Altes mit neuen Augen sehen


Die Immobilienbranche steht an einem Wendepunkt. Lange galt: Nur der Neubau garantiert stabile Renditen. Doch ist diese Annahme im Angesicht der aktuellen ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen noch gültig? Steigende Materialkosten, verschärfte gesetzliche Anforderungen und der gesellschaftliche Druck zu mehr Nachhaltigkeit stellen diese vermeintliche Gewissheit zunehmend infrage. Gleichzeitig rückt der Bestand als wertvolle Ressource in den Fokus. Es ist an der Zeit, Gewohnheiten zu hinterfragen und den Wandel aktiv zu gestalten.

Gewohnheiten prägen unser Verhalten – im Alltag ebenso wie in wirtschaftlichen Entscheidungen. In einer dynamischen Welt bieten sie Sicherheit, können jedoch gleichzeitig zu gefährlichen Scheuklappen werden. Dies gilt auch für Investitionsentscheidungen in der Immobilienwirtschaft, insbesondere in Bezug auf den jahrzehntelangen Fokus auf Neubauprojekte. Die Erfolgsgeschichte des Neubaus wurde über die letzten 30 Jahre durch günstige Materialien, standardisierte Prozesse und kalkulierbare Risiken geprägt. Investoren bevorzugten ihn als vermeintlich sichere Wahl – ein Ergebnis fortlaufender Optimierung und Lernprozesse in der Bauwirtschaft und der stetigen Renditemaximierung.

Die kontinuierliche Verbesserung der Neubauprozesse, von verlässlichen Lieferketten über standardisierte Bauabläufe bis hin zu stabilen regulatorischen Rahmenbedingungen, führte zu einer Planbarkeit, die den Neubau als risikoarme Op­tion etablierte. Doch die Herausforderungen der Gegenwart und die Ansprüche der Zukunft stellen diese Praktiken zunehmend infrage. Umweltpolitische Forderungen und gesellschaftlicher Druck lenken den Fokus auf Aspekte wie graue Energie, CO₂e-Bilanzen und die unmittelbaren Umweltauswirkungen von Abriss und Neubau. Ein nüchterner Blick auf die Fakten zeigt: Der Neubau belastet die Umwelt erheblich – oft weit mehr, als dies in den Planungen und Berichten berücksichtigt wird.

Die Bewertung der Umweltbilanz von Gebäuden allein anhand ihrer Betriebsemissionen während der Nutzungsphase ist irreführend und schafft ein verzerrtes Bild. Noch problematischer wird es, wenn die erheblichen Emissionen, die durch Abriss und Herstellung entstehen, rechnerisch auf die erwartete Lebensdauer eines Gebäudes verteilt werden. Beide Ansätze verharmlosen die tatsächliche Klimabelastung und laufen auf eine Form von Greenwashing hinaus.

Einerseits erscheinen Neubauten durch niedrige Betriebsemissionen über die Nutzungsphase hinweg ökologisch vorteilhaft. Andererseits wird ignoriert, dass Abriss, Materialherstellung, Transport und Bauprozesse unmittelbar und massiv CO₂e freisetzen. Nach unseren Berechnungen summiert sich die Freisetzung bei der Errichtung eines Gebäudes auf etwa 1 t CO₂e pro Quadratmeter – eine Umweltbelastung, die sofort und ohne Verzögerung auftritt. Während die langfristige Betriebs­bilanz positiv aussehen mag, bleibt die kurzfristige Belastung enorm, insbesondere angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise. Das Klima arbeitet nicht mit einer Bilanz über Jahrzehnte. Es reagiert auf die unmittelbaren CO₂e-Emissionen, die in der Bauphase freigesetzt werden und das verbleibende globale CO₂e-Budget drastisch reduzieren. Dieser Ansatz, die Bau- und Abrissemissionen zeitlich aufzurechnen oder sie gar aus der Betrachtung auszuklammern, verkennt die Realität und verschleiert die tatsächlichen Umweltauswirkungen.

