Wohnsiedlungen Baugenossenschaft Waidmatt
Im Norden von Zürich entstehen auf den Grundstücken einer Siedlung aus den 1950er-Jahren Ersatzneubauten. Das Projekt von Enzmann Fischer Partner überzeugt auf allen Ebenen, vom städtebaulichen Ansatz über die Grundrisse bis hin zu Materialisierung und Farbigkeit. Hier soll nicht nur gewohnt, hier darf gelebt werden.
Die Planerinnen und Planer verzichteten auf die komplette Ausnutzung der Grundstücke zugunsten gemeinschaftlich nutzbarer Außenräume.
Foto: Annett Landsmann
Günstige, aber hochwertige Wohnungen anzubieten ist das Ziel der 1943 gegründeten Baugenossenschaft Waidmatt in Zürich-Affoltern. Das Quartier im Norden der Stadt kommt für zürcherische Verhältnisse mit seinen heterogenen Wohn- und kleineren Gewerbebauten untypisch ungestaltet daher – noch.
Fassaden in einem satten Petrolblau kontrastiert durch burgunderfarbige Metallelemente lassen an Bruno Tauts Berliner Hufeisensiedlung (ab 1925) denken
Foto: Annett Landsmann
Vom eigentlichen Zentrum durch den Käferberg getrennt, stand diese Gegend bisher nicht im Fokus von Gentrifizierung und Stadtentwicklung. Das einstige Bauerndorf erfuhr in den 1950er-Jahren ein erstes Bevölkerungswachstum. Doch die damals entstandenen Siedlungen weichen nun sukzessive Ersatzneubauten und Nachverdichtungen bis hin zu ambitiösen Hochhausprojekten.
Jede Wohnung ist von zwei Seiten belichtet und verfügt über einen Balkon
Foto: Annett Landsmann
Grün, aber unklar
Eine dieser Siedlungen ist jene der Baugenossenschaft Waidmatt. Die Genossenschaft besitzt mehrere Baufelder nördlich der Wehntalerstraße, der längsten Straße von Zürich. 2016 ließ sie für die Instandsetzung, beziehungsweise den Ersatz der dortigen Siedlung mit 157 Wohnungen, einen offenen Projektwettbewerb durchführen. 57 Büros reichten ihre Ideen ein. Enzmann Fischer Partner aus Zürich konnten die Konkurrenz mit ihrem Entwurf „Dihei“ („Daheim“) für drei der vier Baufelder für sich entscheiden. Auf dem nördlichsten und kleinsten Grundstück entstanden zwei Bauten mit insgesamt 34 Wohnungen der Zürcher Architektin Ana Otero.
Soziale Funktion: Die „Wohngassen“ sind nicht nur Verbindungsachsen, sondern ein differenzierter Außenraum, der auch als Erweiterung des Wohnraums gelesen werden kann
Foto: Annett Landsmann
Dass die bestehenden Mehrfamilienhäuser Ersatzneubauten weichen müssen, sei zur Zeit des Wettbewerbs 2016 das übliche Vorgehen gewesen, erinnert sich René Müller, Partner beim Büro Enzmann Fischer. Doch auch heute noch würden er und seine Kolleginnen und Kollegen wohl wieder genauso entwerfen: „Zum einen waren die Wohnungen der Bestandsbauten recht klein geschnitten – zu klein für heutige Bedürfnisse. Zum anderen überzeugte uns die städtebauliche Struktur der Siedlung nicht. Sie war am Gartenstadt-Konzept des damaligen Stadtbaumeisters Albert Heinrich Steiner orientiert, das die einzelnen zwei- bis dreigeschossigen Mehrfamilienhäuser locker in einem Grünraum verteilte. Das führte neben einer unklaren Erschließung auch zu einer undefinierten Mischung aus öffentlich und privat im Außenraum, mit dem Ergebnis, dass dieser praktisch nicht genutzt wurde. Das wollten wir mit unserem Entwurf ändern.“
Die öffentlicheren Funktionen, wie etwa die Küche und Balkone, liegen dabei jeweils zur Wohngasse, die privateren, wie die Schlafzimmer, sind zum Gartenhof hin orientiert
Foto: Annett Landsmann
Garten versus Gassen
Das ist den Architekten, die das Projekt gemeinsam mit dem Büro Skala - Land Stadt Raum entwickelten, gut gelungen. Die Ursprungsidee sieht bei zwei der drei Baufelder zwischen Wehntaler- und Riedenhaldenstraße jeweils zwei bzw. vier viergeschossige L-förmige Zeilenbauten vor. Zwei L-Formen liegen dabei mit dem Rücken zueinander und formen so ein Ensemble. Zur vielbefahrenen Wehntalerstraße hin ergänzt ein Riegel die beiden L-Formen zu einem U. Hier werden auch einige öffentliche Nutzungen, wie Ladenlokale und Gemeinschaftsräume, untergebracht sein.
