Inklusion inklusive

BWB Goerzwerk, Berlin

Bestand und Barrierefreiheit passen nicht zusammen? Beim Projekt BWB Goerzwerk in Berlin bestand genau darin die Aufgabe – in einem alten Industriedenkmal am südlichen Stadtrand sollten neue Arbeitsplätze und eine Kantine für Beschäftigte mit Behinderung entstehen. Die Architektinnen Annette Bräuer und Katharina Jester setzten dafür auf ein Raum-in-Raum-Konzept. Und Trockenbau.

Oft genug ist das Wort barrierefrei auch heute noch eine Mogelpackung. Denn gerade, wenn es um den Bestand geht, werden gebaute Hindernisse meist erst nachträglich durch Rampen und Rückbau entschärft. Was die Bewegungsfreiheit von Menschen im Alltag einschränkt, das wissen Rollifahrer ebenso wie Senioren und Eltern mit Kinderwagen, sind menschgemachte Hürden, die nicht nach menschlichen Maßstäben bemessen sind. Zu hoch, zu schmal, zu schnell. Das gilt im öffentlichen Straßenraum ebenso wie in den Gebäuden, die ihnen eigentlich als Schutzraum dienen sollten.

Nimmt man das Versprechen der Moderne, dass die Form der Funktion folgt, jedoch ernst, ist es eigentlich ganz einfach. Denn kein Gebäude ist durch eine Treppenstufe vor dem Eingang oder eine schmale Badezimmertür besser zu nutzen. Den einzigen Verzicht, den Planer:innen üben müssten, um ihre Architektur auf ein menschliches Maß zu bringen, ist der auf einfache Lösungen.

„Wir wollten nicht, dass man den Werkstätten oder der Kantine sofort ansieht, dass hier Menschen mit Behinderungen arbeiten“, sagt Katharina Jester. Die Architektin ist gemeinsam mit ihrer Projektpartnerin Annette Bräuer als Berlin Interior verantwortlich für den Um- und Ausbau der BWB-Werkstätten im Berliner Goerzwerk, einem alten Industriedenkmal im Bezirk Lichterfelde, in dem neben Eventlofts, Ateliers, Laboren, Studios und Büros eben auch Arbeitsplätze für rund 200 Menschen mit Behinderungen untergebracht sind. „Dabei kam uns zugute, dass wir bereits mit der Sanierung der Produktionsstätten im 4. OG beschäftigt waren, als die BWB an uns herantrat und uns bat, die neu angemieteten Flächen im EG ebenfalls zu gestalten“, erinnert sich Katharina Jester. So konnten sie ihr gestalterisches Konzept ausweiten und eigene Lösungen entwickeln, wann immer sich ihnen der Altbau mit seinen Eigenheiten in den Weg stellte.

Rückbau auf das Wesentliche

Denn was das Thema menschgemachte Hürden angeht, so hat so ein hundert Jahre alter Industriebau einiges vorzuweisen – auch wenn sein damaliger Bauherr, der Optiker und Unternehmer Paul Goerz, schon damals mit der Einführung des Achtstundentags und bezahltem Urlaub von sich reden machte. Was nicht niet- und nagelfest war, musste dennoch raus, bevor Annette Bräuer und Katharina Jester sich daran machen konnten, Arbeitsplätze und eine Kantine zu schaffen, die nicht nur den heutigen Standards bezüglich  Arbeitsplatzergonomie und -sicherheit, sondern auch ihren eigenen Ansprüchen an Gestaltung und Ästhetik gerecht wurden. Doch wie richtet man eine fast 100 m lange Produktionshalle danach wieder ein – sodass sie nicht nur der Betreiberin und ihren Beschäftigten gefällt, sondern auch dem Denkmalschutz?

