Bestandsaufnahme
Die Frage, ob wir noch mehr Bücher zum irgendwie in Mode gekommenen Brutalismus brauchen, könnte man auch abwandeln in die: “Brauchen wir noch Bücher?“ Wer hier mit Ja antwortet – auch zur ersten Frage – sollte das gerade im Quart-Verlag erschienene „Brutales Luzern“ erwerben, es liefert in vielerlei Hinsicht Antworten, die grundsätzlicher Art sind. Nicht zuletzt die, dass eine Buchtitelwahl auch einmal über das Ziel hinausschießen kann!
Neben dem wie nebenbei beantworteten Fragekomplex der Bücherrelevanz – die Publikation ist in fast jeder Hinsicht eine, die hohen Ansprüchen gerecht wird mit der Qualität des Drucks der Bilder und Pläne, der Bindung, der Papier- und Typenwahl, aber auch einer unprätentiös feinen Gestaltung von allem – antwortete der Autor auf die Relevanz des Themas in dem kleinen Widmungstext am Ende des Buches: Er widme die Arbeit den Kindern der Familie, also denen, die das brut Gebaute in den kommenden Jahrzehnten anschauen, mit ihm leben, über sein Weiterbestehen entscheiden, ohne dabei „zimperlich“ zu sein, wie der Autor empfiehlt. Ist seine Arbeit also eine nüchterne Bestandsaufnahme?
Ganz sicher nicht. Im ausführlichen Einführungstext, der vor den 53 Gebäudeporträts steht, gibt es den Hinweis auf den Anlass des Buches: Ein Gebäude im brutalistischen Stil wurde abgerissen, mit – von heute und aus einer Sympathisanten-Sicht geschaut – fadenscheinigen Begründungen. Also hat er sich mit dem Fotografen Michael Scherer – explizit kein Architekturfotograf – aufgemacht, das noch zahlreich vorhandene, aber unter Druck stehende Erbe zu suchen, es zu bewerten und in die Sammlung aufzunehmen. Mit Farbfotografien, der Kamerablick meist von außen, selten werden (private) Innenräume gezeigt und wenn doch, dann immer die, die mit Möbelklassikeroriginalen oder Bücherregalen mit Erstausgaben dekoriert sind.
Aber sei es drum, der Brutalismus ist ohnehin ein Architekturgenre, das eher die intellektuelle Oberklasse anspricht oder die, die mit dieser Klasse mithalten wollen; zu diesem Phänomen steht eine Publikation noch aus. Mit den Fotos gibt es Hinweise auf die Entstehungszeit, auf die Architekten, die – und das ist tatsächlich das einzige Manko dieser Arbeit – nicht im Anhang versammelt und mit einer Kurzbiografie oder ähnlichem bekannter gemacht werden. Dazu kommt eine unmaßstäbliche Planansicht und ein sehr kurzer, aber das Wesentliche erfassender Text. Die Grundrisse, Schnitte, Ansichten folgen dann, auf eigenem Papier gedruckt, im Planteil. Eine sehr knappe, die aktuelle Forschung eher ausklammernde Literaturübersicht schließt die Arbeit ab.
Brauchen wir ein solches Buch? Es solle sich an alle richten, die das Thema anspricht, so der Autor, Laien wie Fachleute. Dass letztere hier eine Menge entdecken können, dass diese vielleicht auch überrascht sind, was die Schweiz zu diesem Baustil beigetragen hat – und wie das heute noch wirkt auf die Haltung der führenden Schweizer Büros –, das kann vermutet werden. Dem Rezensenten war es eine aufregende Reise zu Kirchenbauten, Wohnhäusern, Gewerbebauten, Schulen etc. Ganz sicher wird der eine oder andere Bau auf der nächsten Reise dann besucht werden; wenn er noch steht! Be. K.