Ein Paradigmenwechsel ist dringend erforderlich: Der Fokus muss auf die Revitalisierung und Optimierung bestehender Bauten gelegt werden. Im Gegensatz zum Neubau, dessen CO₂e-Bilanz sowohl durch Betriebsemissionen als auch durch die massiven Belastungen von Abriss und Herstellung verzerrt wird, bietet die Bestandsentwicklung eine sofortige und messbare Entlastung für das Klima. Die Wiederverwendung bestehender Strukturen reduziert den Bedarf an neuen Ressourcen und bindet bereits eingesetzte Energie, wodurch Emissionen minimiert und planetare Grenzen eingehalten werden können. Zusätzlich reduzieren wir durch eine Bestandssanierung die Betriebsemissionen: ein weiterer Grund, sich dem Bestand mehr zu widmen.

Die Transformation hin zur einer Bestandsentwicklung vereint ökologische Verantwortung und wirtschaftliche Resilienz und bietet damit eine nachhaltige Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit. Während politische Maßnahmen wie CO₂-Abgaben und strengere Regulierungen die Kostenstrukturen des Neubaus zunehmend belasten, macht die Verknappung von Ressourcen den Bestand zu einer attraktiven Alternative. Bestehende Gebäude lassen sich mit geringem Materialeinsatz modernisieren, wodurch sowohl Emissionen reduziert als auch langfristige Werte geschaffen werden können.

Dieser Ansatz stellt nicht nur eine Antwort auf die drängenden ökologischen Fragen dar, sondern ist auch eine strategische Notwendigkeit, um die Immobilienwirtschaft zukunftsfähig zu gestalten. Es gilt, überkommene Gewohnheiten zu hinterfragen und ein Umdenken zu etablieren, das ökologische und ökonomische Aspekte gleichrangig berücksichtigt. So entsteht eine nachhaltige Baukultur, die den Anforderungen einer sich wandelnden Welt gerecht wird und gleichzeitig im Einklang mit den planetaren Grenzen bleibt.

Ein neues Fundament ist notwendig

Die Revitalisierung und Optimierung von Bestandsbauten sind zweifellos die richtigen Maßnahmen, um ökologische und ökonomische Verantwortung miteinander zu vereinen. Doch um diesen Ansatz erfolgreich umzusetzen, braucht es mehr als theoretische Überzeugung. Die Bau- und Immobilienbranche muss ihre festgefahrenen Denkmuster und etablierten Praktiken hinterfragen. Denn die Standards und Prozesse, die über Jahrzehnte für den Neubau entwickelt wurden, lassen sich nur bedingt auf die Arbeit im Bestand übertragen. Die Branche steht vor der Aufgabe, ein neues Fundament für den Umgang mit Bestandsgebäuden zu schaffen.

Notwendig sind innovative Methoden, Tools und Herangehensweisen sowie rechtliche Rahmenbedingungen, die speziell auf die Komplexität und Einzigartigkeit von Bestandsprojekten zugeschnitten sind. Jedes Gebäude bringt individuelle Chancen und Herausforderungen mit sich – sei es beispielsweise durch Altlasten, technische Besonderheiten oder denkmalpflegerische Anforderungen. Diese Heterogenität mag einschüchternd wirken, doch sie bietet auch die Möglichkeit, krea­tive Lösungen zu entwickeln und nachhaltige Strategien zu etablieren.

Vor 30 Jahren stand die Branche beim Neubau vor vergleichbaren Herausforderungen. Prozesse wie Baugrundgutachten, rechtssichere Abnahmen oder optimierte Ausschreibungen waren damals noch nicht etabliert, sondern entstanden durch kontinuierliches Lernen und die Entwicklung neuer Standards. Genau an diesem Punkt stehen wir heute – nur mit einem anderen Fokus: dem Bestand.

