Buchrezension: niße. 400 Eszett-Schnitte

Seien Sie ehrlich: Sie schreiben lieber Massstab als Maßstab! Oder? Vielleicht mag das daran liegen, daß die Schreibschablonen für Planbeschriftungen das ß nicht im Angebot hatten ... oder haben sie mittlerweile doch? Denn tatsächlich ist der Massstab eben eine Art Massenstab und nicht das Maß der Dinge, die hier beziffert werden sollen.

Das Eszett ist ein ganz besonderer Buchstabe der lateinischen Schrift und es gibt ihn nur ein den deutschen Sprachen beziehungsweise Dialekten. Und hier war er als einzige lateinische Glyphe ohne großen Bruder, 116 Jahre lang, so jedenfalls schreiben es die Autoren des hier vorliegenden kleinformatigen jedoch dickleibigen Buchs aus dem Haus verlag hermann schmidt aus Mainz. Auch, daß es tatsächlich unter dem "U+1E9E" (Unicode-Zeichensatz) nichts zu holen gab mag mit eine Rolle dafür gespielt haben, daß in Ingenieur- und Architekturbüros das Eszett bis auf den heutigen Tage keine Rolle spielen durfte, denn die meisten Planbeschriftungen wurden in Versalschrift, also in reiner Großbuchstabenschreibung ausgeführt. Warum eigentlich?

Das mag nun ein anderes Thema sein, im vergangenen Jahr jedenfalls, exakt am 29. Juni 2017 war Schluss mit der Unicode-Leerstelle, die bereits im April 2008 auf Drängen des Deutschen Institutes für Normung hier ihren Platz im Unicode-Zeichensatz zugeteilt bekommen aber nicht erhalten hatte: Der deutsche Rechtschreibrat hatte mit diesem Tag das Versal-Eszett ins amtliche Regelwerk aufgenommen. Da wird es offenbar dann Zeit für eine Bestandsaufnahme: Hannah Häußer und Maximilian Borchert gingen auf die Suche nach Eszett-Schnitten. Und sichteten dabei - man staune - die riesige Google-Schriftbibliotheken "Google Fonts" mit zurzeit 853 Schriftfamilien. Hier fanden sie überraschender Weise jede Menge Eszett-Schnitte, sortierten diese nach Sans, Serif, Slab und Mono und zeigen in subjektiver Auswahl die 30 schönsten Display-Eszetts (Display-Schriften sind angepasst Antiqua-Schriftschnitte).

Wie das dann aussieht zeigen rund 400 Versal-Eszette in jeweils ca. plus/minus 440 Punkt Schriftgröße (damit die Glyphe die ganze 120 x 160 mm große Buchseite etwa immer gleich groß füllt). Dazu gibt es jeweils einen kleinen den Schriftschnitt beschreibenden Text und den Namen des oder der Entwerfer(in)s. Das Entwurfsjahr fehlt ebenso wie ein Hinweis auf eine Bezugsquelle).

Im Durchblättern lockt zwischendurch das Daumenkino-Spiel, hier allerdings entstehen keine überraschenden Bewegungs- oder Veränderungseffekte. Was verständlich wird, schaut man sich die in der Vergrößerung zwar deutlichen aber dann doch sehr begrenzten Variationen über ein Thema an: Linenstärke, Rundungen, Verschnitte und Biegungen, alles auf die jeweilige Schriftenfamilie angepasst und wahrlich nur krachend frech, laut und komisch bei den Display-Schnitten. Alles ist auf die Schriftfamilie angepasst: Auch die Seitenzahlen entstammen dem jeweils auf der Doppelseite präsentierten Font.

Was uns dieses Buch bringt? Neben der Hymne an eine wunderschöne Glyphe erstmal nichts. Vielleicht aber kommt schon über diese Rezension Lust auf, neben den althergebrachten serifenlosen Architektenschriften einmal etwas neues auszuprobieren. Und in jedem Falle sich gewiss zu sein, daß ein "gibt es doch nicht!" beim Versal-Eszett nicht mehr zieht. "niße" ... Wie hieß dieses Buch noch: "Geheimniße der letzten Zeiten, was annoch vorm jüngsten Tage geschehen werde", na also, solche Geheimniße brauchen wir eben auch und dringender als je! Be. K.

dazu erhielten wir folgende Anmerkung:

"Sehr geehrte Damen und Herren,
 
hier ein kleiner Hinweis zu Ihrer o.g. Rezension:
 
Jede (Architekten-) Schriftschablone (üblicherweise von STANDARDGRAPH oder rOtring, DIN 1451 oder DIN 6775) hatte immer (und hat noch) ein ß hinter dem kleinen z. Ich habe es "tausendmal" geschrieben. Die meisten Pläne wurden - wegen der besseren Lesbarkeit - mit Versalien und Kleinbuchstaben beschriftet.
 
Mit freundlichen Grüßen
 
Dipl.Ing. Anette Echt-Leclaire
Architektin BDB
Walburgisstraße 17
58706 Menden"

Maximilian Borchert, Hannah Häußer, niße. 400 Eszett-Schnitte. Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2018, 832 S. mit 400 gemeinen und 88 Versal-Eszett-Glyphen
25 €, ISBN 978-3-87439-904-3

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