Askese in Sichtbeton
Neubau Pfarrhaus und Mensa St. Stephan, Mainz

Hinter der Pfarrkirche St. Stephan in Mainz bauten AV1 Architekten ein neues Pfarrhaus und eine Mensa. Die beiden monolithischen Betonbauten strahlen eine fast klösterliche Ruhe und Kraft aus. Trotz der Enge im Block-
inneren gelangen überraschende Raumfolgen, Sichtbezüge und Höhenversätze.

Die katholische Pfarrkirche Sankt Stephan gilt, neben dem Mainzer Dom, als bedeutendste Kirche in Mainz. Die dreischiffige gotische Hallenkirche ist besonders wegen ihrer Chorfenster bekannt, die ab 1978 von Marc Chagall gestaltet wurden und in leuchtenden Blautönen biblische Ereignisse darstellen. Hinter der Kirche, versteckt durch die Blockränder der benachbarten Nachkriegsbauten, stößt man seit 2011 auf zwei architektonische Schmuckstücke: das neue Pfarrhaus und die Mensa des benachbarten Williges-Gymnasiums. Mit ihrer streng reduzierten Form verbreiten die beiden monolithischen Betonbauten eine fast klösterliche Ruhe und Kraft.

Die Gemeinderäume der Pfarrei sind in einem 2-geschossigen Satteldachhaus untergebracht. Ein L-förmiger Flachbau nimmt die Mensa mit 120 Plätzen sowie vier Klassenzimmer auf. Der zusätzliche Raumbedarf wurde nötig, da das bischöfliche Jungengymnasium als erstes Gymnasium in Rheinland-Pfalz auf Ganztagsbetrieb und eine auf acht Jahre verkürzte Schulzeit umstellte.

Die Neubauten docken direkt an den gotischen Kreuzgang der Pfarrkirche an. Außerdem begrenzt die so genannte „Immunitätsmauer“ das Grundstück, eine mehrfach abknickende Bruchsteinmauer, die das Stift, das bis 1792 hier stand, einfriedete. Das Kaiserslauterner Büro AV1 Architekten löste die enge Situation im Blockinnern geschickt auf, indem es das Gelände abtreppte, Innenhöfe, Durchgänge und Sichtachsen schuf. Ein haushohes Foyer verbindet die beiden Neubauten, die im Nordosten über einen Treppenaufgang, im Süd­westen über einen Anlieferhof erschlossen werden.

Ein Haus aus Sichtbeton

Das neue Pfarrhaus könnte einfacher, überschaubarer und vertrauter kaum wirken: ein rechteckiger Grundriss, darauf vier Wände und ein Satteldach, das Ganze komplett aus Sichtbeton. Ein „Haus vom Nikolaus“, mit einem Strich zu zeichnen, ohne Erker, Rinnen oder Dach-überstände. „Form und Material sollen einen klaren Kontrast zur
Kirche setzen“, sagt Architekt und Bauleiter Jürgen Butz. Die arche-

typische Form orientiert sich an der Kubatur des ehemaligen Küsterhauses, das an gleicher Stelle stand und im 2. Weltkrieg zerbombt wurde. An den Vorgängerbau erinnern noch ein paar Mauerreste, die in die Fassade des Neubaus integriert wurden. Um die alten Bruchsteinmauern nicht zu belasten, kragt die Betonvorsatzschale aus und stülpt sich wie ein Schutzbau über die Ruine. Das Gewicht lastet auf einer tragenden Innenwand.

Die schmalen, geschosshohen Fenster des Pfarrhauses wirken wie mit dem Cutter ausgestanzt: Die Lüftungsflügel sitzen tief in den Laibungen, während die Festverglasung außen bündig abschließt. Dieses Wechselspiel belebt die ruhige, glatte Fassade, auf der sich sonst nur das Fugenraster und die Ankerlöcher der Schalung abzeichnen.

Das Foyer: Lichtfuge und Zwischenraum

Das 2-geschossige Foyer läuft als „Lichtfuge“ entlang der Außenwand des Kreuzgangs und bildet die Nahtstelle zwischen Neubau und Bestand. Streckmetallgitter aus Cortenstahl verkleiden die historischen Mauern. Hinter dem rostroten Vorhang wurde die Kreuzgangwand gedämmt und eine Dampfsperre aufgebracht, um Wärmeverlusten und Problemen mit Schwitzwasser vorzubeugen. Das Foyer dient als überdachter Pausenhof und Verteiler, über den man im Erdgeschoss die Mensa erreicht. Ein einläufiger Flur, der entlang der schräg gegenüberliegenden, ebenfalls mit Streck­metall verkleideten Kreuzgangwand verläuft, erschließt die Gemeinderäume.

