Wissen, woran man ist
Bestandsanalyse als Voraussetzung für das Bauen im Bestand

Im Bauwesen hat innerhalb der letzten ca. 120 Jahre eine beachtliche Innovation in ­Bezug auf Werkstoffentwicklungen und die daraus resultierenden Konstruktionsarten stattgefunden. Die ersten Eisenbetonkon­struktionen wurden in Deutschland um 1890 errichtet. Erst um 1905 gab es für diesen Verbundwerkstoff Konstruktions- und Bemessungsregeln, die in der Folge ständig an die Erkenntnisse aus Tragwerks- und Bemessungsmodellen sowie physikalischen Tragmechanismen angepasst wurden. Auch Beton und Stahl, bzw. Betonstahl, wurden ständig weiterentwickelt, so dass ca. alle zehn Jahre eine Anpassung der Normung an die aktuellen Erkenntnisse stattfand.

Da das Normungsverfahren sehr langwierig ist, war der „Stand der Technik“ häufig voraus, deshalb wurden von Forschungseinrichtungen, Verbänden und Fachausschüssen aktuelle Konstruktions- und Bemessungsregeln veröffentlicht. Folglich ist beim Umgang mit Bestandsgebäuden die Kenntnis der Kon­struktions- und Baugeschichte sowie der konstruktiven Gestaltung einschließlich der Werkstoffe von entscheidender Bedeutung.


Arbeitsschritte der Bestandsanalyse

In unserer Arbeit orientieren wir uns am Vorgehen der Schulmedizin und stellen deshalb an den Beginn die Anamnese: Die Planlage wird mit dem Bestand auf Übereinstimmung überprüft. Die Ist-Geometrie der Konstruktion wird stichprobenartig mit der Plan-Geometrie anhand der Schal- und Bewehrungspläne sowie sonstiger Pläne abgeglichen. Schäden werden kartiert und erfasst. Falls keine Bau­akten vorliegen, werden Aufmaßpläne ­erstellt und Bestandsuntersuchungen durchgeführt. Die statisch-konstruktiven und werkstofftechnischen Erkenntnisse werden erfasst. Die Bau- und Konstruktionsgeschichte wird aufgearbeitet. Umbauten, Reparaturen, Erweiterungen usw. werden dokumentiert. Vielen Bauherren fehlt für die Notwendigkeit der Anamnese das Verständnis, weil im Vorfeld scheinbar kein bezifferbarer Nutzen erkennbar ist. Aber erst durch die Anamnese wird eine entsprechende Kostensicherheit verbunden mit möglichen Einsparpotentialen erreicht und „Unvorhersehbares“ minimiert.

Den zweiten Schritt bildet die Diag­nose. Hier wird bewertet. Es gilt, zwischen Ursachen und Wirkungen von Schäden zu unterscheiden. Es werden Stärken- und Schwä­chen­analysen erstellt, um „konstruktive“ Entscheidungshilfen zu liefern.

Den letzten Arbeitsschritt bezeichnen wir als Therapie. Hier werden die Erkenntnisse verarbeitet und in Planungen umgesetzt. Anamnese und Diagnose sind in der HOAI als Leistungsbilder nicht verankert. Sie stellen vorgezogene „Besondere Leistungen“ dar.

Die Therapie ist die erste Planungsleistung, die als Grundleistung im Bereich der Vorplanung beginnt. Stärken und Schwächen der Konstruktion sollten in dieser Phase mit verarbeitet werden. Im Rahmen der Anamnese ist es sehr wichtig, die Konstruktion eindeutig kennen zu lernen. Eine Konstruktion „weiß“ nicht, wie sie bemessen wurde. Sie gehorcht den Kräften und physikalischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Ausführung und Fügung; sie trägt, wie sie konstruiert wurde.


