Transformierter Zeitzeuge

Bücherei, Kressbronn

Der fast 100 Jahre alte Stadel der Gemeinde Kressbronn am Bodensee sollte in eine Bücherei umgebaut werden. Im Zentrum der Überlegungen von Steimle Architekten stand, das bauliche Erbe der regionalen Bauweise trotz der Transformation zu erhalten und zeitgemäß zu interpretieren.

Für das Bild eines Dorfes prägend waren oftmals die Stadel, meist markante Bauten, in denen gelagert wurde, was ein Bauernhof erzeugt und benötigt. So auch in der Gemeinde Kressbronn am Bodensee, in deren Zentrum nun ein fast 100 Jahre alter Stadel von Steimle Architekten aus Stuttgart zu einer Gemeindebücherei umgebaut wurde, wobei die besondere Bedeutung des Bestandsbaus für den Ort im Fokus der Transformation stand.

Wo heute der Tourismus der wichtigste Motor für die Wirtschaft ist, charakterisierten früher Landwirtschaft und Fischerei die Region um den Bodensee. So auch in dem beschaulichen Kressbronn am Bodensee, dessen Straßen- und Gebäudestruktur noch merklich von dieser Vergangenheit geprägt sind. Im dreieckigen Zentrum aus Hauptstraße, Kirchstraße und Hemigkofener Straße befinden sich hier alle wichtigen öffentlichen Einrichtungen. Zum neuen Jahrtausend bereits wurde die Ortsmitte um den Marktplatz neugestaltet, mit solarbetriebenem Marktplatzbrunnen und grundsaniertem Rathaus. Die örtliche Bücherei war zunächst ebenfalls im Rathaus untergebracht und erhielt nun ein neues Zuhause in einem unweit entfernten Stadel, einem fast 100 Jahre alten Wirtschafts- und Speichergebäude eines ehemaligen Gehöfts. Für dessen umfangreiche Umgestaltung schrieb die Gemeinde im Jahr 2015 einen Architektur-Wettbewerb aus, den das Büro Steimle Architekten aus Stuttgart für sich entscheiden konnte.

Bekenntnis zum Bestand

Ihrem Leitgedanken nach wollten Christine und Thomas Steimle dem baulichen Erbe und den regionalen Bedingungen „mit Rücksicht und Respekt begegnen, dabei den Charakter des alten Stadels erhalten und ihn mit möglichst wenigen, wohldurchdachten Eingriffen in ein modernes, offenes Haus transformieren“, erläutern die beiden Architekten. Beim Kressbronner Stadel, der einst als profaner Vieh- und Heustadel genutzt wurde, bedeutete das vor allem, die Form des weit auskragenden und somit Gestalt prägenden Dachs sowie die markante Gliederung in ein massives Sockelgeschoss und ein darüber liegendes, hölzernes Tennengeschoss zu erhalten. Die Anmutung durch die Materialität sollte zeitgemäß fortgeführt und das Haus durch möglichst wenige architektonische Mittel in der heutigen Zeit verortet werden. Weder durch einen Anbau, noch durch sonstige Veränderungen an der Gebäudekubatur wollten sie die Struktur verändern. Damit schuf das Büro Steimle ein klares Bekenntnis zur historischen Bausubstanz und zum Ort.

Alte Struktur, neues Gewand

Ganz konkret beinhaltet dieser Ansatz, so viel bestehende Bausubstanz wie möglich zu erhalten. Das Tennengeschoss mit der auskragenden Holzdachkonstruktion war vor allem in Hinblick auf sein Alter in erstaunlich guter Verfassung und konnte – mit ein paar wenigen, statisch notwendigen Ergänzungen und Ersetzungen – weiterverwendet werden. Ebenso sollte das händisch gemauerte Sockelgeschoss erhalten und lediglich mit einer dämmenden Schale versehen werden. Im Bauprozess zeigte sich jedoch bald, dass das Mauerwerk für die neue Nutzung nicht mehr tragfähig war und ersetzt werden musste. Für die Planung jedoch war dies ein Glücksfall, denn so konnte die Sanierung noch einmal ganz neu gedacht werden: Die Holzkonstruktion des Tennengeschosses wurde Balken für Balken kartiert und demontiert, wodurch das Holz optimal auf die zukünftige Nutzung eingestellt resp. getrocknet und von Schädlingen befreit werden konnte. Das Dachgebälk war bisher im Prinzip witterungsoffen und wird nun aus Sicht der Bauphysik zum Innenraum gehören.

