Die Leichtigkeit des Seins
Wilkinson Eyre, London


Optimismus und fast grenzenloses Vertrauen in die Fähigkeiten von Menschen prägen das Werk des britischen Architekturbüros Wilkinson Eyre and Partners. Ihr Credo: „Bauen dient vor allem dem Schutz des Menschen. Architektur hat uns weiter zu tragen.“

Was auf den ersten Blick wie eine Einschränkung anmuten könnte, ist weit entfernt Architektur auf wenige Bauaufgaben beschränken zu wollen. So überspannt ihr Werk nicht nur Gebäude, sondern auch die Gestaltung von Infrastruktur, von Brücken vor allem, aber auch von anderen Räumen. Wofür sie 2001 und 2002 den Stirling-Prize, den bedeutendsten Architekturpreis Großbritanniens erhielten, was viel später, 2010 und 2011 nur noch Zaha Hadid gelang. Sehr ungewöhnlich erhielten Wilkinson Eyre den Preis nicht für zwei neue Gebäude, sondern für den Umbau eines Stahlwerks und eine Fußgängerbrücke.

Mit dem Stratford Market Depot für die Londoner Jubilee Line machten sie 1996 erstmals auf sich aufmerksam. Ihre Supershed-Konstruktion in Form eines gewaltigen Parallelogramms von 100 auf 190 m schuf der Wartung der Züge nicht nur einen beeindruckend weit überspannten Raum, sondern auch einen Körper, der die Dynamik seines Ortes entlang vieler geschlängelten Gleisstränge zu einem attraktiven Fokus verdichtete. Funktion und Kontext, die zwei Leitkriterien von Wilkinson Eyre verbanden sich in Stratford erstmals zu einem weit sichtbaren Wahrzeichen neuer Mobilität im Königreich. Noch während des Baus des Bahndepots ­gewannen sie 1994 den Wettbewerb zum nahen Regionalbahnhof Stratford, der 1999 fertig gestellt, ein markantes Ensemble neuer Bahnbauten entstehen ließ. Ausgangspunkt hier war die Verbindung zweier Verkehrsebenen, der Stadt und der Bahn, die erneut mit einem Supershed gelöst wurde, das ähnlich einer Hand sanft ansteigt und ausgreift. Vom Tageslicht durchflutet und klar organisiert fällt hier die Orientierung nicht schwer, was besonders diesen Sommer die Besucher der Olympiade schätzen werden, die hier ihre Transportmittel wechseln werden.

1994 war das Jahr der 1987 gegrün­deten Partnerschaft, die zuvor nur Temporäres und Innenarchitektur verwirklichen konnte. So ­erhielten sie 1994 auch den Auftrag zum Bau des Hauptsitzes des Unternehmens Dyson in Chippenham und zur South Quay Footbridge in London, die ­ihren Ruf als elegante Konstrukteure leichter Stahltragwerke und Supersheds festigten. Dabei hatte Chris Wilkinson, 1945 geboren, bereits zuvor in den Büros von Lasdun, Foster, Rogers und Hopkins viele Erfahrungen gesammelt. An Fosters industriellen Projekten arbeitete er in den Siebzigern mit und nicht zuletzt am Hauptsitz von Lloyds (1978-86) unter Richard Rogers, wo der Absolvent der Regent Street Polytechnic School of Architecture – heute SABE -, an der auch Ian Ritchie studierte, sein konstruktives Können einbringen konnte.

Bei Michael Hopkins lernte er den gut ein Jahrzehnt jüngeren Jim Eyre kennen, mit dem er nach vier Jahren Selbständigkeit 1987 eine Partnerschaft gründete. Mit dem waschechten Liverpudlian Jim Eyre, der zuvor in seiner Heimatstadt und an der Architectural Association in London studiert hatte, teilt Wilkinson seitdem ein sehr strukturelles Interesse für Geometrien, ­Kurven, Leichtigkeit und neuen Techniken.

„More is Less“, wie es Buckminister Fuller sehr provokant ausdrückte, gilt ihnen als ein Ziel, wenngleich ihre Vorbilder sich deutlich unterscheiden. Mies van der Rohe ist Wilkinsons klarer Favorit, während Eyre die weniger rationalistischen als skulpturalen Architekten Le Corbusier und Renzo Piano als Maßstäbe nennt. Doch ihre architektonischen Mittel sind ganz eigene. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Zugstrukturen leichter als Druckstrukturen sind, bevorzugen sie zumeist leichte Tragwerke, die ihnen ein Maximum an räumlichen Freiheiten eröffnen. Parabolische Kurven spielen dabei eine zentrale ­Rolle in ihrem Werk, die ihnen elegante Konstruktionen mit größter Effizienz ermöglichen.