Über ein skulpturales Treppenhaus gelangt man nach oben: Decken, Böden und Wände sind komplett aus Beton, selbst der Fahrstuhlkern und die dreiläufige Treppe. Ein beidseitig verglaster Gang führt hinüber zu den vier Klassenzimmern, die um ein zentrales Lehrerzimmer gruppiert sind.

Warme Holzoberflächen und Sichtbetondecken prägen die Flure. Die Türblätter und -rahmen aus Eichenfurnier bilden einen schönen Kontrast zu den rahmenlosen Glasflächen und den glatten, weiß gespachtelten Wänden. Durch schmale, außen bündig in der Fassade sitzende Glasbänder schauen die Schüler in einen intimen Innenhof, den der L-förmige Klassentrakt umschließt. Den Blick rahmen Fensterlaibungen aus massiver Eiche, auf denen sie sich bequem abstützen können.

Sichtachsen und Durchblicke verbinden Innen- und Außenräume, Geschosse und Gebäudeteile visuell miteinander. Die Mensa ist zu beiden Längsseiten raumhoch verglast: Nach Nordosten blickt man auf die restaurierte Immunitätsmauer, die das Grundstück begrenzt und die enge Blockrandbebauung ausblendet. Im Südwesten schließt sich ein abgetreppter Innenhof an. Schultrakt und Mensa wurden gegenüber dem Höhenniveau der Kirche etwa 2 m abgesenkt,
damit der Neubau vom Innenraum des Kreuzgangs aus nicht sichtbar ist. Den
Niveausprung überbrücken breite Sitzstufen aus Betonfertigteilen. Wie von einer Tribüne aus blicken die Schüler auf eine alte Kastanie, die aus einem Holzdeck wächst.

Pionierarbeit in Sichtbeton
Betonbauten sind in gewisser Weise der Fotografie ähnlich: Auf ihrer Oberfläche prägen sich dauerhaft die Spuren ihrer Entstehung ein. Fallen die Schaltafeln, muss der Beton makellos sein. Um perfekte Sichtbetonoberflächen ohne Verfärbungen, Rost- und Schmutzflecken zu erhalten, mussten die Schaltafeln penibel mit einem Dampfstrahler gesäubert werden und frei von Betonüberresten, Röteldrähten und Bleistiftmarkierungen sein. Der Anteil der offenen Poren durfte nicht über 0,1 % liegen. Einzig beim Satteldach ließ sich ein höherer Anteil an Luftbläschen nicht vermeiden, da die Luft in der schrägen Schalung nicht so schnell entweichen kann.
Die Schalung wurde innen wie außen exakt auf das geplante Fugenbild abgestimmt: An den Schalplänen zeichnete die Betonbaufirma zwei Monate. Selbst die Fenster fügen sich präzise in das Fugenraster, das die 1 x  3,2 m hohen Schaltafeln zurückließen. Die Betonfassade besteht aus zwei Hüllen: einer 20 cm dicken, tragenden Sichtbetonwand innen und einer 16 cm dicken Vorsatzschale, beide in Ortbeton, dazwischen 14 cm Kerndämmung. Für das 30  Grad geneigte Satteldach gab es nur wenige vergleichbare Dachkonstruktionen als Vorbild. Als innere Tragschicht wurden Elementdecken verwendet, die samt Bewehrung und Gitterträgern angeliefert und mit Aufbeton zu einem 20 cm dicken Stahlbetonfertigteil vergossen wurden. Darauf kam eine mit Heißbitumen verklebte Dämmung aus Foamglas. Die Außenschale besteht aus 25 cm WU-Beton. Das Dach wurde in Abschnitten von etwa 3 m eingeschalt, dann der Ortbeton aufgeschüttet und per Hand sowie per Besenstrich geglättet. Dehnungsbänder an den Anschlüssen zu den Außenwänden gleichen Bewegungen des Materials durch starke Temperaturunterschiede aus. Eine Dachrinne gibt es nicht, nur eine schmale Tropfkante aus Aluminium. Stattdessen schützt eine Hydrophobierung den Sichtbeton vor Schmutz oder Auswaschungen durch Regen. Der Wasserfilm fließt an der Fassade ab und wird über eine Rinne am Fußpunkt abgeleitet. Bis ins Detail zeigt das Haus monolithischen Charakter. Michael Brüggemann, Mainz
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