Um den Eindruck des einst massiven Sockels zu bewahren, gestalten Steimle Architekten das neue Sockelgeschoss nun aus homogenem Dämmbeton, dessen leicht horizontal profilierte Oberfläche die Planer als Referenz an die Vorgängersub­stanz verstehen. Die Öffnungen im Sockelgeschoss sind mit tiefen Laibungen versehen, die in Anlehnung an das Vorbild des alten Stadels gesetzt wurden, nun aber mehr Tageslicht in den Innenraum lassen. Die teils spielerisch angeordnete vertikale Lattung filtert den Blick durch die Öffnungen und schafft zugleich einen gestalterischen Übergang zur Gestaltung des Tennengeschosses darüber. Dessen mit einer vertikalen Holzschalung versehene Fassade verstehen die Architekten ebenfalls als Verweis auf die Historie. Die Latten erfahren jedoch eine subtile, sich über die Fassade wellenartig verändernde Drehung, wodurch der hölzerne Oberbau im Gegensatz zum massiven Sockel eine große Leichtigkeit erhält. „Die schlanken Holzlamellen“, so die Architekten, „verleihen dem Haus mit ihrer eleganten Struktur ein erstaunlich modernes Äußeres.“

Hohe Raumqualitäten

Drinnen lädt im Erdgeschoss eine großzügige Treppe ins neue Tennengeschoss darüber ein, wo die sichtbare Dachstuhlkonstruktion einen großzügigen Bibliotheksraum schafft. Aus dem Sockelgeschoss heraus entwickelt sich hier ein Kern aus Beton, der eine Art Raumskulptur im Raum bildet, mit einer offenen Galerie, auf der sich der Raum noch einmal neu erleben lässt. So entstehen im neuen Stadel-Gebäude erfrischend vielfältige Raumqualitäten, vom Foyer und der 24-Stunden-Bücherei über Mehrzweck-, Kommunikations- und Begegnungsräume bis zu ruhigen Leseplätzen mit überraschend offenen Blicken durch den gesamten Innenraum. Eingebettet in die deutlich spürbare Historie und die zeitgemäße Architektur findet der Besucher hier einen Ort, der unaufgeregt die verschiedenen Aufenthaltsqualitäten verbindet.

Tradition und Region

Neben dem Beton bzw. Dämmbeton wird die Atmosphäre im Haus vor allem durch das Holz bestimmt: ein Weißtannen-Holz aus regionalen Wäldern. Obwohl das Projekt als öffentliches Gebäude auch öffentlich ausgeschrieben und der günstigste Anbieter gewählt werden musste, konnten für die ausführenden Arbeiten der bei diesem Projekt gestaltprägendsten Gewerke – Rohbauer, Zimmerer und Schreiner – Handwerksbetriebe aus der Umgebung beauftragt werden. „Das war für uns sensationell gut“, schwärmt Thomas Steimle, denn bei ihnen sei das Bewusstsein für die traditionelle Bauweise vor Ort und das Verständnis für den Umgang mit den Materialien optimal gewesen. So konnten Christine und Thomas Steimle zusammen mit Handwerkern vor Ort nicht nur vom Entwurfsansatz her, sondern auch in der Ausführung den Spagat zwischen historischer Vorgabe und heutiger technischer wie architektonischer Herausforderung meistern.