Auf zwei parabolischen Bögen beruht auch ihr mehrfach preisgekröntes Projekt der Gateshead Millenium Bridge im Norden Englands, mit dem sie 2001 international bekannt wurden. Dort interpretierten sie über dem Fluss Tyne das Konzept einer Drehbrücke völlig neu, indem sie beide 126 m langen Bögen V-förmig miteinander verbanden, ­einen Bogen als Fahrbahn, einen als Träger definierten, zwischen denen nur wenige Zugseile gespannt sind. Eine rotierende Skulptur à la Naum Gabo ging daraus hervor, ein neues Wahrzeichen für die Doppelstadt Gateshead und Newcastle upon Tyne. Was jenseits seiner markanten Form nicht zuletzt den vielen wohl überlegten Details der Ausführung zu verdanken ist. So liegt etwa die Bahn der Fußgänger klug durchdacht um 30 cm höher als die Fahrbahn der Radfahrer.

Die Gateshead Millenium Bridge ist nur eine unter vielen Brücken, die Wilkinson Eyre in Großbritannien, Irland, China und den Niederlanden gebaut haben. Brücken sehr unterschiedlicher Größen und Funk­tio­nen, die jedoch fast immer die Gerade als kürzeste Verbindung zu vermeiden suchen. Als ­topographische Wege konzipiert und ­weniger als technische Konstruktionen ­wollen ihre Brücken vor allem als Räume erfahren werden. Dabei können sich die Masten und Zugkabel ihrer Brücken wie im Falle der Media City Fußgängerbrücke in Salford (2011) immer wieder zu poetischen Zeichen wie etwa Segeln oder Flügeln verwandeln.

Ambivalent im bestem Sinne sind viele ihrer Brücken, die oft auch eine Geschichte zu erzählen versuchen. Die beiden widerstrebenden Arme der Peace Brücke in Derry (2011) im ehemals bürgerkriegsgeschüttelten Nordirland können etwa als Zeichen neuer Einheit in der Unterschiedlichkeit gelesen werden. Oder bei der Living Bridge für Limerick (Projekt 2008) wird man an die Reimform der Limmericks erinnert. Die kleine Verbindungsbrücke der Royal Ballet School mit der Royal Opera (2003) über der Floral Street in London, ist gewiss eine ihrer schönsten kleinen Brücken, deren 23 Stahlrahmen zu rotieren, ja zu tanzen scheinen.

Nicht wenige Gebäude von Wilkinson Eyre bauen auf den Erfahrungen auf, die sie zuvor bei ihren Brücken erwarben. So finden sich an ihrem Alpine House in den botanischen Anlagen von Kew Gardens (2005) wieder zwei parabolische Stahlträger ein, an denen eine leichte Structural Glazing-Fassade abgehängt wurde. Wie ein ­futuristisches Gürteltier wirkt das Haus für alpine Pflanzen, das souverän Gegensätze zu vereinen wusste. Maximales Tageslicht und ein möglichst kühles Klima konnten hier mit einem transparenten Gebäude erreicht werden, indem man unter dem Haus ein System von Erdkanälen zur Kühlung der Luft anlegte. Die unsichtbare Technologie schuf ein atmosphärisches Wunderwerk, ein „Friendly Alien“ im Park.

„Friendly Aliens“ implantierten Chris Wilkinson und Jim Eyre auch in das alte Stahlwerk von Rotherham (2001). Vier in Form, Material und Farbe sehr unterschiedliche Pavillon-Körper, die Erde, Wasser, Feuer und Luft sehr metaphorisch zum Ausdruck bringen: Eine mattschwarze Box für das Feuer, eine Stahlwelle blauen Lichts für das Wasser oder einen futuristischen Ballon für die Luft. Sehr unterschiedlich in der fast 400 m langen und 35 m hohen Stahlhalle positioniert und teilweise über neue Brücken mit dem Altbestand eng verzahnt, schufen sie Großbritanniens erstes Wissenschaftserlebnis-Museum. Im Ursprungsland der Industrialisierung, wo die meisten alten Industrieanlagen bedenkenlos beseitigt wurden, entwickelte sich zugleich ihr Science Center zu einem mächtigen Zeichen für einen Wandel im Verhältnis der Briten zu diesem Teil ihres baulichen Erbes.

Als Brückenbauer zwischen Vergangenheit und Zukunft verstehen sich beide Architekten dezidiert, die gleichermaßen über Städte der Renaissance wie über HighTech-Konstruktionen zu sprechen verstehen – oft sehr reflektiert, aber nie vordergründig sensationell.  So beteiligten sie sich auch 2003 an der Crystal Palace Park Campaign, den zerstörten Kristallpalast Paxtons in neuer Form wieder auf zu bauen. Ihr preisgekröntes Projekt sollte sich jedoch mit seiner weit sichtbaren kristallinen Struktur über den Baumkronen erstrecken.