Es handelt sich nicht um offene Grundrisse, sondern um einzelne, flexibel nutzbare Räume
Foto: Annett Landsmann
Die Planerinnen und Planer verzichteten auf die maximal zulässige Ausnutzung der Grundstücke, den sogenannten „Arealbonus“, der aufgrund der Größe des Bauvorhabens möglich gewesen wäre. Er hätte es erlaubt, siebengeschossige Bauten zu erstellen, was Enzmann Fischer Partner für diesen Kontext aber nicht angemessen fanden.
Organisiert sind die einzelnen Einheiten meist um eine zentrale Halle, die als großzügiger Verteiler fungiert
Foto: Annett Landsmann
Um die Erschließung und eine eindeutige Adresse zu gewährleisten, führt jeweils ein öffentlicher Fußweg zwischen zwei Zeilen hindurch. Hier befinden sich auch die Zugänge zu den Häusern. „Eine bessere Durchwegung der tiefen Grundstücke war uns wichtig“, betont René Müller. Dieser Weg, von den Entwerfenden „Wohngasse“ genannt, ist aber nicht einfach einer Verbindungsachse, sondern ein differenzierter Außenraum, der auch als Erweiterung des Wohnraums gelesen werden kann.
Aufgrund der Topografie terrassiert, bietet er Fläche für den Austausch der Bewohnerinnen und Bewohner, Abstellplätze für die Fahrräder, Sitzgelegenheiten, Spielplätze und kleinere Pflanzungen. Die Gestaltung wirkt städtisch und die an Seilen aufgehängte Beleuchtung erinnert entfernt an venezianische Gassen: Man kann sich gut vorstellen, dass hier die Wäsche zum Trocknen zwischen den Gebäuden flattern könnte und sich die Menschen von Balkon zu Balkon unterhalten. „Die Straßen in diesem Viertel bieten keinen Mehrwert außer der reinen Erschließung“, so René Müller. „Es gibt kaum Einkaufsmöglichkeiten und auch kaum Leben auf den Straßen. Diese sozialen Funktionen sollen unsere Wohngassen übernehmen. Wir wollten Nähe schaffen, keine Dichte.“
Im Gegensatz zu diesen halböffentlichen Zonen liegen die Gartenhöfe. Geschützt von den Kopfbauten, also der kurzen Seite des L, sind sie als reine Grünzonen angelegt. Dereinst sollen hier auch Gemeinschaftsgärten für die Bewohnerinnen und Bewohner Platz finden, auch zwei Spielplätze sind geplant. Die klare Trennung zwischen Erschließung in den Wohngassen und den Rückzugsmöglichkeiten in den Gartenhöfen war den Architektinnen und Architekten wichtig.
Grundriss Erdgeschoss, M 1 : 1 000
Farbe im Quartier
Die Siedlung mit insgesamt 278 Wohnungen wird in drei Etappen gebaut. 2019 begannen die Abrissarbeiten auf dem östlichsten Baufeld, drei Jahre später konnten die ersten Mieterinnen und Mieter einziehen. Aktuell steht die zweite Etappe im gleichen Baufeld vor dem Bezug. Die Fertigstellung der gesamten Überbauung ist für 2026 vorgesehen.
Besucht man die Siedlung heute, überrascht zunächst vor allem ihre Farbigkeit: Fassaden in einem satten Petrolblau kontrastiert durch burgunderfarbige Metallelemente lassen an Bruno Tauts Berliner Hufeisensiedlung denken. Eine Reminiszenz, die nicht zufällig ist. Tatsächlich hatten die Planerinnen und Planer diese Referenz vor Augen, wie René Müller bestätigt.
Die Farbigkeit ist an diesem Ort nicht ungewöhnlich: Schon die ursprüngliche Bebauung strahlte in zartem Rosa und die südlich angrenzende, von 2010 bis 2012 neu erbaute Siedlung der Genossenschaft Frohheim von EM2N/Müller Sigrist Architekten überrascht durch Streifen in Grün, Rosa und Orange. Nimmt man nun noch die beiden Bauten von Ana Otero auf dem nördlichsten Grundstück der Genossenschaft Waidmatt hinzu – Holzfassaden mit farbigen, ornamentalen Geländern – entsteht der Eindruck eines überaus bunten Stücks Stadt.