Thomas Geuder, Stuttgart

Baudaten

Objekt: Bücherei Kressbronn

Standort: Kressbronn am Bodensee

Typologie: öffentliche Folgenutzung des historischen Stadels als Bücherei

Bauherr/Nutzer: Gemeinde Kressbronn am Bodensee

Architekt: Steimle Architekten BDA, Stuttgart,

www.steimle-architekten.com

Mitarbeiter: Jens Oehmigen

Bauleitung: vdo Architekten GmbH, Weingarten, www.vdo-architekten.de

Bauzeit: November 2016 – August 2018

Fachplaner

Tragwerksplaner: wh-p Ingenieure, Stuttgart,

www.wh-p.de

TGA-Planer: Ingenieurbüro Rolf Witschard, Ravensburg, www.ib-wischard.de

Elektroplanung: Ingenieurbüro Straub, Tettnang

Akustikplaner, Energieplaner/-berater: Bobran Ingenieure, Stuttgart, www.bobran-ing.de

Landschaftsarchitekt: Jetter Landschaftsarchitekten, Stuttgart, www.jetter-landschaftsarchitekten.de

Brandschutzplaner: Landratsamt Bodenseekreis, Friedrichshafen, www.bodenseekreis.de

Projektdaten

Grundstücksgröße: 3 450 m²

Nutzfläche gesamt 685 m²

Nutzfläche: 525 m²

Technikfläche: 30 m²

Verkehrsfläche: 130 m²

Brutto-Grundfläche: 860 m²

Brutto-Rauminhalt: 3 500 m³

Baukosten (nach DIN 276)

Gesamt brutto: 4,1 Mio €

Energiebedarf

Primärenergiebedarf: 108 kWh/m²a nach EnEV 2013

Endenergiebedarf Wärme: 34 kWh/m²a nach EnEV 2013

Jahresheizwärmebedarf: 37,5 kWh/m²a nach PHPP/EnEV 2013

Energiekonzept

Dach: Sparrendach Bestand mit Mineralwolledämmung 140 mm, Unterdeckplatte 60 mm

Außenwand EG: Dämmbeton, 700 mm;

Außenwand OG: Holz-Ständerwände, 200 mm

Fenster EG: Holzrahmen, Dreischeiben-Sonnenschutzverglasung

Pfosten-Riegel-Fassade OG: Holz-Alu, Dreischeiben-Sonnenschutzverglasung

Boden: Perimeterdämmung unter Bodenplatte 120 mm, Trittschalldämmung 30 mm, Wärmedämmung 80 mm

Gebäudehülle

U-Wert Außenwand EG = 0,52 W/(m²K),

U-Wert Außenwand OG = 0,25 W/(m²K),

U-Wert Bodenplatte = 0,15 W/(m²K)

U-Wert Dach = 0,21 W/(m²K)

Uw-Wert Fenster = 0,8 W/(m²K)

Ug-Wert Verglasung = 1,0 W/(m²K)

Haustechnik

Heizung über Geothermie, Erdwärme über Erdsonden mit Wärmepumpe 36 KW

Energiepeicherung über Pufferspeicher 1 000 l

Kontrollierte Be- und Entlüftung mit WRG in Teilbereichen

Abluftanlage in Teilbereichen

Hersteller

Dach: Dachziegelwerke Nelskamp GmbH,

www.nelskamp.de

Holzlamellen Fassade: Häussermann GmbH & Co. KG, www.haeussermann.de

Dämmbeton Erdgeschoss: Liapor GmbH & Co. KG, www.liapor.com

Der gewählte Dämmbeton für die Sockelgeschoss-Fassade erlaubt eine einfache Detaillierung in den Bereichen Sockel und Fensterlaibungen. Gelungene Proportion zwischen Sockel und Obergeschoss mit Holzschalung. Die Öffnungen im Erdgeschoss und die Verwendung der gleichen Holzlamellen reduzieren den Gegensatz zwischen leichter Holzkonstruktion und massivem Sockel. Innenräumlich schöner Kontrast zwischen den Bauelementen, der neutrale Charakter des Sichtbetons rückt die alte Holztragkonstruktion in den Vordergrund.

⇥DBZ Heftpate Matthias Reese

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