Schöne Neue Welt
In letzter Zeit wird immer häufiger über Haltung in der Architektur gesprochen, über eine grundlegende Gesinnung, die das Denken und Handeln bestimmt. Wir haben mit Jan Mittelstädt und Florian Scheible darüber gesprochen, wie ihre Haltung gegenüber der Gesellschaft, den Anforderungen des Klimaschutzes und der Kreislaufwirtschaft zur Basis ihrer Bürogründung wurde – Schöne Neue Welt?!
Jan Mittelstädt ist promovierter Bauingenieur/Tragwerksplaner mit mehrjähriger Erfahrung in der Umsetzung innovativer Architektur und einem Schwerpunkt im Bereich des materialübergreifenden Entwerfens und Konstruierens. Sein aktueller Fokus mit dem Büro Schöne Neue Welt Ingenieure und in seiner Lehrtätigkeit an der Technischen Universität Hamburg für Tragwerksentwurf liegt auf der Lösung von Fragestellungen zum klimabewussten Bauen und dem Beitrag der Tragwerksplanung
Foto: SNW Ingenieure
Florian Scheible ist Architekt und hat langjährige Erfahrung in der Büroleitung und Projektorganisation von Vorhaben in Deutschland, China und dem Mittleren Osten. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt heute auf der Entwicklung von Gebäudehüllen im Neubau und Bestand mit besonderem Fokus auf ressourcenschonender und klimabewusster Konstruktion. Er engagiert sich in der Architektenkammer Berlin als Vorsitzender des Arbeitskreises Digitalisierung (Fachgruppe KI, Normung) und als Vorstand des fairtrag e. V. (Vertragsgestaltung, Vergabe)
Foto: SNW Ingenieure
Sie sind ein noch sehr junges Büro, aber mit viel Expertise. Wie kam es zur Gründung von Schöne Neue Welt Ingenieure?
Jan Mittelstädt: Durch unsere gemeinsame Tätigkeit in internationalen Architektur- und Ingenieurbüros haben wir in den vergangenen Jahren ganz wunderbare und herausfordernde Projekte umsetzen dürfen. Wir haben verstanden, dass es eine Menge an Themen rund um das klimaschonende Bauen gibt, die drängen und die wir zum Kern unserer Tätigkeit machen wollen. Mit diesem Anspruch haben wir das Büro Schöne Neue Welt Ingenieure gegründet. Wir arbeiten mit einem Planerkollektiv aus qualifizierten und motivierten Kolleginnen, Bauherrn und Planungspartnerinnen an den zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Wir verstehen uns als Kollektiv mit einer gemeinsamen, ernstgemeinten Haltung und gemeinschaftlichen Arbeitsweise.
Und warum Schöne Neue Welt Ingenieure?
Florian Scheible: Der Name ist Ausdruck unserer Suche nach dem Neuen. Und soll unseren Aufbruch zu einem zukunftsfähigeren Selbstverständnis verdeutlichen.
JM: Und ein bisschen provozieren darf und muss der Name natürlich auch. Es geht um einen notwendigen Wandel im Bauen, den wir fachtechnisch nach außen begleiten und den wir innerhalb unserer Bürostruktur vorantreiben. Für diejenigen, die unser Name irritiert, sind wir dann einfach SNW Ingenieure (lacht).
Was machen Sie anders als zuvor?
FS: Unsere Haltung ist unsere Motivation. Sie bestimmt die Herangehensweise an die Projekte. Unseren Planungspartnern damit beratend zur Seite zu stehen, ist uns wichtig. Es geht nicht darum, dogmatisch zu sein, sondern einfach und anders zu denken, um letztlich auch anders bauen zu können. Wir müssen das Gebäude von Anfang an als einen Beitrag zum Klimaschutz verstehen, nur so können Entscheidungen auch von vornherein anders gefällt werden.
JM: Wir begleiten Projekte in ihrer Entstehung und bemerken ein deutliches Umdenken bei den Bauherrn, Ausloberinnen von Wettbewerben und den Architekten in der Ausarbeitung. Im Fokus des Planens steht verstärkt das übergeordnete, interdisziplinäre Erarbeiten einer klimabewussten Lösung. Wir können hier frühzeitig mit unserer Expertise Themen und Lösungen in den Entstehungs- und Entwurfsprozess integrieren und damit unseren Beitrag leisten. Der Aufbau von kompetenten Netzwerken und die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Fachdisziplinen von Anfang an ist für das notwendige Umdenken in unserer Branche Antrieb und unerlässlich.
Organisieren Sie auch Ihr Büroteam neu?
JM: Ja, durch die Gründung der SNW Ingenieure hatten wir die Möglichkeit, Dinge neu zu initialisieren und auch einfach mal auszuprobieren. Wir merken, dass gerade unsere jüngeren Kolleginnen und Kollegen ein sehr starkes Bewusstsein dafür entwickeln, wie sie zukünftig arbeiten möchten und hieraus auch ihre Motivation ziehen, Teil von einer Entwicklung sein zu können. Dieses Potenzial zu erkennen und dafür die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, ist wesentlich für uns. Das sind z. B. Aspekte wie Wirksamkeit, Augenhöhe, Mitgestaltung und auch Fragen des Miteinanders nach Innen und Außen – Aspekte, die wir in unterschiedlichen Formen natürlich kennen, die jedoch im Zusammenhang mit der Frage nach einer Haltung eine ganz neue Bedeutung bekommen. Das funktioniert nicht alles von heute auf morgen, aber wir haben Prozesse angestoßen und arbeiten gemeinsam an der Umsetzung. Wir bedienen uns der Methoden aus dem Bereich New Work und dem rollen- und spannungsbasierten Arbeiten, die den einzelnen Teammitgliedern mehr Selbstständigkeit, aber auch mehr Verantwortung für die eigenen Aufgaben geben sollen.
