Schön - wahr - gut
Umbau und Reparatur haben es im ästhetischen Diskurs nicht leicht und müssen sich gegen etablierte Leitbilder durchsetzen. Die Architektin und Dozentin Mikala Holme Samsøe bietet darfür eine Lösung und reklamiert eine Ästhetik der „reduktiven Moderne“. Die Anwendung aufbauender Strategien, der Verzicht auf fertige Lösungen und die Umsetzung von Reparaturmaßnahmen sind weniger von neuen Modellen geprägt als von alten Formen. In ihrer Logik und Funktion beweisen diese eine Aktualität, aus der wir heute noch schöpfen können.
„Moderne“ ist ein weiter Begriff. Er umfasst eine lange Phase der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts und so manche würden behaupten, dass sie noch nicht ganz zu Ende ist. Ihre Merkmale sind so breit gefasst, wie es die Anzahl ihrer Protagonisten (und sehr weniger Protagonistinnen) ist. Die „Moderne“ wird heute noch heiß diskutiert und infrage gestellt. Welche Ästhetik vermittelt sie, was können wir heute noch von ihr lernen und an welcher Stelle müssen wir uns von ihr verabschieden?
Obwohl die Welt, in der wir leben und bauen, eine ganz andere ist als die, in der sich der abstrakte Ausdruck der Moderne etabliert hat, erscheint uns eine Überwindung ihrer Formensprache heute noch schwierig. Bereits die Postmoderne hatte der Moderne eine gewisse Stummheit vorgeworfen und dem Ornament wieder Gehör verschafft. „Die Moderne und ihre Ideologie haben die Gesellschaft und die Demokratie zwar entwickelt, der Bruch ihrer Versprechen und die folgende Desillusion ihrer Architektursprache sind heute allerdings wieder vergessen“, argumentiert die dänische Architektin Mikala Holme Samsøe. Die Technisierung von Gebäuden, mit ihren immer höheren Anforderungen an Effizienz, erreichten einen neuen Höhepunkt. Nun stünden wir vor der harten Wahrheit: So können wir nicht weitermachen, wenn wir zukunftsfähig sein wollen.
Der Soziologe Harald Welzer führte den Begriff einer „reduktiven Moderne“ in seinem Buch „Selber Denken. Eine Anleitung zum Widerstand“ (Fischer Verlag, Frankfurt/M., 2013) ein und definiert ihn als Gegenentwurf einer „expansiven Moderne“, die von Wachstum durch Fortschritt geprägt ist. Mikala Holme Samsøe nimmt diesen Begriff auf und versteht Reduktion in ihrer Praxis und in ihrer Lehre nicht als Verzicht, sondern als vitalisierende Kraft: „Im Umdenken unserer ästhetischen Vorlieben liegt die Möglichkeit, den notwendigen Paradigmenwechsel für die Architektur und unserer gebauten Umwelt herbeizuführen“.
In der Fiktion, besonders im Film, gilt die Architektur der „expansiven Moderne“ von jeher als Kulisse einer dystopischen Gesellschaftsentwicklung: Prominente Beispiele sind „Metropolis“ (Fritz Lang, 1927), “Akira“ (Katsuhiro Otomo, 1988) oder das neueste „Megalopolis“ (Francis Ford Coppola, 2024). Die Architektur wirkt düster, anonym, imposant, übermenschlich und disziplinierend, wie ein Orwell’scher Blick auf eine homogene Welt, in der Reichtum ungerecht verteilt ist. In dieser Welt hat die „moderne Architektur“ mit einem Effizienz-Anspruch triumphiert. Es braucht heute mehr denn je einen Gegenentwurf, der aber keine Utopie ist, sondern real und realisierbar ist.
Die Idee einer „reduktiven Moderne“ klingt erstmal redundant. Denn in ihrer Formensprache ist „moderne Architektur“ bereits reduziert. Doch genau dagegen argumentiert Samsøe. „Moderne Architektur“ sei alles andere als reduziert, wenn man genauer hinter den weißen Vorhang schaut. Was auf den ersten Blick als schlicht und einfach erscheint, ist eigentlich kompliziert und aufgeschichtet. Was in diesem Fall auch heißt: aufwendig, unlösbar und nicht nachhaltig.
Mikala Holme Samsøe stellt fest, dass diese Ästhetik heute noch als „schön“ angenommen wird. Wir finden Gefallen in der Klarheit und in der Materialwahl des „Internationalen Stils“. Immer noch bedient sich die Architektur der Gegenwart einiger Gestaltungsmerkmale dieser Formensprache, und Planerinnen und Nutzerinnen bevorzugen Flachdächer, klare Formen, große Öffnungen, stützenfreie Räume oder unsichtbare Gebäudetechnik. Was dahintersteckt, so Mikala Holme Samsøe, seien Konstruktionen, bei denen komplexe Bauteile und Materialien irreversibel miteinander verbunden werden. Dafür bringt sie als Beispiel das Detail der Dachrinne: Im formal „reduzierten“ Haus ist diese versteckt und das Wasser muss über Umwege abgeleitet werden. Das erfordert Durchbrüche, Dichtungen, Blenden - Lösungen für ein Problem, das aus einer ästhetischen Vorliebe entsteht. Hingegen kann eine außen angehängte Dachrinne bei einem Satteldach bei Aufkommen von Problemen einfach ausgetauscht und gewartet werden. Doch diese räumliche, dreidimensionale Schichtung sei unerwünscht, unelegant und möchte vermieden werden. Dabei hat jene Form das Potenzial, schön zu sein, verspricht Mikala Holme Samsøe.