Ein gezieltes Umdenken und die Entwicklung ­neuer Standards sind entscheidend, um Bestandsbauten zukunftsfähig zu machen und den Anforderungen von Markt, Umwelt und Gesellschaft gerecht zu werden. Die Branche hat die Chance, kurzfristige Investitionsstrategien in langfristige, nachhaltige Wertschöpfung zu transformieren. Ein solcher Paradigmenwechsel ist nicht nur notwendig, sondern auch eine einzigartige Gelegenheit, die Bau- und Immobilienbranche ökologisch, ökonomisch und gesellschaftlich zukunftsfähig zu gestalten.

Das Potenzial

Die weit verbreitete Annahme, dass Bestandsgebäude zu schwierig oder unwirtschaftlich für überzeugende Nachnutzungskonzepte seien, greift zu kurz und verkennt die enormen Potenziale, die in der Transformation liegen. Diese ­Defizitorientierung, die sich auf vermeintliche Schwächen wie schwer dämmbare Altbauten, unflexible Bürogebäude aus den 1950er-Jahren oder potenzielle Altlasten konzentriert, verstellt den Blick auf die Stärken des Bestands. Doch gerade diese Stärken machen Bestandsgebäude zu einem zentralen Baustein für eine nachhaltige und zukunftsfähige Baukultur.

Mit einem schnell geschaffenen neuen Fundament – bestehend aus innovativen Methoden, maßgeschneiderten Werkzeugen und angepassten rechtlichen Rahmenbedingungen – kann das Potenzial von Bestandsbauten voll ausgeschöpft werden. Bestehende Objekte ermöglichen es, mit vergleichsweise geringem Material- und Energieeinsatz flexibel auf neue Marktbedürfnisse zu ­rea­gieren. Sei es die Umnutzung von inner­­städ­ti­schen Kaufhäusern, Bürogebäuden oder Industrieflächen – durch Transformation entstehen nicht nur neue Nutzungsperspektiven, sondern auch erhebliche Einsparungen an Ressourcen und langfristige wirtschaftliche Vorteile.

Ein entscheidender Schritt dabei ist, die Herangehensweise an Bestandsprojekte radikal zu überdenken. Der Fokus sollte nicht auf den Schwächen der Gebäude liegen, sondern darauf, wie Transformationen mit minimalem baulichem und ­finanziellem Aufwand realisiert werden können. Der Schlüssel liegt in der Entwicklung von Nachnutzungskonzepten, die sich aus den Stärken und Gegebenheiten eines Gebäudes ableiten, statt das Objekt an starre Pläne anzupassen. So wird nicht nur der individuelle Charakter eines Gebäudes bewahrt, sondern auch dessen Potenzial maximal ausgeschöpft.

Dieser Paradigmenwechsel hin zu einer Stärkenorientierung und Problemlösungskompetenz ist essenziell, um die Bau- und Immobilienbranche zukunftsfähig zu machen. Wenn es gelingt, schnell ein neues Fundament zu schaffen, können Bestandsbauten nicht nur Herausforderungen meistern, sondern als zentrale Ressource für eine nachhaltige und resiliente Baukultur genutzt werden.

Wege zum Wandel: von Problem zu Potenzial

Die Transformation des Bestands erfordert einen klaren Plan und gezielte Schritte, um ein neues Fundament für nachhaltiges und innovatives Bauen zu schaffen. Seit der Gründung der Greyfield Group im Jahr 2012 arbeiten wir konsequent daran, diesen Wandel aktiv voranzutreiben und die Bau- und Immobilienbranche zukunftsfähig zu gestalten.

Mit der Entwicklung zahlreicher Bestandsimmobilien haben wir bewiesen, dass Bestandsprojekte sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch erfolgreich sein können. Dabei haben wir bereits mehr als 41 000 t CO₂e eingespart – ein klarer Beleg für das immense Potenzial des Bauens im Bestand. Doch wir sehen unsere Rolle nicht nur in der Rea­lisierung eigener Projekte, sondern auch in der aktiven Unterstützung anderer Unternehmen bei allen Herausforderungen rund um den Bestand.