FS: Wir merken, teilhaben zu lassen ist gar nicht so einfach, wie man vielleicht denken würde …, aber in den Bereichen, die direkt projektbezogen sind, klappt es schon ganz gut. Wir lassen viele Freiheiten in der Mitgestaltung und Strukturfindung, ob im Berliner Büro, an der Südspitze Italiens oder auf dem Segelboot. Die Kolleginnen arbeiten so, wie es die Kunden, das Projekt und die Gemeinschaft ermöglichen und vertragen. Durch den Neustart war es sehr einfach, das Ganze technisch optimal aufzusetzen. Aber erstaunlicherweise sind die meisten dann doch hier im Büro (lacht).
Kommen wir zu Ihren Kernaufgaben. Welche Rolle kommt der Tragwerksplanung innerhalb einer nachhaltigen Gebäudeplanung zu?
JM: Uns interessiert die Frage, was das Gesamtkonzept, das übergeordnete Thema für eine Bauaufgabe ist. Mit unserem klimabewussten Anspruch müssen wir über das Material sprechen: Woraus wird es gewonnen, wo kommt es her, ist es verfügbar und warum ist es für unser Vorhaben das richtige? Das kann Beton, Holz, Stahl oder Lehm sein, wir sehen die Auswahl immer projektspezifisch. Es kann auch eine bestimmte Bauweise sein oder ein anderer Aspekt, der z. B. die Kreislauffähigkeit in den Vordergrund rückt. Für diese einzelnen Aspekte gibt es gewisse Spielregeln für eine marktgängige Lösung. Die Wirtschaftlichkeit ist immer ein Thema, schließt aber den Anspruch an klimabewusstes Bauen nicht aus. In dieser Konstellation wird das Zusammenspiel der Architektur mit den konstruktiven Spielregeln klimabewusster Tragwerks- und Fassadenkonzepte ein spannender Diskurs, für den wir gerne im Miteinander Lösungen entwickeln.
Hat das auch Einfluss auf die Gestaltung?
FS: Diese Überlegungen werden einen Einfluss auf die Gestaltung haben, denn wir identifizieren ja bestimmte Bauarten als nicht nachhaltig. Derzeit können wir beobachten, wie die Planerschaft in der Breite nachhaltigere Bauarten und deren Spielarten auslotet. Das sehen wir z. B. an einem reduzierten Glasanteil, an Dachüberständen für den konstruktiven Holzschutz, am Einsatz von elementierten Bauweisen und an dem Bemühen, gebrauchte Baustoffe und Produkte zu verwenden. Damit wird sich auch die Wahrnehmung von Architektur ändern. Denken Sie etwa an die Akzeptanz von Holz als Teil einer dauerhaften Bauweise oder gar von Holzfassaden im innerstädtischen Bereich.
Wo sehen Sie aktuell die größten Potenziale zur Einsparung von CO2?
FS: Der erste Schritt ist die Frage: Muss ich überhaupt neu bauen oder kann ich vorhandene Gebäudestrukturen weiter nutzen? Der zweite: Brauche ich neue Bauteile oder kann ich welche verwenden, die z. B. aus dem Urban Mining verfügbar sind? Und der dritte: Wenn ich schon etwas Neues einbaue, wie kann ich das so planen und konstruieren, dass ich die Bauteile im Falle eines späteren Rückbaus leichter für ein neues Vorhaben verwenden kann? Erst wenn ich diese drei Schritte gemacht habe, fange ich an, mir konkret Gedanken über die neuen Materialien zu machen, die einzubringen sind. Wenn man es dann schafft, möglichst viele dieser neuen Materialien aus dem biologischen Stoffkreislauf regional zu beziehen und diese möglichst effizient einzusetzen, ist man schon sehr weit.
JM: Das, was bei kleineren Projekten bereits erfolgreich umgesetzt wurde, gilt es, in einen größeren Maßstab zu transformieren. Die Kenntnis der Bauweisen und der Markt sind da. Hier müssen wir uns gemeinsam mit den Bauherrinnen vortasten, um an jedem Bauwerk ein Stück weit besser und selbstverständlicher in Bezug auf die Verwendung regenerativer Materialien und kreislaufgerechter Konstruktionslösungen zu werden. Um beispielsweise den Materialaufwand im Bereich der Geschossdecken, welche einen Großteil der verbauten Masse und Grauen Energie in den Bauwerken einnehmen, zu verringern, sollten wir als erstes mit den Nutzerinnen und Architekten über die Raumproportionen und Spannweiten diskutieren. Hieraus resultiert der größte Hebel für den möglichen marktgängigen Einsatz alternativer Konstruktionslösungen zu dem bisher bekannten massiven Stahlbetonbau, wie z. B. Holz-Beton-Verbund-, Holz- oder Lehmdecken. Stets geht es darum, die Grenzen des technisch Möglichen und des baupraktisch Sinnfälligen auszuloten. Der reine Anspruch nach immer weiter und immer schlanker hat ausgedient.
FS: Uns beschäftigt die Frage, inwieweit wir mit weniger mehr bauen und dabei die resultierenden CO₂-Emissionen verringern sowie die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen am sinnvollsten einsetzen. Daher ist die Prozesskenntnis der Planer und das interdisziplinäre Denken der Beteilig-ten entscheidend, um das technisch Mögliche auch baupraktisch umzusetzen. Wenn wir uns nur dessen bedienen, was wir schon kennen, werden wir nur sehr langsam ein Umdenken für ein anderes Bauen erreichen. Wir müssen mutig, neugierig und überzeugt von den gemeinsamen Fähigkeiten sein!
Interview: Katja Reich/DBZ.