Aufstrebendes Fachwerk
Europäische Zentralbank, Frankfurt a. M.

Der Neubau der Europäischen Zentralbank in Frankfurt a. M. präsentiert sich als spektakuläres Gebäude. Die Konstruktion des verzwirbelten Doppelturms ist ebenso ungewöhnlich, wobei die Aussteifung einen prominenten Platz einnimmt.

Als „palliatives Design“ beschrieben Friedrich von Borries und Matthias Böttger schon von knapp zehn Jahren jene Architektur, die in „regressiven Zonen, in denen kein wirtschaftliches Wachstum absehbar ist, die aber aus kultureller Verbundenheit von den prosperierenden Zonen am Leben gehalten werden“, „schmerzlindernd“ wirken sollen. Es zeigt sich allerdings, dass gerade in ökonomisch prosperierenden Zonen das Be­dürfnis nach solcher Palliativ-Architektur besonders hoch ist. Denn Vergangenheitsbeschwörun­gen wie etwa Rekonstruktionen von histori­schen Gebäuden, findet man nicht in schrumpfen­den Regionen, in denen die Bürger eher nach Zeichen für einen Aufbruch suchen, sondern in wirtschaftlich erfolgreichen Städten, in denen Bewohner sich einem permanenten, bisweilen auch penetranten Wandel ihrer baulichen Umwelt ausgesetzt sehen. Frankfurt ist dafür ein exzellentes Beispiel: Inmitten von Hochhäusern wird eine neue Altstadt gebaut, inmitten von Beton, Glas und Stahl oder Aluminium erlebt das Fachwerk ein Comeback.

Auch im folgenden Beitrag geht es um das Thema Fachwerk, allerdings besteht es weder aus Holz, noch wurde es lange Jahre gelagert. Es ist viele Tonnen schwer, besteht aus Stahlträgern und ist (sichtbarer) Bestandteil einer Konstruktion, die dem wohl Mitte des Jahres 2014 fertiggestellten Neubau der Europäischen Zentralbank im Frankfurter Osten nicht nur zu einer formalen Eigenstän­digkeit, sondern auch in funktionaler und ökonomischer Hinsicht zu einem gelungenen Gebäude verhilft.

Dass das Gebäude spektakulär werden sollte, war den 71 renommierten Teilnehmern des im Jahr 2003 ausgelobten Architekturwettbewerbs klar. Die prominent besetzte Jury wählte dann auch den spektakulärsten Beitrag von allen: den Entwurf von Coop Himmelb(l)au, eine verzwirbeltes Doppelscheiben-Hochhaus, das zudem mit einem silbern schimmernden Modell und eine Reihe von fast hypnotisierenden Perspektiven präsentiert wurde. Von Anfang an mit im Entwurfsteam: die Tragwerksingenieure von Bollinger + Gromann.

Der Neubau ist nicht das Hochhaus allein. Es galt, die ehemalige Großmarkthalle – 250 m lang, 51 m breit und 23,5 m (an den Ecken 46 m) hoch – in den Entwurf sowohl inhaltlich als auch formal schlüssig zu integrieren. Eine Aufgabe, an der fast alle Wettbewerbsteilnehmer scheiterten, die teilweise Vorschläge einreichten, welche die denkmalgeschützte Substanz stark beschädigt hätten. Auch der Vorschlag von Coop Himmelb(l)au, einen heute „Eingangsbauwerk“ genannten Riegel schräg durch das Großbauwerk zu schlagen, war heftig umstritten. Vokabeln wie „durchbohrt“ und „aufgespießt“ fielen bei den Kritikern, schließlich einigte man sich mit der Denkmalbehörde, den Keil durch den Gebäudeteil zu treiben, der im Krieg beschädigt wurde. Ansonsten dient die Halle nun als Hülle: Funktionen wie Kantine, Konferenz- oder Ausstellungsräume wurden als Haus im Haus eingestellt – etwas verdreht, sodass der ursprünglich großartige Raumeindruck der Halle erhalten werden konnte. Wobei, nachdem der alte Keller entfernt und ein neuer eingebaut wurde, die ganzen Neubauten eigenständig gründen und sich die Halle frei darüber spannt. Ein sogenannter Loop, eine glasumhüllte Stahlbrücke, schafft die Verbindung zwischen Eingangsbauwerk und Hochhaus.