Auch, um möglichst viel des Genius Loci zu erhalten, entschieden sich die Planerinnen früh, auf ein Raum-in-Raum-System zu setzen. Dabei galt es, zwei grundsätzliche Funktionen zu bedienen, die jeweils eine ganz unterschiedliche Herangehensweise erforderten: Umkleiden, Sanitär- und einzelne Funk­tionsräume mussten als geschlossenes System gedacht werden, welches das erforderliche Maß an Komfort und Funktionalität bietet. Die Arbeitsplätze selbst hingegen erforderten ein Höchstmaß an Flexibilität. Denn, je nach Art und Umfang der Aufträge variiert der Platzbedarf für Mitarbeitende, Material und Lagerflächen zum Teil stark. Gruppengrößen samt der dafür benötigten individuellen Arbeitsplätze müssen schnell anpassbar sein. Dafür sind feste Einbauten wenig geeignet. Die Lösung sahen Annette Bräuer und ihre Kollegin Katharina Jester in einer Sanitärspange am hofseitigen Teil der alten Industriehalle einerseits und teilmobilen Raumteilern auf dem straßenseitigen Teil der Halle andererseits. „Dazu entwickelten wir mit HPL-Schichtstoff belegte, 1,60m breite, halbhohe Raumelemente, die zwischen dem Stützraster auf im Boden verankerte Hülsen gesetzt werden, die als Kippschutz dienen. Sie lassen sich nach Bedarf umsetzen, um so ein, zwei oder mehr Felder zusammenzuschalten“, erklärt Annette Bräuer das Konzept für die Arbeitsflächen. Das Clevere daran: In den Elementen befindet sich Stauraum für Arbeitsmaterialien, Werkzeuge sowie persönliche Schließfächer für die Beschäftigten. Dadurch ist immer alles in Reichweite und an seinen Platz und das Aufräumen fällt nicht schwer. Stühle und Tische lassen sich ebenso leicht umstellen und dem jeweiligen Bedarf anpassen. Ein durchgängiges Lichtband über den Arbeitsplätzen, das sich individuell schalten lässt, sowie eine zentrale Stromtrasse unter der Decke, unterstützen dabei die variable Anpassung der Arbeitssituation.

Sanitärspange im Trockenbau

Kalkulierbarer war der Platzbedarf für die Sanitärspange: Rund 100 Beschäftigte nutzen die Umkleiden und WCs im EG. Hier wollten die Planerinnen vor allem den industriellen Charme der denkmalgeschützten Hallen bewahren. In den Warm- und Feuchträumen der Sanitärspange ließen die Architektinnen das Einfachglas der historischen Holz-Industriefenster von einem spezialisierten Tischlereibetrieb durch Isolierglas ersetzen. Durch einen aufwendigen Planungs- und Abstimmungsprozess mit der Denkmalpflege konnte so der ursprüngliche Charakter der Fenster erhalten werden. Damit das einfallende Tageslicht in die Mitte des Raums gelangt und die Querlüftung der Halle erhalten bleibt, sollten die Wände der Einbauten zudem nicht bis zur Decke geführt und notwendige Aufbauten für die Technik auf ein Minimum beschränkt werden.

In der Summe führte das zu einem elaborierten Aufbau der Trockenwände, deren 100 mm-Profile bei doppelter Beplankung nur 150 mm im Querschnitt messen. „Für eine möglichst effiziente Ausnutzung der Verkehrsflächen waren wir darauf bedacht, möglichst schmale Wände zu entwickeln – schließlich nutzen die Umkleiden und WCs auch Rollstuhlfahrer:innen, die ausreichend Platz zum Wenden und Manövrieren benötigen“, sagt Annette Bräuer. „Wir haben zusammen mit den Fach-planer:innen die notwendigen Installationsräume auf ein Minimum reduziert, sodass wir auf die üblichen Installationsvorwände verzichten konnten.“ Die Decken sind für die bessere Revisionierbarkeit der Technik mit Weitspannträgern im Achsabstand von 0,5 m verstärkt und begehbar. Hierfür kamen Profile der Firma Protektor zum Einsatz. Leichtbau und eine solide Alltagsrobustheit, so zeigt sich, müssen sich heute längst nicht mehr ausschließen.

„Der Trockenbau eignet sich bei so einer Aufgabe natürlich optimal, um ebenso kostengünstig wie flexibel mit dem Bestand umzugehen“, sagt Annette Bräuer. Dabei gehe es einerseits darum, dass für das Ständerwerk des Leichtbaus nur minimale Eingriffe in die Substanz erforderlich sind – andererseits aber auch darum, dass sich im Laufe des Projekts immer wieder Situationen ergaben, in denen die Planerinnen froh darüber waren, dass sie alternative Lösungen „on the go“ entwickeln konnten. So sorgten die variierenden Gruppengrößen zum Beispiel dafür, dass die Architektinnen die Grundrisse der Sanitärspange im Verlauf des Projekts mehrfach anpassen mussten – was jedoch problemlos möglich war, da man dabei eben nicht auf die statischen Gegebenheiten des Bestands Rücksicht nehmen musste.  

Entlüftung nach unten

Flexibilität war auch an anderer Stelle gefragt. „Zum Beispiel war eigentlich geplant, dass der Abzug der Kantinenküche über das Dach erfolgt“, erinnert sich Bräuer. „Dann aber hat der Eigentümer darum gebeten, nach unten zu entlüften, da er das Dach ausbauen und anderweitig nutzen wollte.“ Daher wichen die Planerinnnen in den Keller aus.

