Balance zwischen Stadt und Land
Die Regionale 2022 in Ostwestfalen-Lippe (OWL) verspricht, ein Zukunftsmodell für vernetzte Regionen zu werden. Sie wird unter der Überschrift „Das UrbanLand“ mit dem Ziel ausgerichtet, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu stärken. Ein Projekt der Regionale ist das Bündnis für Wohnen im ländlichen Raum (BüWoLand). Annette Nothnagel, Leiterin der Regionale OWL 2022, und Johannes Schlütz, Bürgermeister der Stadt Nieheim, federführend im BüWoLand, geben Einblicke in Herausforderungen und Erfolge bei der Wiederbelebung von Ortsmitten in kleinen Städten und Gemeinden.
Das UrbanLand soll urbane Qualitäten auch auf dem Land ermöglichen. Eine Angleichung von Stadt und Land?
Annette Nothnagel (AN): Hintergrund ist die bisherige Prognose, dass in Ostwestfalen-Lippe der ländlich geprägte Bereich im Norden und im Osten überdurchschnittlich an Einwohnerinnen und Einwohnern verlieren wird. Dem wollen wir etwas entgegensetzen. Mit der Regionale kümmern wir uns um die Frage, wie wir die Ortskerne kleiner Städte wieder stärken können. Es soll nicht die Idee entstehen, es gehe hierbei um bauliche urbane Qualitäten wie Geschossigkeit oder bauliche Dichte. Wir sprechen eher von einem urbanen Lebensgefühl. Für uns steht die Dichte von Funktionen und Begegnungen im Vordergrund. Im Grunde geht es darum, dass Menschen gut angebunden sind – an Arbeit, Leben, Freizeit, Kultur. Das trägt unserer Auffassung nach dazu bei, dass sich das Entweder-oder – Stadt oder Land zunehmend auflöst, wenn auch nicht komplett. Es soll eine gute Beziehung zwischen Stadt und Land geben, aber nicht im Sinne einer Angleichung. Dorf ist Dorf und Stadt ist Stadt.
Herr Schlütz, Sie wollen mit dem Bündnis für Wohnen im ländlichen Raum neue Instrumente für die Stärkung der Ortsmitten kleiner Städte und Gemeinden entwickeln. Welche Instrumente sind das?
Johannes Schlütz (JS): Wir haben den Vorteil, dass unser Projekt wissenschaftlich begleitet wird. Die Hochschulen sind gerade dabei, für jeden Ort eine Stärken-Schwächen-Analyse aufzustellen, um herauszufinden, wo die jeweils individuellen Lösungen liegen könnten. Das Projekt läuft bis März 2023, dann erhalten wir auch die finalen Ergebnisse. Wie auch die anderen beteiligten Städte haben wir das Problem, dass die Innerortslagen wiederbelebt werden müssen, weil Geschäfte und Wohnungen leer stehen. Die Problemimmobilien im Innenstadtbereich sind meistens alt und müssen energetisch ertüchtigt werden, dort wohnt keiner mehr oder die Häuser sind nicht so gepflegt, wie man sich das vielleicht wünschen würde. Ein Beispiel, wie wir in Nieheim versuchen, dem entgegenzuwirken, ist das Richterhaus, ein großes altes, aber bis vor kurzem leerstehendes Fachwerkhaus in der Ortsmitte. Kein privater Investor hätte eine neue Nutzung finanzieren können, weil die Mietwohnpotentiale sehr gering waren. Also haben Stadtverwaltung und Politik ein Konzept für das Haus entwickelt und umgesetzt, mit dem wir heute Jung und Alt zusammenbringen. Unten ist eine Tagespflege, oben ist unter anderem der Jugendbereich der Stadt Nieheim angesiedelt, dann war das Projekt förderfähig. Was vorher mehr und mehr zu einem Schandfleck verkam, ist heute wieder ein Glanzpunkt in der Innenstadt. Und wir merken jetzt schon, das zieht Investitionen rundherum an: Der Nachbar dahinter hat sein Dach ausgebaut und komplett modernisiert, gegenüber wird schon bald noch ein neues Mehrfamilienhaus entstehen. Wenn wir als Stadt den Anfang machen, selbst investieren und versuchen, die Dinge zu verschönern, dann folgen auch private Investitionen. Es gibt aber natürlich auch Fälle, wo das schwierig ist.