Frank Stepper, Professor für Experimentelles Entwerfen und Konstruieren in Kassel und Projektleiter für die EZB bei Coop Himmelb(l)au, beschreibt den Prozess dieses Entwurfs so: „Das Funktionsvolumen haben wir durchgeschnitten, nicht nur diagonal, sondern auch hyperbolisch gekrümmt. Dann haben wir eines dieser Teilvolumen umgedreht. Wir kehrten die Schnittflächen nach außen und die vormaligen Außenseiten nach innen.“ Bei der entstandenen Figur kann man von einer Fortentwicklung des berühmten Dreischeibenhauses in Düsseldorf sprechen, das Hentrich, Petschnigg & Partner in den 1950er-Jahren für Phoenix-Rheinrohr, später Thyssen, realisierten. Denn zwischen den beiden Volumen, also den beiden genau 26 m entfernten Hochhaus-Scheiben, spannt sich ein ursprünglich haushoher Raum, der als Atrium dient. Die dynamische Figur des Gebäudes, dessen Anmutung sich von beinahe jeder Perspektive, von beinahe jedem Standpunkt ändert, ist der Torsion geschuldet, die den hyperbolisch gekrümmten Schnittflächen entstammt. Im Atrium, das von Coop-Prinzipal Wolf D. Prix als „vertikale Stadt“ definiert wird, befinden sich nicht nur einladende Flächen zur informellen Kommunikation sowie ein Teil der Erschließung, sondern auch die aussteifenden Elemente des Tragwerks.

Wie fundamental das Tragwerk ein integraler Bestandteil des Entwurfs ist, lässt sich im Atrium am besten sehen. Denn das statische Konzept baut u. a. auf dem Erschliessungskonzept auf: Fünf Expressaufzüge, deren Konstruktion sich horizontal an auskragende Geschossdecken anschließt, rasen durch das Atrium. Sie halten nur an insgesamt vier Umsteigeplattformen. Dort angekommen, steigen die Mitarbeiter in jeweils fünf Einzelaufzüge pro Turm um, die sie dann in ihr gewünschtes Geschoss bringen. Die Vorzonen dieser Aufzüge sind aber nicht wie üblich in Richtung der Türme angeordnet, sondern bestehen aus Balkonen, die ins Atrium auskragen. Somit konnten die Stahlbetonkerne, die nun nicht viel mehr als Fluchttreppe, Installationsschächte und eben die Einzelaufzüge beherbergen, auf eine Tiefe von gerade 6 m reduziert werden. Da sie extensiv, also am zum Atrium gelegenen Rand angeordnet sind, konnten wertvolle Büroflächen am Fenster geschaffen werden. Die Kehrseite dieser Optimierung besteht darin, dass diese Kerne zu schmal für eine Aussteifung eines 180 m hohen Turms sind.

Ein Hochhausturm alleine wäre ohne Kopplung mit dem anderen Turm nicht in der Lage gewesen, die horizontale Beanspruchung aus der schrägen Geometrie des Gebäudes und den damit entstehenden Abtriebskräften sowie aus Wind aufzunehmen. Die Lösung, die Architekten und Tragwerksplaner entwickelten, hat die Bezeichnung „beachtlich“ mehr als verdient: Kerne, Umsteigeplattformen und als Addendum diagonale Streben werden zu einem räumlichen Fachwerk kombiniert, das die Verbindung der Türme und die Aussteifung übernimmt.

Die Ingenieure Bollinger + Grohmann haben mit Hochhaus-Konstruktionen jenseits des herkömmlichen Stützen-Decken-Tragwerks, das seine Stabilität vom Erschließungs­kern erhält, inzwischen große Erfahrung gesammelt. Im Frankfurter Opernturm (Entwurf: Christoph Mäckler) oder im Donau City Tower (Entwurf: Dominique Perrault), deren Kerne für eine Aussteifung nicht mehr ausreichten, haben die Ingenieure die Lasten über Out­rigger an der Fassade abgeleitet. Das Raumfachwerk für den Neubau der Europäischen Zentralbank ist nun ein weiterer Schritt. Die beiden Kerne bilden dabei Ober- und Untergurt, die stützenfreien Plattformen die Pfosten und die bis zu 100 t schweren und bis zu 25 m langen Streben die Diagonalen – einer auf den Kopf gestellten Fachwerkbrücke nicht unähnlich. Die Anordnung der Diagonalen war nicht ganz einfach, durften sie doch weder den Plattformen und Schnellaufzügen, noch den im Atrium frei gespannten Brücken, Stegen und Treppen in die Quere kommen. Zunächst wurde die Strebengeometrie parametrisch ermittelt. Nachdem aber wegen des Brandschutzes das Atrium durch die Umsteigeplattformen auf den Ebenen 14 und 26 in der Höhe gedrittelt werden musste, wurde für die endgültige Situierung der Streben noch einmal Hand angelegt. Die Diagonalen wie auch die Plattformen, die aus 95 cm dicken Stahlträgern und einer 20 cm dicken Betonplatte in Filigranbauweise bestehen, sind gevoutet. Durch diese Verjüngung an den Anschlüssen erhalten die zum Atrium gerichteten Büros mehr Licht und die Mitarbeiter auf Stegen und Balkons mehr Kopffreiheit.

