Promenadologie
Das Buch ist fett und es macht hungrig auf etwas, was in dieser Zeit selten geworden ist: exzessives Lesen. Lucius Burckhardt, Schweizer Ökonom und lehrender Soziologe, hat viele Texte und ein paar kluge Bücher gemacht, so u. a. das Buch: „Warum ist Landschaft schön?“ Der Erfinder der Spaziergangswissenschaft, der uns nun – indirekt – eine Textsammlung als Wälzer hinterlassen hat, dessen physische Präsens ein Lesen im Spazierengehen unmöglich erscheinen lässt, fragt uns in dieser gigantisch anmutenden Textesammlung: Wieso sehen wir die Umwelt als Landschaft? Was muss Landschaft mitbringen, um Landschaft zu sein? Sowie, zentral in diesem Fragekontext: Welche Funktion hat eigentlich Sprache in der Transferarbeit? Eine Fragestellung, die der Hochschullehrer im Wintersemester 1986 an der GH Kassel in einem Leseseminar bearbeiten ließ.
Die Texte, die dort zu lesen waren, sollten damals schon in einer Sammlung zusammengefasst und publiziert werden, das Projekt versandete. Thomas Kissling und sein Team haben nun die Archiv-Arbeit auf sich genommen und den literarischen Schatz in das knapp 1 000 Seiten umfassende Lese-Buch gehoben. Gegliedert ist es in die neun Seminarkapitel, so in „Die Reise zum schönsten Ort“, „Die Wiege der Menschheit“, „Exkurs über Künstlerlandschaften“ oder „Das Exotische als das Normale“. Wir lesen Texte aus 2 000 Jahren Schreibarbeit, die sämtlich im westeuropäischen Kulturraum verortet sind und von Männern verfasst wurden.
Das im Blick kann man die Lesereise starten mit Texten von Goethe, Tieck, Pückler-Muskau, Thoreau oder Cajus Plinius Caecilius Secundus, von Humboldt, Migge, Heine oder Rousseau. Texte unterschiedlicher Gattungen und Formate, ein paar von Lucius Burckhardt selbst. Tatsächlich beeindruckend sind seine Einleitungen zu jedem Kapitel, teils schon Aphorismen zum Denken über das Landschaftliche: „Das Prinzip der Vielfalt enthält in der Tat das Kriterium des Unfassbaren, Unüberschaubaren, und insofern löst das Gefühl, die Vielfalt gar nicht wahrnehmen zu können, Erhabenheit aus. Oftmals aber wird völlig vergessen, dass gerade Eintönigkeit erhaben sein kann.“
Was uns das alles angeht? Die Texte – und ein kleiner Ausschnitt der von Burckhardt erstellten Bildersammlung – können, auf einem aktualisierten Hintergrund (40 Jahre) gelesen, für die eigene Arbeit, zumindest das eigene Denken produktiv genutzt werden. Das bietet das Lesen kluger Texte zwar immer. Hier aber werden wir sehr bequem mitten hineingetragen! Be. K.