Zusatzlasten erfordern Ertüchtigungen

Häufig sind vorhandene Tragfähigkeiten für zukünftige Nutzungen nicht mehr ausreichend. Ein probates Mittel stellt dann die Verstärkung durch eine Zusatzkonstruktion dar. Sie ist jedoch nur wirksam, wenn sie ein mit dem Bestand identisches Verformungsverhalten aufweist. Die Lastabtragung durch Zusatzkonstruktionen ist immer nur über zusätzliche Verformungen möglich. Deshalb sollten Verstärkungen in der Regel mit einer Vorspan­nung, die den Bestand entlastet und die Zusatzkonstruktion direkt aktiviert, eingebaut werden. Lastumlagerungen bzw. -erhöhun­gen führen dann zu einer Verformung der Zusatzkonstruktion und zu einer weiteren Entlastung des Bestandes bzw. einer Lastumlagerung.

Es ist generell sehr wichtig, mit der Be­stands­konstruktion zu arbeiten und nicht gegen sie. Die Revitalisierung und Aufstockung der Hauptverwaltung von Dorma in Ennepetal resultierte aus einem gewonnenen Architektur-Wettbewerb, bei dem die Tragkon­struktion die Gestalt mitbestimmt hat. Die Lasten aus zwei zusätzlichen Geschossen plus Wintergarten sowie aus der abgehäng­ten Glasfassade werden als Hängehaus-Prinzip über einen horizontalen Trägerrost an die beiden Hauptstützen und den Erschließungs- und Aussteifungskern weitergeleitet. Zur Aufnahme der zusätzlichen Lasten (ca. 20 MN) mussten die Innenstützen und der Kern verstärkt werden. Der Kern musste aus funktionalen Gründen erweitert werden, sodass die Zusatzlasten unproblematisch waren. Die Bestandsstützen wurden durch umlaufende Stahlstützen verstärkt. Die Lastaufteilung zwischen den Bestandsstützen aus Stahlbeton und den Verstärkungen aus Stahl erfolgt nur über die Verformung, d.h. über die Stützenstauchung (Abb. 3). Deshalb wurden die Stahlbetonstützen, mittels Hydraulikstützen gelängt, vorgespannt. Anschließend wurden die Stahlstützen eingebaut und unterkeilt. Nach dem Ausbau der Hydraulikstützen gehen die Bestandstützen und die Zusatzstützen in Verformung und in Abhängigkeit der Steifigkeit teilt sich die Last auf.

Wir arbeiten bei Verstärkungs- bzw. Er­tüch­tigungsmaßnahmen häufig nach dem Zwei-Schicht-Prinzip. Das bedeutet, dass die Zusatzkonstruktion in einer anderen Ebene angeordnet und als Ertüchtigung sichtbar wird.


Sanierungen ohne Verstärkungsmaßnahmen

Die Revitalisierung des Bürogebäudes Kaiser Wilhelm Ring in Köln stellt ein klassi­sches Beispiel für eine sehr wirtschaftliche Revitalisierung dar. Für die Blockbebauung aus fünf Einzelgebäuden mit sehr differenzierten Konstruktionen aus Stahlbeton existieren keine Bestandsunterlagen.

Das älteste Gebäude wurde 1931-1933 gebaut. Es überstand relativ unversehrt die Bom­benangriffe des 2.  Weltkrie­ges und diente von 1945-1955 als Rathaus und Dienstsitz des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer. Da keine konstruktiv verwertbaren Bauakten ausfindig gemacht werden konnten, mussten Werkstoffuntersuchungen und Bauteilöffnungen durchgeführt werden, um für die künftige Nutzung eine hinreichende Standsicherheit gewährleisten zu können.

