Wunderschön und sündhaft teuer. Was macht eigentlich Stuttgart21?

„Wie geht es eigentlich am Stuttgarter Hauptbahnhof voran?“ fragte ich mich in einem Beitrag in der April-Ausgabe der DBZ. Im Februar 2022 führte mich Wolfgang Esser, Inge­nieur und oberste Baustellenaufsicht durch die Bahnsteighallenbaustelle und in die anliegenden Tunnel. Die Antwort war vorher schon klar und damit sind Fragen wie diese wohl eher rhetorischer Natur: Es geht voran, trotz allem. Langsamer als geplant und natürlich (?) viel teurer.

Die Frage nach dem Ist-Zustand von Deutschlands ältestem Verkehrsprojekt in progress – 1994 wurde es gestartet – ist wie der Basso continuo einer Bach-Suite: präsent, fundamental und dennoch eher der Sache dienend als die Sache selbst. Was bringt das Fragen nach dem Zustand, wenn dieser, einer Naturgewalt gleich, nur zu beobachten, zu analysieren, aber nicht mehr zu beeinflussen ist? Es geht voran, langsam aber sicher und immer teurer. Die einmal hoffnungsfroh in die Baulandschaft gestellten 2,8 Mrd. € waren schnell als symbolisch abgetan. Der etwa zeitgleich geplante Berliner Hauptbahnhof (Entwurf gmp Architekten, Hamburg) hat nicht einmal ein Viertel der heute gehandelten Summe von wohl mehr als 10 Mrd. € für Stuttgart21 gekostet. Sei’s drum. Oder? Man könnte wieder Fragen stellen, so die, wofür wir Steuerzahlerinnen und Bahnfahrer das eigentlich erleiden müssen? Gerade diejenigen, die täglich oder wöchentlich mit der Bahn fahren, erleben täglich oder wöchentlich Nothalte an Haltestellen, die Umsteigebahnhöfe waren, wo aber Weichenprobleme, Oberleitungsstörungen, brennende Lokmotoren oder vom Wind auf die Gleise geworfene Bäume Aufenthalte auf ungemütlichen Bahnsteigen erzwingen und Termine platzen lassen, weil lokale Ereignisse in einem System ohne Reserven dieses komplett zum Absturz bringen.

Wunderschön und sündhaft teuer: die Betonhalle über den Gleisen demnächst irgendwann
Foto: Benedikt Kraft

Wunderschön und sündhaft teuer: die Betonhalle über den Gleisen demnächst irgendwann
Foto: Benedikt Kraft

Die Versprechen damals

Die Versprechen waren damals: Wir alle gewinnen Minuten auf unserer Reise von Stuttgart nach Ulm beispielsweise. Wir müssen im Bahnhof nicht mehr so weit laufen, fahren jetzt längere Strecken durch Tunnel. Die verhindern, dass wir nach draussen schauen. Das fördert den Schlaf oder die Konzentration auf die Bildschirmarbeit. Was noch? Es wurde mit städtebaulichem Plus argumentiert: Die Gleisvorfeldfläche wurde bereits in Teilen (mit Bankgebäuden) bebaut, mit der Fertigstellung des Durchgangsbahnhofs sollen Wohnungen kommen, weitere Büro- und Einzelhandelsflächen. Die Wohnungen werden – wie an derart zentralen Stellen kaum überraschend – kosten und dem drückenden Wohnungsmangel kein Ventil sein.

Brückenkonstruktionen, die später unsichtbar sein werden
Foto: Benedikt Kraft

Brückenkonstruktionen, die später unsichtbar sein werden
Foto: Benedikt Kraft

Es soll auch Grünfläche entstehen, eine Art Wiedergutmachung für die gravierenden Eingriffe in den für den Bahnhofsbau notwendig gewordenen Kettensägeneinsatz, der unter Polizeischutz Ende 2010 den Schloss­park auflichtete. Zur Zeit wird seitens der Bahn untersucht, wohin die auf dem Gleisgelände lebenden Tiere übergangsweise umgezogen werden können, auch „unter Inkaufnahme eines unter Umständen unzureichenden Habitatflächenumfangs“, was immer noch besser sei als „eine Schädigung und Tötung“. Die wiederum den „Fangverweigerern“ zugemutet werden muss, Zeit ist Geld.