Zudem erlaubte der Trockenbau den Architektinnen eben jene Hürden, die Menschen mit Behinderung im Alltag begegnen, einfach wegzulassen – und von Beginn an ausreichend große Radien, Ebenerdigkeit und schwellenlose Übergänge zu schaffen. So ermöglichte es der Trockenbau zum Beispiel auch,  die Raumkanten der Sanitärspange mit einfachen Mitteln abzurunden – was die Nutzbarkeit der Halle für Rollifahrer und Hubwagen verbesserte. Ebenso implizit setzt sich der inklusive Gedanke im ästhetischen Konzept des Projekts fort: Einen visuellen Anker für die selbständige Orientierung im Gebäude setzt zum Beispiel der durchgängige, orangefarbene Zebrastreifen, der von den Umkleiden zu den Arbeitsplätzen führt und gleichzeitig Rangierflächen für Gabelstapler markiert und so der Arbeitssicherheit dient. Die Farben der Spinde in den Umkleiden wurden aus dem Standardkatalog des Herstellers ebenfalls so gewählt, dass die Beschäftigten sie leicht auffinden können – und trotzdem ein stimmiges Gesamtbild ergeben. „Statt Pufferrohren, wie man sie aus Heimen und Krankenhäuser kennt, welche die Wände vor Beschädigung durch Rollstuhlreifen und Gehhilfen schützen sollen, haben wir unterschnittene Opferbleche verwendet, die kaum auffallen und den gleichen Zweck erfüllen“, sagt Katharina Jester.

Denkmal geschützt

Und der Denkmalschutz? Verträgt sich äußerst gut mit dem Trockenbau. „Lediglich bei der Schaffung eines zweiten Fluchtwegs mussten wir ernsthaft in die geschützte Gebäudehülle eingreifen und Überzeugungsarbeit leisten“, erinnert sich Katharina Jester. „Es war uns selbst sehr wichtig, den ursprünglichen Charakter auch der nicht denkmalgeschützten Substanz im Inneren zu erhalten und wir haben, in Abstimmung mit dem Auftraggeber, zum Beispiel freiwillig Kompromisse bei der Akustik gemacht. Hier wurden etwa Paneele in die Felder der bestehenden Decke eingehängt, anstatt sie komplett abzuhängen.“ Inklusion ist eben ein ganzheitliches Konzept. Sei es bei der Integration von Menschen mit Behinderung oder beim Gebäudebestand, der durch das einfache Eliminieren von Hürden auch künftigen Generationen viel zu bieten hat. JA

Industrieumnutzungen stehen immer vor ähnlichen Aufgaben: Erhalt der Erfahrbarkeit der typischen Industriearchitektur bei gleichzeitiger Integration der erforderlichen Zonierungen und Funktionseinheiten. Dies ist durch die in Form und Farbe unabhängig vom Bestand eingebrachten ­Trockenbau-Raumzellen sowie die dezent zwischen dem Deckentragwerk integrierte Akustik sehr gut ­gelungen.« DBZ- Heftpartner Prof. Andreas Betz,
⇥Prof. Jochen Pfau, Prof. Jochen Stopper, TH Rosenheim

Projektdaten

Objekt: Kantine und Werkstätten im Goerzwerk

Standort: Goerzwerk, Goerzallee 299, 14167 Berlin-Lichterfelde

Typologie: Umnutzung eines denkmalgeschützten Gewerbebaus

Bauherrin/Nutzerin: Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung (BWB) GmbH, Berlin

Bestand: Denkmalgeschütztes Gebäudeensemble der ehemaligen optischen Werke von Carl Paul Goerz

Umbau: berlin.interior Arbeitsgemeinschaft, Annette Bräuer und Katharina Jester

Bauzeit: 08.2017 – 02.2019

Fachplanung

Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Rüdiger Jockwer GmbH, Berlin

www.jockwer-gmbh.de

TGA-Planung: Planungsbüro Hentschel Technische Gebäudeausrüstung, Berlin

www.planungsbuero-hentschel.de

Elektroplanung: IGE Industrie- und Gewerbe Elektrik GmbH,  Berlin

www.ige-elektro.de

Lichtplanung: LUMEsLICHT, Steffen Schmidt,Berlin, www.lumeslicht.de

Innenarchitektur: berlin.interior, Annette Bräuer und Katharina Jester

Akustik: berlin.interior, Annette Bräuer und Katharina Jester mit Knauf AMF Heradesign

Brandschutz: Ingenieurbüro für Arbeits-, Brand- und Umweltschutz, Großbeeren

www.ingenias.de

Gastronomie- und Großküchenplanung: Triebe und Triebe GbR, Leipzig, www.grosskuechenplanung.info

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