mit in situ einsetzte, war für das Projekt entscheidend: „Es war anspruchsvoll für alle“, sagt Rahel Leugger. „Über die Projektzeit haben wir Szenarien kennengelernt und Erfahrungen gesammelt, die wir bei künftigen Projekten einsetzen können.“ Gerade die Frage der Haftung für die wiederverwendeten Bauteile kam immer wieder auf. Da es keinen Hersteller gibt, der die Haftung übernimmt, trägt die Bauherrschaft das finanzielle Risiko.
Konventionelle Bauweisen zu hinterfragen und einen neuen Umgang mit Ressourcen im realen Projekt umzusetzen, ist im heutigen Bauwesen wichtig. Auch wenn bei Haus D von den ursprünglich untersuchten 60 Bauteilen nur etwa ein Drittel im Gebäude eingesetzt werden konnte, ist das Projekt vorbildlich für künftige Bauvorhaben. Die bedingungslose Wiederverwendung wirtschaftlich sinnvoller Bauteile ist ein mutiger Schritt, der zugleich aus ökologischer und ästhetischer Sicht herausfordert. Doch wenn nicht die Schönheit im Mittelpunkt steht, erhält die Geschichte der Materialien eine Bühne. Damit kommt dem Gebäude, abseits des reinen Bauvolumens, eine übergeordnete Bedeutung zu, die ihm Charakter gibt.
Katinka Corts
Projekt: Hobelwerk, Oberwinterthur/CH
Typologie: Wohnen
Bauzeit: 2018-2023
Bauherr: Baugenossenschaft „mehr als wohnen“, Zürich
Architektur: Pascal Flammer Architekten, Zürich
Team: Laura-Sophie Behrends, Simon Cheung, Pascal Flammer, Wilson Fung, Marija Urbaite
Lokaler Architekt: baumanagement-wild gmbh, Winterthur
Landschaftsarchitekt: Studio Vulkan, Zürich
Ingenieurbüro: Makiol Wiederkehr AG, B3 Kolb AG, Aschwanden & Partner AG
Bauphysik: Lemon Consult, Zürich
Weitere Fachplaner: Gruenberg + Partner AG, Zürich, baubüro in situ, Zürich
Das Projekt Hobelwerk, Haus D zeigt eindrucksvoll, wie in einem Wohnungsneubau die Anforderungen an klimagerechtes Planen und Bauen mit innovativen Wohn-Grundrissen und einer alles andere als gewöhnlichen Fassadensprache zusammengeführt werden können. Die Verbindung von Gewerbe und suffizienten Grundrissen für das gemeinschaftliche Wohnen ist ebenso herausragend wie die gestalterisch anspruchsvolle Wiederverwendung von gebrauchten Baumaterialien aus der Region.
Das Projekt zeigt in prototypischer Weise, wie vor dem Hintergrund der Klimakrise Neubauten - falls sie noch notwendig sind - zu planen sind. Um die Umweltbelastungen zu reduzieren, ist eben nicht ein Aspekt wie z. B. die Materialwahl allein entscheidend. Vielmehr gilt es, an vielen Stellen anzusetzen und die Optimierungs- und vor allem auch Einsparpotentiale zu bündeln und zu einem Ganzen zusammenzufügen. So koppelt sich die Suffizienzstrategie zur Verringerung des Wohnflächenbedarfs je Person mit neuen Formen des Zusammenlebens zwischen Individualität und Gemeinschaft.
Für die Reduktion der Umweltwirkungen wird richtigerweise der komplette Lebenszyklus adressiert. Vor allem die Nutzung einer Vielzahl bereits gebrauchter Materialien aus rückgebauten Gebäuden erschließt eine bisher nur selten genutzte Reduktionsmöglichkeit.
Dieses Vorgehen in einen üblichen zeitlichen Planungsablauf zu integrieren, kann nur in kooperativer und wertschätzender Zusammenarbeit aller Planungsbeteiligten entstehen.
Pascal Flammer Architekten bekommen den Preis, weil sie radikal mit relevanten Themen umgehen und sie pragmatisch und räumlich differenziert umsetzen: Gemeinschaftsförderung, schlanke Gebäudetechnik, niedrige Baukosten und stark reduzierte CO2-Emission.« ⇥Jury-Statement
Pascal Flammer Architekten, Zürich