Da haben wir es, das Wort „schön“. Die Uneinigkeit darüber, was „schön“ ist, gehört wohl zu unserem Menschsein. Die Suche nach einer platonischen Idee vom Schönen, Wahren oder Guten scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Die Geschichte hat gezeigt, dass ästhetische Erfahrungen stetig im Wandel sind und sich nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich unterscheiden und widersprechen. In den seltensten Fällen stimmen sie überein. Auch in der Architektur bleibt die ästhetische Erfahrung ein Argument, wenn es darum geht, ein bestehendes Gebäude abzureißen, einen „hässlichen“ Teppich oder die aus der Mode gekommenen Fliesen zu entsorgen. Was gestern als „schön“ galt, ist heute im besten Fall „nicht zeitgemäß“. Mikala Holme Samsøe ist dahingegen überzeugt, dass wir nicht nur die Erscheinung von Architektur ändern müssen, sondern unser Verständnis davon, was wir als „schön“ empfinden und den ästhetischen Anspruch von einem immer größeren Ressourcenverbrauch entkoppeln müssen.
Heroes Revisited
Schön sei übrigens nicht immer gut - wenn mit „gut“ das Erfüllen von Bedürfnissen gemeint ist. Als die Architektin als Studentin zum ersten Mal das Kloster Sainte-Marie de la Tourette im französischem Évoux besuchte, war sie beeindruckt und begeistert von der poetischen, puristischen Gestaltung und konsequenten Umsetzung in diesem, von le Corbusier entworfenen Werk der Moderne. Der distanzierte Blick auf die Natur, die reduzierten Zimmer und die kahle Einrichtung, umrahmt von den rauen Betonoberflächen, interessierten sie in ihrer Radikalität und in ihrer Nutzung als Kloster. Dieses ist vielleicht kein Vorbild für „schönen“ Wohnungsbau, aber die Idee der formellen Reduktion und der Herrschaft über die Natur prägt bis heute zeitgenössische Architekturen. Bei einem neuerlichen Besuch verbrachte Mikala Holme Samsøe dort einige Nächte und konnte ein neues Unbehagen feststellen: „Mein Wissen über die Auswirkungen von dieser Art von Architekturpraxis beeinflusst natürlich meine Begeisterung. Wir können diese Gesamtkunstwerke der Moderne genießen, aber nicht mehr so bauen.“ Reduktion kann wichtig und richtig sein. Allerdings nicht nur im Formalen, sondern auch im Konstruktiven. Wir müssen, so Mikala Holme Samsøe, im Gebauten auf komplizierte baumaterielle Schichtungen verzichten und das Schöne in der Verbindung von Neu und Bestand finden.
Um ihre These konstruktiv zu untermauern, präsentiert Samsøe fünf Gestaltungsmerkmale, die eine „reduktive Moderne“ charakterisieren und unsere ästhetische Bewertung prägen.
1. Fügung
Als erstes geht es ihr um ein neues Verständnis der Fügung von Bauteilen. Mikala Holme Samsøe stellt einem konstruktiven Prinzip des Aufbauens ein destruktives Prinzip des Abbauens gegenüber. Planende müssten auf aufbauende Strategien setzen und auf Aktionen wie abreißen, zerschreddern, auflösen, durchbrechen usw. verzichten, um häufiger Elemente zu stapeln, zu unterstützen, zu verbinden oder zu überlagern.
Die Konsequenz daraus ist, die Fügung, die schon immer ein architektonisches Element war, zum Motiv zu machen, das heute, so Samsøe, eine neue gesellschaftliche und ethische Dimension erlangt. Dort, wo früher edle Materialien und alte Muster auf neue Stile trafen, schichten sich heute alte, gebrauchte oder neue Elemente. So wie die Reliefs antiker Tempel Heldengeschichten erzählen, können heute Reparaturmaßnahmen zum Ornament werden. Die Wertschätzung des Alten und die Hervorhebung von Zeitlichkeit ist kein Verlust an Ästhetik, sondern ein Gewinn an Bedeutung.
