Wie kann man Plusenergie-Konzepte auf die Bestandssanierung übertragen?
Kann man Plusenergie-Konzepte auf die Bestandssanierung übertragen? Mit der modellhaften Sanierung von zwei Wohnzeilen aus den 1950er-Jahren in Frankfurt-Riederwald treten HHS PLANER + ARCHITEKTEN den Beweis an, dass eine Effizienzhaus-Plus Sanierung sogar im Kostenrahmen von Standard-Sanierungen machbar ist – inklusive Steigerung des Wohnkomforts für die Mieter.
Die Architekten von HHS PLANER + ARCHITEKTEN verbindet viel mit ihrem Bauherrn ABG FRANKFURT HOLDING: Beide stehen seit Jahren für energieeffizientes Bauen und die Umsetzung von innovativen Ideen in praxisnahen Leuchtturmprojekten. Schon vor der Eröffnung des Aktiv-Stadthauses in der Frankfurter Speicherstraße (nachzulesen in DBZ 10 | 2015), mit dem die Partner das Konzept Plusenergie im Mehrfamilienwohnhaus demonstrierten, entstand der Plan, die Zielvorgaben Klimaneutralität und Effizienzhaus Plus-Standard auch auf Bestandsbauten zu übertragen. Die beiden für das neue Projekt ausgewählten Wohnzeilen in Frankfurt-Riederwald zeigen beispielhaft, wie die großen Bestände an Mehrfamilienhäusern aus den 1950er- und 1960er-Jahren zukunftsfähig saniert werden könnten.
Praxisnaher Machbarkeitsnachweis
Wenn man das Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands ernst nimmt, müssen dafür passende Sanierungskonzepte entwickelt werden, die im wirtschaftlichen Rahmen für Bauherrn und Mieter umgesetzt werden können. Die beiden Hauszeilen in der Frankfurter Nebeniusstraße stehen prototypisch für den deutschlandweit großen Bestand an sanierungsbedürftigen Wohnhäusern, der mit dem hier modellhaft erprobten Konzept gestalterisch, technisch und energetisch optimiert werden könnte. Für das Energiekonzept holte HHS PLANER + ARCHITEKTEN die Energieplaner von energydesign braunschweig mit ins Boot, damit auch die Entkarbonisierung der Energieversorgung und eine ausgeglichene Gesamtenergiebilanz von Anfang an mitgeplant werden konnte. Das Energiekonzept verfolgt das Prinzip des Nur-Strom-Hauses mit geringem Technikeinsatz und vermeidet konsequent den Einsatz fossiler Brennstoffe und lokaler Emissionen. Baulich wird das Konzept unterstützt durch eine luftdichte Gebäudehülle mit neuem Vollwärmeschutz sowie thermisch getrennte Balkonanlagen und neue, vollgedämmte Dachkonstruktionen.
In der Ostzeile blieb die Grundrissstruktur unangetastet, nur die Bäder wurden komplett erneuert. Die Warmwasserbereitung erfolgt dezentral über Mini-Wärmepumpen, die das Wärmepotential aus der Wohnungsabluft nutzen. Zuluft strömt über die Außenluftdurchlässe der Fenster nach, sodass gleichzeitig eine kontrollierte Wohnraumlüftung realisiert wurde. Die Heizenergie wird über oberflächennahe Geothermie bereitgestellt. Die vorhandenen Heizkörper konnten durch die Minimierung der Wärmeverluste bei verringerter Vorlauftemperaturen weiterverwendet werden. Die alten Balkone stellten Wärmebrücken dar und wurden abgetragen. Die Architekten wollten den gestalterischen Duktus der Hauszeilen erhalten und kontrastierten diesen mit neuen Betonfertigteil-Balkonen, deren Bügel die Tragstruktur zeigen. Auch die Anbauten der Westzeile setzen sich mit der Faserzementplattenfassade vom verputzten Bestand ab.
In der Westzeile wurde im Leerstand saniert und die Grundrisse an moderne Wohnbedürfnisse angepasst. Durch die Anbauten entstand zusätzlicher Wohnraum und ein Außenbezug für die Mieter. Die Beheizung erfolgt über Fußbodenflächenheizung, eine zentrale bivalente Wärmepumpe nutzt die thermische Energie von Außenluft und Geothermie und stellt auch die Warmwasserversorgung zentral bereit. Auch hier gibt es eine Wohnungslüftung, allerdings ohne Wärmerückgewinnung.