Darüber hinaus setzen wir uns aktiv dafür ein, die Rahmenbedingungen für das Bauen im Bestand nachhaltig zu verbessern und neue Marktstandards zu etablieren. Ein Beispiel hierfür ist der Redevelopment-Leitfaden, den wir 2016 gemeinsam mit der Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung (gif) veröffentlicht haben. Dieser Leitfaden bietet praxisnahe Orientierung für die Planung und Umsetzung von Bestandsprojekten. 2022 folgte ein weiterer Meilenstein mit der Entwicklung des CO₂e-Ausweises für den Lebenszyklus von Gebäuden, der ebenfalls in Zusammenarbeit mit der gif entstanden ist und neue Maßstäbe für die Bewertung der Klimabilanz von Immobilien setzt.

Darüber hinaus fördern wir mit unserer gemeinnützigen Greyfield Stiftung Projekte, Wissenschaft, Forschung, Bildung und Verbände im Bereich des Bauens im Bestand. Um die spezifischen Herausforderungen von Bestandsimmobilien besser zu bewältigen und schneller als in den vergangenen 30 Jahren ein neues Fundament für den Umgang mit dem Bestand zu schaffen, haben wir 2023 gemeinsam mit Partnern den Verband für Bauen im Bestand (BiB) ins Leben gerufen. Der BiB dient als zentrale Plattform, die Kompetenzen bündelt, innovative Ansätze fördert und ein lebenszyklusbasiertes Verständnis des Bauens vorantreibt. Ziel ist es, praxisnahe Lösungen zu entwickeln, die den Bestand zukunftsfähig machen und der Transformation des Bauens im Bestand eine starke Stimme in der Branche zu verleihen. Mit diesen Initiativen gehen wir über die Realisierung eigener Projekte hinaus und leisten einen entscheidenden Beitrag dazu, die Transformation des Bestands auf breiter Ebene möglich zu machen – als Entwickler, Berater und Impulsgeber für eine nachhaltige Baukultur.

Was es braucht, um die Transformation des Bestands voranzutreiben

Um die Chancen des Bestands voll auszuschöpfen, braucht es gezielte Ansätze und klare Prioritäten. Vergangene Praktiken reichen nicht aus – es ist Zeit für neue Wege, die die Potenziale des Bestands nachhaltig und zukunftsorientiert nutzen. Die Schwerpunkte dabei sind:

- Sinnvolle politische und rechtliche Rahmenbedingungen
Statt immer komplexere Regelungen zu schaffen, brauchen wir praxistaugliche und weniger Normen. Unser Vorschlag: Die Musterbauordnung sollte getrennte Regelwerke für Neubau und Bestand vorsehen. Das würde die Prozesse entschlacken, vereinfachen und die Bestandsentwicklung deutlich effizienter machen.↓

- Interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern
Die Vielschichtigkeit des Bauens im Bestand erfordert Expertise aus unterschiedlichen Bereichen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Experten, Nutzern, Wissenschaftlern und politischen Akteuren ist entscheidend, um ganzheitliche und innovative Lösungen zu entwickeln.

- Offenheit für neues Denken
Die Transformation beginnt mit der Bereitschaft, alte Denkmuster zu hinterfragen und Paradigmen zu verlassen. Nur durch einen Perspektivwechsel können die Potenziale des Bestands erkannt und vollständig genutzt werden.↓

Menschen, die den Wandel gestalten

Veränderung braucht engagierte Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und aktiv Lösungen zu entwickeln. Unterstützende Rahmenbedingungen, gezielte Weiterbildungen und die Förderung von Innovation sind der Schlüssel, um diesen Wandel zu ermöglichen.

Die Transformation des Bestands ist kein Selbstläufer – sie ist eine enorme Chance, wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Ziele miteinander zu verbinden. Mit durchdachten Konzepten, technologischem Know-how und einem starken Netzwerk aus motivierten Akteuren können wir vermeintliche Schwächen in starke Perspektiven verwandeln und eine nachhaltige Baukultur etablieren.

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