Worin liegen da die Probleme?
JS: Die Probleme, die wir vor Ort haben, sind meis-tens in der Eigentümerstruktur begründet. Die Häuser gehören oft Erbengemeinschaften oder Leuten, die nicht hier wohnen, keinen Bezug zu bzw. kein Interesse an Nieheim haben. Wir können das natürlich ansprechen, Eigentum verpflichtet, wir können auch Angebote machen. Aber solange wir nicht nachweisen können, dass beispielsweise Sicherheitsprobleme existieren, haben wir keinen großen Hebel und damit auch nur begrenzten Handlungsspielraum. Als Gemeinde hat man oft nur wenige Ansatzpunkte, um Grundstücksangelegenheiten tatsächlich in Bewegung zu bringen. Beim Richterhaus haben wir mit Hilfe des Landes selbst investiert, das hat funktioniert. Ein anderes Beispiel ist ein altes Gebäude neben dem Rathaus, das abgebrannt ist. Ein privater Investor wird dort in den kommenden Monaten ein Mietshaus errichten und zusätzlich neuen Wohnraum mitten im Zentrum schaffen. Dafür haben wir den Grundstückspreis etwas subventioniert, damit der Investor überhaupt Interesse fand, das Grundstück zu erschließen. Was uns außerdem bei der Stärkung der Ortsmitten hilft, ist der Versuch, die Digitalisierung voranzutreiben. Mittlerweile kann man hier in Nieheim überall von zuhause aus arbeiten, das hätte ich mir vor fünf Jahren nicht erträumt. Das ist eine große Chance, die Leute zurückzuholen. Wir können nicht alles steuern, aber wir sind hartnäckig und setzen kleine Hebel in Gang.
Für die leerstehenden Flächen in den Ortskernen wollen Sie neue Wohnmodelle entwickeln. Wie sehen die aus?
AN: Wir haben festgestellt, dass die Ansprüche an modernes Wohnen, beispielsweise in Verbindung mit Pflege oder mit Co-Working Angeboten, in den historischen Innenstädten nicht so einfach zu realisieren sind. Da fehlen gute Beispiele der baulichen Umsetzung. Wie können wir eine Familie, die nach Nieheim ziehen möchte und sich ein Einfamilienhaus am Stadtrand vorstellt, dazu bringen, in den Dorfkern zu ziehen? Wie können wir innerorts die Qualitäten eines Häuschens auf der grünen Wiese anbieten? Es gibt im Augenblick keine Gärten, keine privaten Freiflächen in den Zentren, das ist ein großes Manko. Da muss man vielleicht auch mal ein Gebäude abreißen, um den Freiraum zu schaffen. Die Qualitäten der innerstädtischen Lage, beispielsweise ein kurzer Weg zur Kita, sind dann auch in kleinen Orten offensichtlich.
Gibt es auch noch andere Modelle?
AN: Ein weiterer großer Bedarf entsteht dadurch, dass Menschen, die älter werden, ihr Eigenheim gegen eine Wohnung tauschen möchten, ggf. auch mit Service und Betreuung. Dann müssen diese Menschen in eine größere Stadt ziehen, um ein solches Angebot zu finden. Wohnungen zur Miete, egal ob mit Pflegebegleitung oder ohne, sind vollkommen unterrepräsentiert. Das ist auch für junge Leute, die in die Region kommen und in den Beruf starten, ein Thema.