2. Sterblichkeit
Wie Lebewesen oder Maschinen haben auch Architekturen und Bauelemente eine Lebensdauer, die sich über einen kürzeren oder längeren Zeitraum abzeichnet. Die Zeichen von Alter, Abnutzung oder Makel müssen jedoch nicht versteckt oder entfernt werden. Diese Erscheinungen können gestalterisches Merkmal eines Gebäudes sein und ihre Entwicklung kann im Voraus geplant werden. Mikala Holme Samsøe ist davon überzeugt, dass Architektur kein fertiges Produkt ist, sondern im ständigen Dialog mit ihren Nutzerinnen, ihrer Zeit und ihrer Vergänglichkeit steht. Diesen Ansatz untersucht sie auch in ihrer Lehre, in der sie sich gemeinsam mit ihren Studierenden bereits im Entwurf mit der Bildung von Patina auseinandersetzt und darstellt, wie ein Projekt in 20, 30 oder 50 Jahren aussehen könnte. Dabei wird sichtbar, welche Materialien besser altern und welche mehr Wartungsbedarf haben. Ähnlich wie das Prinzip des Aufbauens kann Patina – als Ablagerung, als Reparatur, als Nutzungserscheinung – eine ähnliche Funktion ausüben. So wird sie zur ästhetischen Qualität und bleibt nicht ein unerwünschtes Nebenprodukt.
3. Heterogenität
Ein umstrittenes Merkmal der Moderne - nicht nur in der Architektur - ist die vermeintliche Homogenität ihrer Produkte. Mit dem Anspruch einer Demokratisierung der Gesellschaft, einer Idealisierung der Technik und neuer Materialien wie Stahl, Stahlbeton oder Glas wird ein immer gleiches Bild von Stadt und Raum reproduziert und regionale Besonderheiten stetig überschrieben. Der großmaßstäbliche Verbrauch von Ressourcen, der sich bisher als Fortschritt tarnte, ist aus ökologischer Perspektive nicht länger tragbar. So kann auch Fortschritt nicht mit einer Ästhetik des Neuen gleichgesetzt werden, sondern muss nach Samsøe‘s Logik durch eine rücksichtvolle Betrachtung und Bezugnahme auf das Bestehende ersetzt werden. Das bedeutet auch, dass – wo nötig – Neues und Altes zusammengeführt und nach dem Prinzip der Fügung neben-, über- und ineinander geflochten wird. Dabei könnten Fassaden ihre gestalterische Einheitlichkeit verlieren, Bodenbeläge ihre Geschichte oder Städte ihre Lücken preisgeben.
4. Masse
Ein Vorteil des Arbeitens im Bestand ist, dass das Vorhandene nicht nur Ressource und als solche hochwertig ist, sondern auch, dass die ästhetischen Qualitäten ihrer Masse zum Vorschein kommen. So können Stahlbetonunterzüge in einem umgebauten Parkhaus oder die Stufen einer nicht mehr benötigten Rolltreppe die befreiende Chance bieten, Masse, Plastizität und Tiefe im Raum oder an der Fassade zu generieren. Ihre Funktion wird teilweise oder ganz überschrieben, und sie werden, ähnlich wie Metopen und Triglyphen an der Fassade eines antiken Tempels, zu Ornamenten. Samsøe erklärt: „Wo wir im Neubau konstruktiv auf das Notwendige reduzieren müssen, können wir im Bestand mit der vorgefundenen Masse interagieren und ihre Qualitäten für uns auf neuartige Weise erschließen“.
5. Weiß
Ein letztes kritisches Merkmal der Moderne ist nach Mikala Holme Samsøe die verbreitete Verwendung von weißer Farbe. Dadurch wird der Eindruck von ineinanderfließenden Raumgrenzen generiert. Auch verdeutlicht Weiß das Gefühl einer glatten, hygienischen, neuen Oberfläche und nimmt eine geschichtsneutralisierende Haltung ein. Weiß gestrichene Wände lassen die Spuren der Zeit nicht mehr erkennen. Im Gegensatz dazu offenbaren Strukturen aus Holz oder natürlich pigmentierte Oberflächen ihre Geschichte. Durch den Abbau des Minerals Ilmenit, aus dem Titandioxid und folglich Titanweiß produziert wird, hinterlässt die Farbe ihre Spuren trotzdem - nämlich in der Landschaft. Darüber hinaus wurde die toxische Eigenschaft von Titanweiß erst in jüngster Zeit erkannt: Seit 2023 ist es in vielen Produkten (wie z. B. Zahnpasta) verboten. Darüber hinaus unterstützt die Farbe Weiß, damals wie heute, auch gesellschaftlich ein diskriminierendes Verständnis von sauber und schmutzig, von zivilisiert und primitiv, von weißer und nicht-weißer Hautfarbe. Diese Bedeutungen, die alles andere als „neutral“ sind und die sie heute noch mit sich trägt, gilt es nach wie vor zwingend zu hinterfragen.
Schön, wahr und gut
Mikala Holme Samsøe bringt schließlich gute Neuigkeiten: „Wir müssen nur lernen, das, was wir haben, mehr wertzuschätzen, uns an neue Erscheinungsbilder zu gewöhnen und sie als Planerinnen und Entscheidungsträgerinnen zu forcieren.“ Die Schönheit im Bestehenden zu finden, sei die Kunst. Wir müssten der „expansiven Moderne“ die Ästhetik einer wahrhaftig „reduktiven Moderne“ entgegensetzen.
Amina Ghisu/DBZ