Ungebaut wird der Kristallpalast bleiben, gebaut wird dafür nun die New Bodleian Library in Oxford. Das Meisterwerk Gilbert Scotts gegenüber Hawksmoors Clarendon Building und Wrens Sheldonian Theatre im Herzen Oxfords wird sich in seinem Äußeren kaum verändern. Nur sein Erdgeschoss wird transparent nach Außen geöffnet werden, während hingegen deutliche Schnitte durch das Haus viel Tageslicht tief in sein Inneres bringen werden, um dort eine einladende weite Piazza der Kommunikation entstehen zu lassen. Ein neues Raumgefüge wird entstehen, in dem aber das Alte respektvoll eingelagert sein wird, wo etwa sich Magazinbereiche in neue Lesesäle verwandeln werden. Lichtfülle, Durchlässigkeit und nicht zuletzt ein sehr luzides Spiel mit Kräften und Raumfolgen verbinden durchaus die beiden so unterschiedlichen Projekte.

Intro- und Extroversion kennzeichnen das Mary Rose Museum in Portsmouth, das Ende dieses Jahres eröffnet werden wird. In seinem Inneren wird es das Flagschiff Heinrichs VIII lichtgeschützt aufnehmen, während seine Gestalt ähnlich eines Kiesels, eines Schiffs oder auch Wals den Hafen Portsmouth um eine Attraktion bereichern wird. Als Museum, aber auch als Aussichtspunkt bietet sich das Haus an, das Tages- und Kunstlichtbereiche geschickt miteinander verknüpft. Seine szenographischen und narrativen Qualitäten erklären, warum sich Wilkinson Eyre so erfolgreich für gehobene Kulturprojekte empfehlen. Vom Victoria Albert Museum bis hin zu mehreren neuen Museen in den Hafenstädten Englands und dem jüngsten Projekt, dem Battle Britain Memorial-Centre des RAF Museum in Hendon erweisen sie sich immer wieder als moderate Modernisten, die Form und Inhalt in Deckung bringen, die sensibel auf den Kontext bezogen ihre Modernität abzustimmen verstehen. Weniger an „Icons“ als an Räumen interessiert liefern sie jedoch selten ein sensationelles Bild.

Sensationell werden die beiden gläsernen Gewächshäuser in Form von Muschelschalen der Singapur Gardens sein, die kurz vor ihrer Fertigstellung stehen. Mit den Landschaftsarchitekten von Grants Associates entwickelten sie in Singapur einen Botanischen Garten des 21.Jahrhunderts – futuristisch, zauberhaft narrativ und nachhaltig. Dort finden sich denn auch erneut Parabolbögen als Tragwerke ein, die eine Fläche von 16.500 m² überspannen werden. Eine hybride mobile Konstruktion soll für eine effiziente Verschattung, Kühlung und Photovoltaik sorgen, deren besonders markantes Teil die „Supertrees“ sein werden, artifizielle Baumtürme, die als quasi „natürliche“ Kühltürme fungieren sollen. Traumhaft in einer Bucht gelegen, sollen ihre Besucher nicht zuletzt ein anderes Verhältnis zur Natur und zu nachhaltigen Technologien gewinnen.

Der Entwicklung des „Stainless Steel“ verdanken sie einen Teil ihres Erfolgs, wie Chris Wilkinson heute nachdenklich anmerkt, der in den Neunzigern neue Konstruktionen ermöglichte, die sie zu nutzen verstanden. Ein ähnlich neues relevantes Material zeichnet sich für ihn derzeit nicht ab. Und durchaus kritisch beurteilt sein Partner Chris Eyre in Großbritannien das so genannte Ecobling, die ökologische Verbrämung gar nicht so nachhaltiger Materialien und Technologien. Mehr wäre möglich, wenn sie nach Deutschland oder die Schweiz blicken. Gerade das Singapur-Projekt zeige, welche Energieeffizienz heute Gebäude erreichen können. Umso mehr freut es sie, dass sie nun auf dem Londoner Royal Victoria Dock für Siemens ein Urban Sustainability Centre bauen werden, das dem Unternehmen als Laboratorium und Schaufenster dienen soll. Neben der Kombination vieler Technologien soll ihr ausgreifender Kristall am Wasser u.a. mit seinen vielen Facetten unterschiedliche transparente, transluzente und reflexive Oberflächen aufweisen, die einerseits unterschiedliche Grade von Durchlässigkeit ermöglichen und andererseits der Energiegewinnung dienen sollen.