Energiegewinn ohne optischen Umweltschaden
Die alten Dächer wurden komplett abgetragen, ein Drempel gesetzt und die Dachneigung erhöht, sodass im Dachausbau in beiden Hauszeilen neuer Wohnraum geschaffen werden konnte. Die Ost-West ausgerichteten Dachflächen wurden vollflächig mit Photovoltaik-Modulen belegt. Dass die Module nicht auch die wasserführende Schicht bilden, war dem Wunsch des Bauherrn nach einem regensicheren Unterdach geschuldet.„Eine Blechdeckung wäre teurer gewesen, Foliendächer haben bei der Dachneigung erstmal keine Standard-Zulassung, also hätte es dann einer Zustimmung im Einzelfall bedurft. Insofern war das Ziegeldach wohl die praktikabelste Lösung“, sagt Gerhard Greiner von HHS. „In den neuen Dachwohnungen wirken die schweren Dachziegel auch als Speichermasse, was der leichten Holzbauweise in der Nachverdichtung sehr entgegenkommt.“
Die PV-Anlage ist kein Fremdkörper, sondern Ausdruck des ganzheitlichen Konzepts. Für die Dachintegration der PV-Module war eine exakte Vorplanung erforderlich. Die Modulformate sind so abgestimmt, dass die Dachflächenfenster von ihrer Größe ins Raster passen, der Überstand der Dachfenster stimmt genau mit der Oberkante der Module überein. Mit schwarzen Alurahmen und nicht-aktiven Passmodulen in der gleichen Optik entstand so eine homogene, gut gestaltete Dachfläche, der man das Ziegeldach darunter nicht ansieht. Die Leistungsmodule haben eine Antireflexbeschichtung, die Blindmodule auf der Ostzeile leider nicht, bei bestimmten Wetterlagen sieht man das. Bei der Westzeile sind auch die Passstücke als Leistungsmodule ausgebildet, sodass das Thema unterschiedlich reflektierender Oberflächen hier nicht auftritt. „Die solaren Erträge werden direkt im Gebäude für den Gebäudebetrieb, Heizung und Warmwasser in der Westzeile genutzt“, erklärt Thomas Wilken von energydesign braunschweig. Ein Mieterstrommodell ermöglicht es den Bewohnern, den Strom vom Dach auch selbst zu nutzen. „Bei ganzheitlicher Betrachtung müssen in der Bilanz Wärme, Haushaltsstrom und zukünftig auch die Mobilität enthalten sein“, so Wilken. ↓
Bestand bewahren – graue Energie erhalten
Die Ostzeile wurde im laufenden Betrieb saniert. Der Bauherr hatte die Zielvorgabe herausgegeben, dass hier alle Mieter in ihren Wohnungen verbleiben konnten. Gemeinsam mit den Planern führte die ABG Informationsveranstaltungen durch, in denen das Sanierungskonzept vorgestellt und ausführlich erläutert wurde. Der Verzicht auf unangemessene Mietsteigerungen und das zusätzliche Angebot eines mietfreien Monats während des Badumbaus in der Ostzeile führte zusammen mit der Aussicht auf eine behaglichere Wohnung zu einer hohen Akzeptanz während der einjährigen Sanierungsmaßnahme. Auch nach der Sanierung sind die neuen und alten Bewohner mit den Wohnungen und dem technischen Gebäudekonzept sehr zufrieden.