JS: Das haben wir in Nieheim aber auch schon anders erlebt. Nicht selten gehen alte Leute direkt vom großen Familienhaus ins Altenheim oder bleiben zuhause wohnen, um dann eine Tagespflege in Anspruch zu nehmen. Die Bindung zum Eigenheim, quasi dem Stammsitz der Familie, ist auf dem Land immer noch beachtlich hoch. Ich glaube aber auch, dass wir die Nachfrage unserer Kinder und Enkel nach schönen, modernen Mietwohnungen vollkommen unterschätzen. Das ist Punkt eins, den wir ganz schnell bedienen müssen. Gleichzeitig müssen wir herausfinden, wer zum Beispiel der Nutzer eines alten Hauses in Nieheims Mitte sein könnte. Dafür haben wir oft ein Gefühl, das aber möglicherweise nicht zutrifft. Die das Projekt begleitende Fachhochschule wird uns dabei mit einer fundierten Bedarfsanalyse unterstützen.
Mit wem arbeiten Sie noch zusammen?
JS: Wir haben einen Architekten, der für uns arbeitet und Menschen berät, die ein altes Haus besitzen oder ein neues Haus in der Stadt bauen wollen. Zum Beispiel zeigt er die baulichen Möglichkeiten für ein innerstädtisches Grundstück mit oder ohne Bestandsbau auf. Wichtig ist, auch die Denkmalpflege zu beachten. Wir haben in Nieheims Zentrum zum Beispiel die Mauerstraße, die so eng bebaut ist wie früher die Stadtmauer. Die Denkmalpflege möchte diese geschlossene Struktur erhalten, auch wenn das heißt, dass wir hier keine Gärten oder Balkone anbieten können. Man muss dann Lösungen finden und die vielen Aspekte, wie Denkmalschutz, Wirtschaftlichkeit und Nachfrage zusammenbringen.
Abschließend eine Prognose: Wie sieht die Zukunft der ländlichen Räume aus?
JS: Ich hatte vor einigen Jahren die Erwartung, so wie auch die Politik, dass alle Menschen in die Städte ziehen werden. Ich denke, dieser Trend wird sich in den nächsten Jahrzehnten komplett umdrehen. Der Stress, die Enge und die Preise in den großen Städten sind nicht für jeden zumutbar. Ich glaube, wir werden eine unwahrscheinliche Belebung des Landlebens erfahren, nicht nur durch Corona. Natürlich ist das aus politischer Sicht teuer, weil wir die Infrastruktur auf dem Land teilweise erst noch schaffen müssen. In der Stadt ist Bauen viel effizienter, keine Frage. Man muss einen Mittelweg finden zwischen dem Zersiedeln der Dörfer, dem Versiegeln der Flächen und dem Besiedeln der Ortskerne.
AN: Ich glaube auch, dass jetzt gerade ein Trend Richtung Land beginnt. Die Städte werden sich aber nicht entleeren, es wird sicher das Sowohl-als-auch geben. Hoffentlich werden auch eine größere Ausgewogenheit und eine stärkere Verbindung zwischen Stadt und Land entstehen. Menschen sind flexibel und wohnen Teile ihres Lebens hier und Teile ihres Lebens dort. Wichtig ist, auf die Qualität der Entwicklung zu schauen. Das, was die Menschen suchen ist eine Form von Ländlichkeit oder von Urbanität. Diese Profile sollten wir jetzt ausgestalten und erhalten. Ein Faktor ist dabei sicherlich die bauliche Qualität.
Bündnis für Wohnen im ländlichen Raum
Das Bündnis für Wohnen im ländlichen Raum entwickelt Lösungen für den innerörtlichen Leerstand in kleinen Städten und Gemeinden. Es besteht aus den OWL-Städten Nieheim (federführend), Marienmünster, Schieder-Schwalenberg und Vlotho (NRW) sowie Drebkau/Drojwk (Brandenburg) und der Hansestadt Seehausen, Altmark (Sachsen-Anhalt). Die sechs Städte verbindet ihre ländliche Struktur und die Suche nach zukunftsweisender Kleinstadtentwicklung. Das Projekt wird von der Ruhr-Universität Bochum/InWIS (Institut für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung) sowie der Fachhochschule des Mittelstands Bielefeld (Fachbereich Wirtschaft, Innovation und Raum-entwicklung) wissenschaftlich begleitet. Sind die Tests in den Städten erfolgreich, sollen sie als Muster für andere Kleinstädte im UrbanLand Ostwestfalen-Lippe dienen.