Die Geschossdecken sind Stahlbeton-Rippendecken (Abb. 5), deren Deckenspiegel in der Regel nur 6 cm stark sind. Die Rippengeometrie ist konisch. In den einzelnen Gebäuden sind die Deckenquerschnitte leicht unterschiedlich. Für das Hauptgebäude beträgt die mittlere Rippenbreite ca. 9 cm. Die Rippen sind ca. 20 cm hoch, sodass sich mit dem Deckenspiegel von 6 cm eine statisch wirksame Deckenhöhe von ca. 26 cm ergibt. Als Bewehrung sind in der Regel in jeder Rippe unten zwei Längseisen Ø 12–18 mm vorhanden. Davon wird vor dem Auflager ein Eisen für die Schubübertragung aufgebogen. Über den Mittelstützen ist oben noch ein Zulageeisen vorhanden, sodass sich eine Durch­lauf­wir­kung einstellt.

Die Deckenaufbauten variieren von einem Gebäudeteil zum anderen. Es handelt sich um Estriche, die ca. 7 bis 11 cm mächtig sind und sowohl den Schallschutz als auch den Brandschutz gewährleisten.

Für die Bauteilunterseite ist die Beton­deckung mit ca. 1 bis 1,5 cm nach DIN 4102 für die Brandschutzanforderung F 90 nicht ausreichend. Mit Hilfe eines Naturbrand-Szenarios konnte eine ausreichende Feuerwiderstandsdauer nachgewiesen werden, sodass aufwändige Spritzputzbeschichtungen o.ä. – bis auf Abschnitte mit hohen Brandlasten – nicht erforderlich wurden. Für die Standsicherheitsnachweise der Geschossdecken stellten die hohen Eigenlasten aus den Estrichen eine Schwierigkeit dar. Der üblicherweise durchgeführte Lastvergleich gelang nicht. Die Lasten konnten durch die Revitalisierung nicht ohne großen finanziellen Aufwand reduziert werden. Nun erwiesen sich die Werkstoffuntersuchungen in unserem Arbeitsschritt Anamnese als sehr vorteilhaft. Sie lieferten dem Verfasser die Stahlgüte Handelsbaustahl St 37 (heute S 235) mit einer Streckgrenze von 240 N/mm². Das Tragwerksmodell der Rippendecke als Durchlaufdecke mit der Streckgrenze des Handelsbaustahles und dem Ansatz der unteren Bewehrung als Druckbewehrung im Stützbereich, konnte die Standsicherheit auch ohne Verstär­kungs­maß­nahmen nachweisen.


Konditionierung auf aktuelle Sicherheitsniveaus

Das Gerling Quartier in Köln beinhaltet mehr als 90 000 m² ehemalige Büroflächen, die im Wesentlichen in den 1950er Jahren gebaut wurden. Der neue Eigentümer wird einen gro­ßen Flächenanteil mit Wohnungen und ca. 48 000 m² als Büros und andere gewerbliche Flächen nutzen. Im Zentrum des Quartiers befindet sich das 1953 errichtete 15geschossige Hochhaus. Irrtümlicherweise wird dieses Gebäude in der Regel als Stahlskelettkon­struktion bezeichnet. Die Stützen und Riegel sind jedoch in allen Außenwandebenen in ­jedem Knoten biegesteif verbunden, sodass sich eine Stockwerksrahmenkon­struktion ergibt, die in der Originalstatik enthalten ist. Die Stand­sicher­heit konnte somit 1953 nachgewiesen werden.

Für die Zwischenbauzustände sind vier zusätzliche Stahlverbände in den Achsen F/1-4, F/8-11, K/1-5 und L/1-4 angeordnet worden (Abb. 6). Die Verbände aus sich kreuzenden Flachstählen wurden über alle Geschosse ein­gebaut. Die rechnerische Erfassung der Zu­weisung der anteiligen Lasten aus Wind und Imperfektionen wurde nicht vorgenommen. Die vier zusätzlichen Verbände verblieben in der Struktur. Die Richtigkeit dieser Maßnahme wird durch die optische Schadensfreiheit belegt. Diese zusätzlichen Verbände sind sehr vorteilhaft, denn somit werden für alle Zwischenbauzustände keine zusätzlichen temporären Aussteifungen erforderlich!

