7,5 kg analoge Zeiten
Drei Dinge vorweg: Der Rezensent ist Haus-Rucker-Co-Fan, was es zu beachten gilt im Folgenden. Dann: Dieses 7,5 kg-Werk, wie die Architekten es selbst intern nennen, ist nicht gerade günstig. Aber drittens: Wer schnell kauft – und das ist wegen der Limitierung auf 500 Exemplare auch nötig – erhält bis Ende dieses Jahres den Subskriptionspreis: 340 €. Auch nicht wenig, aber … Es steht doch Weihnachten vor der Tür! Das waren die drei Dinge vorweg, jetzt ans Werk.
Zunächst einmal sind Publikationen wie diese – mehrbändig im Schuber – immer so etwas wie ein Catalogue raisonné, der wie im vorliegenden Fall nicht strengen wissenschaftlichen Editionsregeln folgt, sondern das raisonné zur raison verkürzt: Die Arbeit ist der Grund (im Fall einer solchen Arbeit von Architekten das Fundament), auf dem sich alles weitere aufbaut. Laurids und Manfred Ortner sehen das explizit genau so, der Blick in die aufregende, viele Avantgarde-Bewegungen bis heute beeinflussende, sehr bewegte Vergangenheit soll das Heutige klären, erklären helfen.
Gut 1 000 Seiten in fünf Bänden, die das Haus-Rucker-Universum abbilden. Mit hervorragend reproduzierenden Fotografien von Zeichnungen, Plänen und Modellen (hier lieber „Skulpturen“ genannt) und einigen wenigen Fotos aus der Zeit, die einer Bewegung eine Dynamik verliehen hat, die in dieser Form wohl nur in Wien ihren Anfang hat nehmen können.
Damit bieten die fünf in seidiges Textil gekleideten Bände („Das Werk von Haus-Rucker-Co scheint wie eingehüllt in einen seidigen Kokon …“ O & O im knappen Vorwort) eine visuelle Schau, die wie das Öffnen von Archivschubladen ist, in denen man immer wieder Dinge findet, die man zu kennen glaubt, die man noch nicht so kannte und die man hier überrascht entdecken darf. Weiße Handschuhe sind beim Blättern glücklicherweise nicht nötig, denn auch wenn man das Originale anzuschauen meint, sind es immer doch nur die Reproduktionen des schon Artefaktischen aus der jüngeren Architekturgeschichte.
Tatsächlich bieten die Bücher weniger eine textliche Aufarbeitung des Archivmaterial seienden Bestandes, der sich als das bis heute nicht zugängliche Archiv von Haus-Rucker-Co dem neugierig Blickenden öffnet. Und ein wenig irritiert es schon, wenn die Architekten gleich im Vorwort darauf verweisen, dass man diese Arbeit als Parallelwerk zu dem 1983 erschienen Katalog „Haus-Rucker-Co 1967 – 83“ sehen soll (oder umgekehrt), der damals eine erste große Haus-Rucker-Co-Ausstellung im noch jungen Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt a. M. begleitete. Und um das Ganze auf den Punkt zu bringen, erlauben sich die Herausgeber, jedem Kapitel einen Text voranzustellen, der aus diesem Katalog von vor 35 Jahren übernommen wurde. Als Faksimile (klein, aber lesbar) und zugleich in englischer Übersetzung! Ist das frech oder einfach nur stimmig? Nichts „von ihrer Frische verloren“ hätten die Texte, doch die Forschung ist vorangeschritten, der Blick auf die Bedeutung und die Position von Haus-Rucker-Co im Architekturdiskurs ist heute natürlich ein anderer. Sollen damit der Mythos gefestigt und alle Fragen abschließend beantwortet sein?
Eher nicht, denn die Schau in die Vergangenheit dient den Architekten auch als ein Reflex auf das Gegenwärtige, das, und hier wird es schwierig, noch immer an Treppen, Pyramiden, Kunststoffblasen, an finstren Türmen und schrägfliegenden Plateaus hängen soll. Haus-Rucker-Co, die nicht nur aus den beiden Brüdern Ortner bestehende Cooperative – Günter Zamp Kelp wäre hier zu nennen, aber auch der Maler Klaus Pinter – hatte doch wie ein anderes, heute längst nicht mehr brennendes Wiener Büro, Visionen, die weit über städtebauliche oder architektonische Versuche für eine gestaltete Zukunft hinauswiesen: Mind Expander – MEP, Atemzonen, Charger, Environment Transformer, Viewatomizer and Drizzler … Hier ging es um Veränderung der Gesellschaft mittels künstlerischen, architektonischen und futurologischen Werkzeugen und Prozessen. Dass Ortner & Ortner Baukunst (!) heute noch hervorragende Architekturen machen, das ist (wohl) unbestritten. Dass sie Avantgarde seien, darf bezweifelt werden. Und sie stellen sich auch nicht als Avantgardisten aus, „Baukunst“ ist möglicherweise das Ziel, das die Avantgarde der Architekten anstrebt und vielleicht auch erreicht.
So schauen wir auf die „Erfindungen“, schauen auf in Bilder und Figuren gefasste Gedanken zu Stadtraum und Kunst, zu Mobilität und Bewusstseins-(Sinnes)erweiterung. Diese Bilder, Zeichnungen, Montagen und Skupturen wiederum haben es allerdings verdient, hier in diesen Bänden beinahe ganz für sich zu stehen. Bei der „Baukunst“ angekommen, öffnen die Architekten uns Neugierigen den Blick auf ihre Geschichte und setzen sich damit auch Fragen aus. Fragen nach den Mechanismen des Architekturmarktes, der, wie ja in vielen anderen gesellschaften Bereichen auch, nur den wenigsten bis zum Schluss alle Freiheiten lässt. Die meisten schleifen sich und ihre Ideale, ihre Träume und festen Vorsätze wie in einem zweiten Erwachsenwerden glatter, sie werden marktgängiger, normengerechter und verlässlicher in der Budgetierung.
Ganz sicher aber muss ein Blick zurück in solche Gedanken- und Bilderwelten, in Zeiten großer Ausstellungsbeteiligungen und die Freiräume des Denkens generell eine innere Kraft herstellen, die es erlaubt, immer wieder den Geist zu öffnen und entgegen aller Vernunft das Schräge zuzulassen im Bauen, das Einfache, Selbstverständliche, aber auch diese wienerisch hintergründig witzige Melancholie. Wer für Weihnachten noch nichts hat: Hier kann man fündig werden. Und in den Feiertagen abtauchen in diese ganz eigene Bilder- und Erzählwelt aus einer Zeit, in die erst so gerade eben ein leiser Zweifel am Zukünftigen eingedrungen war: Saturiertheit, anything goes, Ragnarök … Das waren wunderbar analoge und damit vergangene Zeiten, die in dem 7,5 kg Werk ihren äußerst passenden Rahmen gefunden haben. Be. K.
Haus-Rucker-Co: Drawings and Objects 1969-1989. In fünf Bänden im Schuber: Vol. I: To new space. Return to depot / Vol. II: Construction of the second nature / Vol. III. Urban Tool. Marrking of town fields / Vol. IV: Transformer. Rebuilding the city / Vol. V: Departure from home. Hrsg. v. Laurids Ortner & Manfred Ortner. Walther König, Köln 2019, insg. 1 008 S., 820 Farb- und sw-Abb.
390 €, ISBN 978-3-96098555-6, Subskriptions-Preis bis 31.12.2019: 340 €