„Vom Reissbrett zum Beton“
Um die Bedeutung wie auch die konstruktiven Möglichkeiten eines Baumaterials in der Evolution der Architektur zu bestimmen und zu deuten, ist die Spurensuche nach den theoretischen Ursprüngen sowie das Erkennen und Messen der Grenzen einer Übersetzbarkeit des Zeichnens ins Bauen eine zwingende Notwendigkeit.
Obwohl Beton als Baustoff seit Jahrtausenden bekannt ist, hat die Erfindung des Stahlbetons erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts völlig neue Raumvorstellungen und daraus folgende, bisher unbekannte Konstruktionsmethoden ermöglicht. Und vor allem eine neue Dimension der Plastizität in der Formensprache der Architektur eröffnet. Den bewehrten Beton erfunden und patentiert hatte der Pariser Gärtner Joseph Monier, der zuerst große Töpfe in Beton mit Stahlgittern armierte und gleichzeitig Betonkonstruktionen für Straßen und Brücken prophezeite.
Doch es waren die visionären Konstrukteure einer neuen Zeit, welche die bisher bekannten Grenzen räumlicher Vorstellung und kon-struktiver Maßstäbe in Frage stellten, um radikal neue Lösungen zu finden: François Hennebique, die Brüder August, Gustave und Claude Perret, Robert Maillart, Piere Luigi Nervi, Félix Candela und Le Corbusier. Während Nervi und Candela mit dem neuen Material monumentale Spannweiten bewältigten, war es Le Corbusier, der mit der Erfingung des „beton brut“ eine neue Plastizität in der Architektur erreichte. Es ist genau diese Plastizität, die mich inspiriert und die sich in meiner eigenen Arbeit manifestiert.
Für mich ist die Zeichnung der essentielle Ursprung und Fundament meiner architektonischen Vorstellungen und formalen Manifestationen, kein Idiom einer Sprache, sondern die Sprache selber. Die Zeichnung muss autonom sein und muss latent in der Übersetzbarkeit zur gebauten Realität bleiben. Zeichnen heisst, einen Körper mit einer Idee zu durchschneiden, um dessen Equilibrium zu verletzen. Zeichnen heißt, die Welt durch Zeichen zu vermessen, um die Abwesenheit der Augen zu orten.
In dieser Konfrontation zweier paralleler Welten von geometrischer Idealsprache und pragmatischer Materialität, inspirieren und definieren die räumlichen Vorstellungen und geometrischen Konstellationen des Entwurfs die Wahl der Konstruktionsmethoden sowie die Auswahl der Baustoffe.
Alle Konstruktionsmethoden grenzen sich grundsätzlich in zwei Bereiche ab: den Schalenbau und den Skelettbau. Obwohl im Skelettbau der Beton die traditionellen Materialien Holz und Stahl immer häufiger zu ersetzen versucht, liegt das Potential des armierten Betons darin, komplexe architektonische Formen plastisch umzusetzen. Die griechischen Bildhauer der Antike verwendeten negative Abdrücke von verkleinerten Körpern als Modelle für ihre Skulpturen. So begrenzt und bestimmt die Schalung einen Hohlraum, in den der Beton fließt und in dessen Form er erstarrt. In dieser Definition eines Hohlraumes und nicht eines Körpers ist die Schalung der Zeichnung am nächsten. Linien sind die Vorahnung von Kanten, Flächen von Oberflächen, verborgen im Hohlraum der Schalung, sichtbar und haptisch im gegossenen, erstarrten Beton. Zu Stein gewordene Architektur.
Raimund Abraham (*1933), Dipl.-Ing. Technische Universität Graz. Lebt und arbeitet seit 1964 in den USA. Prof. em. Cooper Union New York, Architekt des Austrian Cultural Forums NY u. v. a. m. Zahlreiche Ehrungen und Preise, darunter den Steinernen Löwen (Architekturbiennale Venedig), Großer Preis für Architektur der Stadt Wien, Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien.
Zum Thema: Mehr Informationen im Online-Lexikon „Baunetz Wissen Beton“: Objektberichte, Termine, News und Fachwissen rund um den Baustoff – von der Herstellung über die Schalung bis zur Oberflächengestaltung (www.baunetzwissen.de/Beton).