100 Jahre alt: Domino-Haus-Prinzip

Reist man durch die südlichen Regionen Europas, insbesondere dort, wo intakte Landschaft den Versprechungen des Massentourismus geopfert wurde, sieht man diesen Typus Bauruinen sehr häufig: nackte Stahlbeton-skelette, manche im Erdgeschoss vermauert, Treppenanlagen, die im Nichts enden und Büsche und junge Bäume zwischen allem und bis hinauf auf die offenen Geschossebenen.

Diese Landschaftsmarken, Zeugnisse einer Spekulation auf schnelle Gewinne, erinnern an einen Prototypen der Moderne des vergangenen Jahrhunderts, das „Maison Dom-Ino“ von Le Corbusier, der zum Zeitpunkt der Erfindung dieses architektonischen Musters noch ganz bürgerlich Charles Edouard Jeanneret hieß. Sein „Maison Dom-Ino“ war das Konzept der architektonischen Reduktion eines Hauses auf Decken, Böden, Stützen und eine die Geschosse erschließende sowie stabilisierende Treppenanlage. Mit anderen zeitgenössischen Konzepten rationeller Baufertigung wurde es zur Grundlage für industriell entwickelte Fertighäuser.

Der Hintergrund für die Erfindung eines architektonischen Archetypus waren die umfassenden Zerstörungen des Weltkriegs
1914–18 in Städten und auf dem Land. Das Schnellbausystem „Dom-Ino“ sollte der bereits grassierenden Wohnungsnot in einem Krieg begegnen, der am Ende Millionen toter Zivilisten und Soldaten sowie europaweite Verwüstungen nach sich zog.

Für den Wiederaufbau der ländlichen Siedlungen kam das „Maison Dom-Ino“ nicht zur Anwendung, eher diente es dazu, den funk­tionalistischen Impetus der Moderne à la Corbusier zu konzentrieren und in Projekte einzuleiten, die heute Ikonen des Bauens geworden sind: das Doppelhaus in der Weißenhofsiedlung 1927, die Villa Savoye in Poissy 1929-31 oder auch die Unité d’Habitation in Marseilles, Berlin oder Firminy.

In Venedig steht das „Maison Dom-Ino“ als System B am Anfang des „Happy Birthday Dom-Ino“-Projekts der AA London. Nach Venedig geht der Nachbau über London nach Tokio. Projektarchitekt vor Ort ist Valentin Bontjes van Beek, der beratende Ingenieur ist Juerg Stauffer (Just SWISS), der schließlich auch für die Realisierung des Projektes in Holzbauweise verantwortlich war (GSA Technolgoie: im Plattenaufbau liegende Gewinde-stangen erleichtern die Montage und geben zusätzliche statisch wirksame Momente).

Dass 1915 ein Italiener die kriegsver­bündeten Franzosen darum bat, das von ­Erdbeben heimgesuchte Sizilien mit Hilfe des „Maison Dom-Ino“ schnell wieder aufzubauen, deutet die Fondation Le Corbusier als Ausgangspunkt für das Erwachen einer internationalen Architektur (der Moderne). Dass auch auf Sizilien die oben genannten Bau­ruinen stehen, scheint den Kreis irgendwie zu schließen. Be. K.

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