Neue Techniken der Gotik

Zeichnungen dokumentieren Stein für Stein des Regensburger Doms

25 Jahre lang haben Bauforscher der Technischen Universität München (TUM) und Kunsthistoriker der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Stein für Stein den Regensburger Dom untersucht. Die Kathedrale war bei ihrer Entstehung hochmodern gestaltet. Neben zahlreichen weiteren Erkenntnissen über die Entstehung der Kirche konnten die Wissenschaftler auch bislang unbekannte Techniken der Baumeister entdecken, die für die Epoche der Gotik insgesamt gelten. Sie haben nun rund 200 Zeichnungen veröffentlicht, die den Dom so vollständig und detailreich wie bislang keine gotische Kathedrale zeigen.

Die Wissenschaftler nutzten eine einmalige Gelegenheit: Ab 1985 waren sämtliche Teile des Regensburger Doms zunächst im Innern, dann außen eingerüstet. Die Bauforscher folgten den Restauratoren auf die Gerüste, um mit Bleistift und Karton nahezu jeden einzelnen Stein und sogar jedes Detail auf den Steinen zu vermessen und zu zeichnen. „Dabei fallen Kleinigkeiten auf, die man auf keiner Fotografie bemerken würde, die aber entscheidende Puzzleteile sein können“, erklärt Projektleiter Prof. Manfred Schuller. Weil die Gerüste wanderten, standen die 50 Wissenschaftler unter hohem Zeitdruck, arbeiteten bis tief in die Nacht, bei Hitze und gefrorenem Weihwasser.

Anschließend scannte das TUM-Team um Prof. Schuller und Dr. Katarina Papajanni die Zeichnungen und montierte sie zu rund 200 Ansichten, Grundrissen und Querschnitten. Entstanden ist ein einmaliger Überblick. „Er zeigt, wie plastisch, wie komplex und wie technisch anspruchsvoll die gotische Architektur ist“, sagt Schuller. Dies belegen beispielsweise die Strebepfeiler: Sie tragen wesentlich zum filigranen Erscheinungsbild bei, stützen das Hauptschiff und sind gleichzeitig Teil eines aufwendigen Entwässerungssystems, das Regenwasser über mehrere Stufen vom Dach bis in die kunstvollen Wasserspeier leitet.

27 dreidimensionale Ansichten bebildern die Entstehungsgeschichte der Kathedrale, die die Wissenschaftler in Schritten von nur fünf bis zehn Jahren rekonstruieren konnten. „Der Regensburger Dom ist auch deshalb so spannend, weil noch extrem viel Originalsubstanz erhalten ist“, sagt Schuller. Die Untersuchung von Inschriften, Steinmetzzeichen und Materialrückständen oder die Datierung von hölzernen Bauteilen widerlegen bisherige Theorien, so auch den Zeitpunkt der Grundsteinlegung: „Die bisherige Forschung nahm an, dass der Bau begonnen wurde, noch bevor die Vorgängerkirche im Jahr 1273 abbrannte. Wir haben aber keine einzige Brandspur gefunden.“

Erstmals zeigen die Wissenschaftler, wie die Regensburger ihren Dom um das Jahr 1500 sahen – nämlich zweifarbig. Der Großteil der Westfassade inklusive des Nordturms war grün, der Südturm und der untere Bereich mit den Portalen dagegen weiß. „Der weiße Kalkstein, mit dem die Baumeister angefangen hatten, ging mit der Zeit zur Neige. Deshalb mussten sie auf einen Grünsandstein umsteigen, der schnell verwitterte“, erklärt Schuller. Den Innenraum der Kirche hielten die Architekten vollständig in weiß – ungewöhnlich für gotische Kathedralen, die zu dieser Zeit gewöhnlich innen farbig bemalt waren. „Dadurch kamen in Regensburg die bunten Fenster viel besser zur Geltung“, sagt Schuller.

Darüber hinaus haben die Forscher Techniken identifiziert, die inzwischen auch bei anderen gotischen Bauwerken bestätigt wurden. Demnach muss der Schlussstein eigentlich umbenannt werden. Er wurde, anders als sein Name besagt, als erstes auf das Gerüst gesetzt, damit dieses stabiler stand und die Handwerker auf den Stein zuarbeiten konnten. Bei der Konstruktion des Holzgerüsts waren die Architekten so sparsam, dass das Gewölbe später bis zu 10 cm durchhing. „Das funktioniert bis heute und widerlegt damit die Theorien der Moderne, wie ein Gewölbe gebaut werden muss“, betont Schuller.

Ihre Erkenntnisse aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege geförderten Großprojekt werden die Wissenschaftler in einer fünfbändigen Edition veröffentlichen. Zum Auftakt ist nun ein Band mit allen 200 Zeichnungen erschienen – im Din-A3-Format, um auch die vielen Details sichtbar zu machen. „Bisherige  bauhistorische Darstellungen waren oft sehr textlastig“, bedauert Schuller. „Wir wollten diese beeindruckende Kathedrale auch für den kunsthistorischen Laien anschaulich machen.“

Internet: www.tum.de

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