Fragwürdige Ästhetik wunderschön!
Foto: Benedikt Kraft

Fragwürdige Ästhetik wunderschön!
Foto: Benedikt Kraft

A propos Geld: Wie man gerade aus einem durchgestochenen Papier der DB erfahren kann (liegt dem Spiegel vor), sollen die Realisierungskosten um weitere 614 Mio.€ auf dann insgesamt 9,76 Mrd. € steigen. Auch der mir von Wolfgang Esser in die Hand versprochene Eröffnungstermin zum Fahrplanwechsel 2025 soll nicht mehr zu halten sein. Die Bahn hat nun das Jahr 2026 im Auge, bahnintern wird eine „gleitende Eröffnung“diskutiert.

Stahlbeton nur noch für Wunder?

Der Bonats-Bau ein Rest. Wahrscheinlich wird der noch nach der ersten Eröffnung des Bahnhofs bearbeitet
Foto: Benedikt Kraft
Der Bonats-Bau ein Rest. Wahrscheinlich wird der noch nach der ersten Eröffnung des Bahnhofs bearbeitet
Foto: Benedikt Kraft

Vor ziemlich genau zehn Jahren äußerte sich der damalige Vorsitzende der Geschäftsführung der der DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH, Manfred Leger in einem offiziellen Interview so: „Ich habe die Aufgabe, das Gesamtprojekt Stuttgart-Ulm bis Ende 2021 fertigzustellen. Dieser Termin steht für mich so unverrückbar wie eine Weltmeisterschaft. Gleichzeitig will ich Stuttgart21 für unter sechs Milliarden Euro bauen …

Kelchstützenwald
Foto: Benedikt Kraft

Kelchstützenwald
Foto: Benedikt Kraft

Das mag vielleicht ambitioniert klingen, ist aber machbar.“ Ob eine (Fussball?-)Weltmeisterschaft unverrückbar ist, wird die nächste Zukunft zeigen, dass Stuttgart21 ambitioniert ist, wussten alle. Nur, die einen waren dagegen, die anderen dafür. Ob wir, in der tageslichthellen Halle sitzend und auf den ICE wartend, diese Kathedrale des Verkehrs feiern werden, hängt auch davon ab, ob die Anschlüsse passen, das Personal hilfsbereit und freundlich, die Preise gesenkt und das Klassensystem abgeschafft wird und überall 1. Klassekomfort herrscht. Dann möchte man, nach einem Spaziergang durch ein lebendiges Wohn- und Arbeits-, Produktions- und Gastroviertel oben, unten noch schnell die Frage stellen, wie viele km2 Wald wir demnächst rund um Stuttgart anlegen müssen, um die Gigamengen Zement und Stahl, die verbaut wurden, annähernd CO2-neutral gerechnet zu bekommen. Die Werbung auf meiner Bahn-Card, dass ich mit Ökostrom reise, stimmt heute schon nicht mehr.

Baustelle mit Bild davon, wie es einmal aussehen könnte (November 2023)
Foto: Benedikt Kraft

Baustelle mit Bild davon, wie es einmal aussehen könnte (November 2023)
Foto: Benedikt Kraft

Und ganz zum Schluss eine kluge Anmerkung des Ingenieurs, der hier mitgearbeitet hat, Werner Sobek: „Die Herstellung eines m³ Stahlbeton geht mit der Emission von etwa 330 kg CO₂ einher. Wir sollten also zukünftig Stahlbeton deutlich sparsamer und nur noch dort verwenden, wo seine wunderbaren Eigenschaften wirklich benötigt werden“ (Werner Sobeks 17 Thesen zur Nachhaltigkeit, These Nr. 7). Beim Bau des Durchgangsbahnhofs wurden die wunderbaren Eigenschaften wirklich benötigt, was zu der Frage drängt: Wäre das Wunder nicht auch anders, wesentlich effektiver wunderbar herstellbar gewesen?

Benedikt Kraft / DBZ

www.bauprojekte.deutschebahn.com, www.wernersobek.com
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