Während sie in den letzten Jahren zahlreiche Universitätsbauten in Großbritannien verwirklichen konnten, hatten sie mit ihren städtebaulichen Projekten für Kairo, St. Peterburg oder London kein Glück. Ihr Ideal eines sozialen Raums sehen sie vor allem in ihrer John Madejski Academy in Reading (2007) verwirklicht, ein komplexer, keilförmiger Cluster um eine gekurvte zentrale Agora als Klimapuffer und Herz der Schule, der sich visuell nur schwer vermitteln lässt und nur vor Ort erfahren werden kann. In Vielem nimmt diese Schule viele Ideen ihrer Regierungsstudie „Schools for the Future“ (2003) auf, die aufgrund politischer Wechsel und der Finanzkrise ohne Folgen blieb.

Seltsamerweise fehlt allein die Aufgabe Wohnungsbau in ihrem Werk. Als Grund nennt Chris Wilkinson, dass in Großbritannien Innovationen in diesem Bereich kaum möglich seien. Gerade in China fanden sie Bauherren, die ihrer Partnerschaft eine völlig neue Bauaufgabe erschlossen. In Guangzhou, der drittgrößten Stadt Chinas bauten sie 2010 ihr erstes Hochhaus, das mit 440 m Renzo Pianos Londoner Shar-Building um 122 m übertrifft. Entgegen vieler Projekte in China wurde ihr Konzept unverändert in höchster Qualität verwirklicht, was allein schon erstaunlich genug wäre. Doch ihr International Finance Centre, ihr ­dynamischer Dreikant ist auch konzeptionell wie konstruktiv erstaunlich. Der multifunktional genutzte Turm mit Büros, Wohnungen, einem Konferenzzentrum und Hotel ist eine Landmark und ein Hochhaus mit wirklich ­urbaner Basis, einem öffentlichen Platz und Atrium. Wozu sie mit Arup eine außenliegende Tragstruktur entwickelten, die es im Inneren ein höchst faszinierendes 400 m ­hohes Atrium möglich machte, dessen Leichtigkeit und Lichtfülle einmalig sein dürfte.

Eine andere Art von Landmark steht nun in London vor seiner Fertigstellung, ein ­Cable Car, eine Seilbahn über die Themse. Über 1,1 Kilometer wird sie Greenwich mit den Royal Victoria Docks verbinden. Mit ihren futuristischen Kapseln und grazilen Ausführung hat sie, die nun den Namen Emirates Air Line trägt, das Zeug zu einem neuen Stadtwahrzeichen, das man gewiss während der Olympiade bewundern wird. Und auch auf dem Olympischen Gelände dürfte auch ihre temporäre, völlig demontierbare Olympic Basketball Arena auffallen, ein Low-Budget-Projekt mit einer sehr plastischen Haut und hellem Innenleben.

Erstaunliches konstruktives Können demonstrieren immer wieder Wilkinson Eyres Projekte, die gerade auch verblüffen, wie souverän sie den Wechsel von kleinen zu großen Projekten beherrschen. Weshalb ein kleines Projekt, ein Maggie Centre zur Betreuung von Krebspatienten und ihren Angehörigen in Oxford im Büro viel Beachtung findet, wo die Architekten erstmals mit Holz arbeiten werden. Dass sie in Deutschland immer noch wenig bekannt sind, ist ein Rätsel. 2010 wurden sie erstmals zu einem Wettbewerb nach Deutschland eingeladen, den sie sogleich gewannen. In der HafenCity Hamburg werden sie die 130 m lange Baakenhafen Westbrücke – eine Gerade! – bauen, durchaus schwungvoll, aber erstaunlich anders und skulpturaler als ihrer britischen Brücken, wofür wohl die deutschen Bauvorschriften und Skepsis gegenüber dem Material Stahl verantwortlich sein dürften. Mehr ihrer faszinierenden Leichtigkeit, ihrer Synthesen von Raum und Konstruktion würde man sich für Deutschland wünschen wollen – mehr Mut zur Narra­tion und Poesie vor allem bei allen Bauten der Infrastruktur. Claus Käpplinger, Berlin

Chris Wilkinson

Chris Wilkinson gründete das Büro 1983 um neue Richtungen in der Architektur zu erforschen. Gemeinsam mit Jim Eyre hat er es zu einem der führenden Kräfte in Architektur und Design gemacht. Sein Ansatz besteht darin, dass er kreative, innovative Konzeptionen und technische Details gleichberechtigt nebeneinander stellt und verbindet.  


Jim Eyre

Jim Eyre wurde 1987 Partner von Clive Wilkinson und hat seitdem das Büro mit ihm aufgebaut. Er hat eine ansehnliche Anzahl von Projekten betreut. Sein Ansatz wird von einer ortsspezifischen Antwort geprägt, die von einem fundierten und intuitiven Standpunkt aus entwickelt wird. Er denkt, dass Architekten in besonderer Weise aufgestellt sind die Vorteile der neuen digitalen Technologien zu nutzen.

www.wilkinsoneyre.com

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