„Klimaschutz ist nicht zum Nulltarif zu haben,“ resümiert Wilken. „Wir bereiten das Gebäude aber darauf vor, unabhängig von Preissteigerungen und CO2-Besteuerung versorgt werden zu können. Das ist ein deutlicher Mehrwert, für den investiert werden muss. Die Jahresbilanz ist ausgeglichen und mit jedem Windrad im Netz wird der öffentliche Strom grüner, sodass auch der Anteil, der nicht vor Ort bereitgestellt werden kann, regenerativer wird. Hier haben klassisch versorgte Gebäude das Nachsehen.“
„Auch die graue Energie ist sehr wertvoll,“ schließt sich Greiner an. „In Bestandsobjekten ist so viel Energie gebunden, wie man mit einem KfW-55-Haus erst in 100 Jahren einsparen könnte. Daher ist die Bestandsbewahrung eine der sinnvollsten Maßnahmen, die man aus energetischer Sicht machen kann. Unsere Erfahrungen zeigen, dass es möglich ist, auch bewohnte Häuser auf einen zukunftsfähigen Energiestandard zu sanieren und aufzuwerten – laut ABG sogar zu vergleichbaren Kosten, zu denen normalerweise eine Standard-EnEV-Sanierung durchgeführt wird.“
Baudaten
Objekt: Aktiv-Stadthaus im Bestand
Standort: Nebeniusstraße 11 – 15 (Westzeile) und 12 – 20 (Ostzeile), Frankfurt a. M.
Typologie: Mehrfamilienhaus
Bauherr/Nutzer: ABG FRANKFURT HOLDING Wohnungsbau- und Beteiligungsgesellschaft mbH, www.abg-fh.de
Architekt: HHS PLANER + ARCHITEKTEN AG, Kassel, www.hhs.ag
Mitarbeit: Gerhard Greiner, Johannes Hegger, Rèka Szemerey, Alejandro Yanes, Hilmar Klapp, Markus Meinlschmidt
Bauleitung: HHS PLANER + ARCHITEKTEN AG, Kassel, www.hhs.ag, Gerhard Greiner (Bauleiter HBO), H. W. Steup (örtliche Bauüberwachung)
Bauzeit: April 2016 – April 2017 (Ostzeile), April 2017 – August 2018 (Westzeile)
Fachplaner
Tragwerk: Engelbach + Partner, Frankfurt a.M., www.engelbach-ingenieure.de
TGA-Planer/Energieplaner/Thermische Bauphysik: energydesign braunschweig GmbH, Braunschweig, www.energydesign.de
Brandschutz: Primke Ingenieur für Brandschutz, Mainz, www.tp-brandschutz.de
Landschaftsarchitektur: HHS PLANER + ARCHITEKTEN AG, Kassel, www.hhs-architekten.de; ABG Landschaftsarchitekt V. Martiner, Frankfurt a. M., www.abg-fh.com
Projektdaten (Ostzeile)
GRZ: 0,43; GFZ; 1,79
Nutzfläche: 2 400 m²
Technikfläche: 50 m²
Verkehrsfläche: 260 m²
BGF: 3 500 m²; BRI: 9 500 m³
Wohneinheiten: Bestand: 25/Dachausbau: 2
Energiekonzept (Ostzeile)
Dach: Mineralwolle 26 cm WLG 032, Holzfaserdämmplatte 3,5 cm WLG 049; Außenwand: Polystyrol/Mineralwolle 20 cm WLG 035; Fenster: 3-fach-Wärmeschutzverglasung im Kunststoffrahmen Uw 0,93 W/m²K; Kellerdecke: Tektalan/Polystyrol 7,5 cm WLG 033
Gebäudehülle (Ostzeile)
U-Wert Außenwand = 0,16 W/(m²K)
U-Wert Kellerdecke = 0,20 W/(m²K)
U-Wert Dach = 0,14 W/(m²K)
Uw-Wert Fenster = 0,95 W/(m²K)
Ug-Wert Verglasung= 0,70 W/(m²K)
Ug-total (mit Sonnenschutz) = 0,165 W/(m²K)
Luftwechselrate n50 = < 1,0 1/h
Haustechnik (Ostzeile)
Nur-Strom-Haus, 45 % solare Deckung bei der Eigenstromnutzung; Photovoltaik-Anlage auf dem Dach 99 kWpeak ; Sole-Wasser-Wärmepumpen; Geothermie mit sieben Erdsonden, 100 m tief
Energiebedarf (Ostzeile)
Planungsleitfaden
Zusammen mit dem BBSR wurde u. a. von Johannes Hegger, HHS, ein Planungsleitfaden für den Effizienzhaus Plus Standard entwickelt, der vorbildhafte Projektlösungen vorstellt: Den Download-Link für die Broschüre finden Sie hier: www.hhs.ag/broschuere-effizienzhaus-plus-planungsempfehlungen-ist-erschienen.de.html