Richtige Fragestellung: Bestand vs. Neubau?

Ersatzneubau oder Bauen/Sanieren im Bestand? Das Thema treibt alle mit dem Bauen Beschäftigte gerade um, manche setzen auf Abrissmoratorien, andere auf konsequent nachhaltigen ­Neubau. Einige – so Prof. Stephan Häublein, Prodekan der Fakultät Architektur und Bauingenieur­wesen an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt – setzen auf eine „differenzierte ­Betrachtung“ (s. in diesem Heft, S. 12f., Im Gespräch mit …). Im vergangenen Jahr realisierten f64 Architekten aus Kempten zusammen mit Drees & Sommer SE Stuttgart das Neubau- und ­Sanierungsprojekt FOS/BOS in Kempten, womit sie dem Weg der differenzierten Betrachtung den Vorzug gaben.

Das berufliche Schulzentrum Kempten ist mit seinem baulichen Zentrum ein Kind der 1970er-Jahre. Die gradlinige, mit dazu gefügten Kreissegmenten in Schwung gebrachte Anlage hinter hellem Klinker steht auf den ehemaligen Gleisanlagen des abgebrochenen Kemptener Kopfbahnhofs und wurde in mehreren Bauphasen zwischen 1978 und 1999 errichtet. Das Schulzentrum war zu klein geworden und weil, wie überall sonst auch nicht checkheftgepflegt, dringend sanierungsbedürftig. Der zuständige Zweckverband Berufliches Schulzentrum ermittelte über ein VgV-Verfahren das für die Erweiterung, den Umbau und Sanierung verantwortliche Planungsbüro f64 Architekten, Kempten, die zusammen mit der Beraterkompetenz von Drees & Sommer das umfangreiche Projekt 2018 angingen. Bis 2028 wird der Auftraggeber rund 134 Mio. € investiert haben, um Raum für dann rund 6 000 Schüler:innen, 320 Lehrer:innen und die Verwaltung zu schaffen, die in Teilen zur Zeit noch in umliegenden Immobi­lien untergebracht sind.

Der erste Arbeitsschritt ist getan, bereits im letzten Jahr konnte der Erweiterungsbau der Berufs- und Fachoberschule, kurz FOS/BOS, als kompletter Neubau im September fertiggestellt werden. Er bietet Platz für 35 Klassenzimmer und zehn Fachräume. Zudem war es nun möglich, Räume umzuverteilen und Raumfunktionen, die bis dato zum Teil in die benachbarten Berufsschulen ausgelagert waren, neu zu ordnen. Gleichzeitig entstand Platz für eine auf ca. 300 Personen ausgelegte Mensa, die von den 720 Schüler:innen zusätzlich als Aufenthaltsbereich genutzt werden kann. Als KfW-Effizienzhaus 55 verbraucht das Gebäude wenig Energie und trägt damit dem Nachhaltigkeitsgedanken der Planer:innen und des Bauherrn Rechnung.

Bauen im Bestand vs. Neubau

Zwar ist der oben beschriebene Erweiterungsbau ein Neubau, der aller Wahrscheinlichkeit nach erst in Jahrzehnten klimapositiv wird. Doch betrachten die Planer:innen den Neubau als Teil der Generalsanierung, der eine lebhafte Diskussion über das Für und Wider des Bauens im Bestand gegenüber eines Neubaus der gesamten Anlage vorangegangen war. „Vor diesem Hintergrund haben wir zunächst untersucht, ob der Bestand dem neuen Raumbedarf überhaupt gewachsen ist. Nach positiver Bewertung haben wir den baulichen Zustand der Bestandsgebäude begutachtet und den daraus resultierenden Sanierungsbedarf“, erklärt Thomas Rückert, der als Projektleiter seitens Drees & Sommer das Bauvorhaben verantwortet. „Darüber hinaus haben wir die Investitionskosten einer Sanierung den Kosten für einen vergleichbaren Neubau gegenübergestellt.“ Laut der Kostenschätzung und Vergleichsrechnung wäre ein Neubau der drei Berufsschulen an gleicher Stelle mit rund 117,5 Mio. € um fast ein Drittel teurer ausgefallen als die Sanierung mit geschätzten Kosten von rund 92,3 Mio. €, so Dreso auf Nachfrage der Redaktion.

Bestandssanierung zunehmend 1. Wahl

Die Untersuchung ergab, dass die Tragstruktur des Bestands seinerzeit so vorausschauend ge­plant und realisiert worden war, dass sie eine hohe Ausbauflexibilität aufweist und damit eine weitgehende Neugestaltung der Grundrisse erlaubt. Dass man dennoch die Fassaden erneuert hat, um den Bestand „hinsichtlich der Energieeffizienz zudem auf ein Level zu hieven, das dem eines Neubaus entspricht“ (Dreso), erscheint nicht überzeugend, ist doch die Energieversorgung in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr das Thema (hoffentlich!). Trotz des für eine Sanierung erforderlichen Teilabrisses fiel auch ein Kostenvergleich zugunsten der Generalsanierung aus. „Ein kompletter Neubau der Schulanlage wäre mit 30 % Mehrkosten zu Buche geschlagen“, konstatiert Eberhard Mangold, damaliger Geschäftsleiter des Zweckverbands. Und Drees & Sommer-Experte Dr.-Ing. Björn Nohe ergänzt: „Wer den Bestand nutzt, schont zudem Ressourcen. Aus Klimaschutzperspektive ist die Bestandssanierung somit zunehmend 1. Wahl.“

Energieeffizienz und Betriebskosten: Mit den umfangreichen Sanierungsmaßnahmen, die auch sämtliche Oberflächen (Böden, Wände, Decken) sowie die technischen Anlagen betreffen, in Verbindung mit der Erneuerung der Fassade, lässt sich eine Energieeffizienz äquivalent zu einem Neubau erzielen. Die erwarteten Betriebskosten sind, so die Planer:innen, ebenfalls mit denen eines Neubaus vergleichbar.

2028 soll alles fertig sein, bis dahin wird es Hunderte ähnlicher Projekte geben, die alle auf tragfähigem Bestand aufbauen könnten. Dass das durchaus gelungene Architektur ist, dass das ebenso auch eine Geste des Respekts vorhergehender Entwurfsplanung darstellt und dass wir unsere differenzierte Betrachtung eher in eine Summa bringen müssen, die alle Bauteile im Blick hat und Nachteile als den Umständen geschuldeten Pragmatismus erkennen und vielleicht gar schätzen lernen, das können wir in diesem Projekt ahnen. Wir werden es uns ansehen, 2028!

Benedikt Kraft / DBZ

www.f64architekten.de, www.dreso.com
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