Die Geschossdecke ist als Stahlträgerdecke ausgeführt worden (Abb. 7). Die Nebenträger spannen über ca. 7,20 m. Sie haben eine Abstand von ca. 1,80 m. Auf den Untergurten der Stahlträger lagern ca. 10 bis 12 cm dicke Stahlbetonplatten auf. Die Spannweite der Hauptträger beträgt ebenfalls ca. 7,20 m. Sie sind in der Regel als IP 32 ausgeführt worden. Die Nebenträger besitzen mit 320 mm die gleiche Bauhöhe wie die Hauptträger, sind jedoch schlanker als I32. Die gesamte Stahlkonstruktion wurde in Beton „gegossen“ (Abb. 8). Der Beton hat seine Aufgaben als Brand- und Korrosionsschutzmaßnahme über nahezu 60 Jahre hervorragend erfüllt. Die Gebäudeecken wurden jeweils über ein Gefach in jeder Richtung über die gesamte Gebäudehöhe durchlaufend und in voller Wandstärke betoniert. Durch diese konstruktive Maßnahme wurde die gesamte Steifigkeit des Hochhauses deutlich erhöht. Das Gebäude ist standsicher und damit ist das Ziel der „Statik“ erreicht.

Die Fragen heute lauten jedoch: „Welche Lastanteile werden von den einzelnen Bau­teilen übernommen und wie wirken sie zusammen? Wie groß sind die Sicherheiten? Können die nach heutigen Vorschriften an­zusetzenden zusätzlichen Lasten, z. B. aus Erdbeben, zuverlässig und rechnerisch nachweisbar aufgenommen werden?“

Der erforderliche Rückbau des Treppenhauses und der Neubau eines Sicherheitstreppenhauses bieten die Möglichkeit, die Tragfähigkeit zu verbessern. Da wir das Tragwerk ausführlich analysiert haben und durch Bauteilöffnungen uns über die Werkstoffe und die Verbindungstechniken einschließlich der Verbindungsmittel Klarheit verschafft haben, konnten wir die Struktur realitätsnah an einem räumlichen statischen Modell rechnerisch erfassen. Anschließend berücksichtigten wir die Einwirkungen auf die Tragstruktur nach den aktuellen Normen und Vorschriften und stellten fest, dass die Stützen in der Regel in den Stabilitätsnachweisen überbeansprucht waren. Um das Tragwerk zu steifer konditionieren, wurde der neue Treppenhauskern in Stahlbeton geplant. Über die Steifigkeit dieses Bauteiles konnte am Rechenmodell so lange optimiert werden, bis die Stand­sicherheit eindeutig nachgewiesen wurde (Abb. 9). Im Vergleich zum Altbestand wurde ein relativer Sicherheitsgewinn von über 40 % erreicht!

Die Deckenfüllungen waren in der Bestandsstatik mit 400 kg/m³ (4 kN/m³) angesetzt. Aber die Dichtemessung im Rahmen unserer Anamnese ergab mit ca. 1 000 kg/m³ (10 kN/m³) ca. den 2,5 fachen Wert. Zur Rea­lisierung des neuen Bodenaufbaus, mit 2 cm Natursteinbelag und 6 cm Heizestrich, müssen die alten Deckenfüllungen entfernt und durch Schaumbeton ersetzt werden.
Dieser kann mit Wichten um 3 kN/m³ hergestellt werden und wird bis zur Oberkante der horizontalen Verbandsstäbe, die auf den Obergurten der Deckenträger befestigt sind, eingebaut. Die folgenden weiteren 4 cm Schaumbeton erhalten einen Dichte von ca. 4 kN/m³, da sie einerseits den Brandschutz F 90 für die Stahlkonstruktion und andererseits die ausreichende Festigkeit für die Verdübelung der leichten Trennwände sicherstellen müssen.

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