Geschlossen ist flexibel
Im Inneren hingegen ist Farbe auf Wunsch der Bauherrschaft sparsam eingesetzt. Hier überzeugen vor allem die ausgeklügelten Grundrisse. Der Großteil des Wohnungsangebots besteht aus 4,5- und 2,5-Zimmer-Wohnungen, ergänzt durch 5,5- und 3,5-Zimmer-Wohnungen in den Kopfbauten. Jede Wohnung ist von zwei Seiten belichtet und verfügt über einen Balkon und ein Entrée. In Zeiten von Laubengangerschließungen, die unmittelbar in die Küche führen, keine Selbstverständlichkeit, aber eindeutig ein Mehrwert.
Organisiert sind die einzelnen Einheiten meist um eine zentrale Halle, die als großzügiger Verteiler fungiert. Es handelt sich nicht um offene Grundrisse, sondern um einzelne Räume, die klug aneinandergefügt sind, sodass sich nicht nur gut proportionierte Wohnungen – eine 4,5-Zimmer-Wohnung hat rund 100 m² – und spannende Raumfolgen ergeben, sondern auch Räume, die flexibel nutzbar sind.
Die öffentlicheren Funktionen, wie etwa die Küche und auch die Balkone, liegen dabei jeweils zur Wohngasse hin, die privateren, wie die Schlafzimmer, sind zum Gartenhof orientiert. Das ist umso bemerkenswerter, als dass sich die Entwerfenden hier – vier Jahre vor Corona und Shut-down – gegen den Trend des offenen Grundrisses entschieden. Tatsächlich waren die Wohnungen im Wettbewerbsprojekt sogar noch spielerischer: Von zwei Seiten nutzbare Bäder oder ein geschlossenes Wohnzimmer hätte die Flexibilität in der Nutzung sogar noch erhöht.
Gut, günstig, begehrt
Mit dieser neuen Siedlung erhält Zürich-Affoltern einen auf allen Maßstabsebenen außergewöhnlich gut gestalteten, neuen Stadtbaustein. Darüber hinaus sind die Mieten für diese Lage und den Ausbaustandard äußerst fair. Eine nicht subventionierte Viereinhalbzimmerwohnung etwa ist für unter 2 000 CHF zu haben. Wobei „haben“ natürlich relativ ist: Alle Wohnungen der ersten und zweiten Bauetappe sind bereits vermietet. Für alle Interessierte: Das Anmeldefenster für die dritte Bauetappe ist bereits geöffnet. Tina Cieslik, Zürich/CH
Projektdaten
Objekt: Ersatzneubau Baugenossenschaft Waidmatt
Standort: 8046 Zürich Affoltern/CH
Typologie: Mehrgeschosswohnungsbau
Bauherrin: Baugenossenschaft Waidmatt
Nutzerin: Baugenossenschaft Waidmatt
Architektur: Enzmann Fischer Partner AG, www.enzmannfischer.ch
Team: Philipp Fischer, René Müller, Martin Bucher, Sebastian Ritter, Delia Burgherr, René Betschart, Fabio Montanari, Annette Reichlin, Yvonne Recker, Carolin Eichelberger, Anna-Lena Linke, Chiara Nesterak
Bauleitung: ffbk Architekten AG, www.ffbk.ch
Bauzeit: 04.2020 – 04.2026
Flächen nach SIA 416
Grundstücksfläche: 20 396 m²
Gebäudegrundfläche: 8 344 m²
Umgebungsfläche: 12 052 m²
Geschossfläche: 41 167 m²
Nettogeschossfläche (NGF): 35 322 m²
Nutzfläche: 30 977 m²
Technikfläche: 449 m²
Verkehrsfläche: 3 896 m²
Fachplanung
Tragwerksplanung: Gruner AG, www.gruner.ch
TGA-Planung: HLS: Balzer Ingenieure AG, www.balzer-ingenieure.ch
Landschaftsarchitektur: Skala Landschaft Stadt Raum GmbH,
www.skala-lsr.ch
Elektroplanung: Network 41 AG, www.network41.com
Brandschutz: PIRMIN JUNG Schweiz AG, www.pirminjung.ch