Die Längsaussteifung in den Hochhaus-Scheiben erfolgt durch die Kerne, wobei in deren Bereich die Decken 65 cm dick sind. Der Lastabtrag in den Türmen wird durch ein auf den ersten Blick konventionelles System aus 30 cm dicken Stahlbetonflachdecken, die bei größeren Spannweiten nachträglich mit zusätzlichen Spanngliedern versehen wurden, und Stahlbetonstützen gewährleistet. Die Geschossdecken liegen auf einem umlaufenden Randunterzug auf, der über Konsolen an die Stützen angeschlossen wird. Aufgrund der Gebäudegeometrie mit geneigten Fassadenflächen war das System jedoch vielfältig anzupassen. Da sich die Grundrisse über die Höhe verändern – in beiden Türmen gibt es insgesamt aufgrund der Drehung 82 verschie­dene Grundrisse –, war ein regelmäßiges Stützensystem nicht möglich. Senkrechte Innenstützen bspw. in den oberen Geschossen des Nordturms konnten aufgrund der überhängenden Nordfassade geometrisch nicht bis zur Gründung geführt werden. Nach vielen Variantenstudien, sagt Matthias Stracke, neben Uli Storcks Projektleiter bei Bollinger + Grohmann, hat sich an den Fassaden ein Raster von 5,80 m als beste Lösung ergeben, wobei die Stützen der Geometrie der Außenhülle folgen und in einer Richtung schräggestellt sind. An den Stirnseiten verschneiden sich zudem einige benachbarte Stützen und vereinigen sich zu einer durchlaufenden Stütze. Ein Teil der Innenstützen konnte in Funktionsflächen wie Sanitärbereiche oder Haustechnikflächen integriert werden, so dass eine ­flexible Nutzung der Büroflächen ermöglicht wird. Die restlichen Innenstützen stehen teilweise senkrecht, teilweise in zwei Richtungen geneigt. In den unteren fünf Geschossen kamen Verbundstützen mit einem massiven Einstellprofil zum Einsatz, ansonsten sind die Stützen aus hochfestem Beton C80/95 hergestellt.

Die ganze Konstruktion der Doppeltürme ruht auf einer kombinierten Pfahl-Plattengründung – eine Variante, die sich in Frankfurt a. M. mit seiner doch reichen Hochhaus-Erfahrung als die wirtschaftlichste erwiesen hat. Die Bauwerkslasten werden dabei sowohl über Mantelreibung und Spitzendruck der Pfähle als auch über Sohlpressung der Bodenplatte abgetragen. Bei der Gründung der EZB-Hochhauscheiben musste insgesamt eine Bauwerkslast von 2 700 MN in den Baugrund eingeleitet werden. Dazu wurden insgesamt 97 Großbohrpfähle im Durchmesser von 120 cm mit einer maximalen Länge von 37 m und eine Bodenplatte mit einer Stärke zwischen 1,50 und 3,50 m verwendet. Die Pfähle wurden unter den Stützen sowie unter den aussteifenden Kernwänden platziert.

Mit palliativem Design hat der Neubau der Europäischen Zentralbank mit seinem außergewöhnlichen Tragwerk wenig zu tun. Indes kann die dynamische Figur des Gebäudes ganz locker mit Frankfurts emblematischen Hochhäusern wie dem Messeturm, dem Kronenhaus oder das Messetorhaus mithalten. Es ist eher ein weiteres Zeichen der Prosperität der Finanzmetropole. Darüber hinaus stellt die EZB-Zentrale mit der Integration der vorher jahrzehntelang vernachlässigten Großmarkthalle eine gelungene Verbindung von Alt und Neu, von der Reformarchitektur der 1920er-Jahre und des computerbasierten Designs der 21. Jahrhunderts dar.

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