Hommage an regionale Bauweisen

Wattenmeerzentrum, Ribe/DK

Der Baukörper bildet in Geometrie, Fassaden- und Dachmaterialität eine gelungene assoziative Verknüpfung zum umgebenden Naturraum, zu traditionellen Bauelementen und Handwerk. Das Bestandsgebäude wird in den Gesamtkomplex mühelos integriert. Innen wird auf die Analogie jedoch komplett verzichtet.

DBZ Heftpate Matthias Reese

Der größte Nationalpark Dänemarks, „Vadehavet“ – das dänische Wattenmeer, gehört seit 2014 zum UNESCO Weltnaturerbe. Grund genug für die Kommune von Esbjerg, einen Wettbewerb auszuloben mit dem Ziel, das bereits bestehende Besucherzentrum in Vester Vedsted bei Ribe auszubauen und zu erweitern. Die Kopenhagener Architektin Dorte Mandrup gewann den Architektenwettbewerb, indem sie die regionalen Formen der Bauernhöfe und die traditionelle Bauweise mit Reet neu interpretierte.

Bauen in der Region

Die Stadt Ribe ist die älteste Stadt Dänemarks und liegt ca. 50 km nördlich der deutsch-dänischen Grenze. Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit war hier der wichtigste Hafen an der dänischen Nordsee, heute ist das Esbjerg. In der fruchtbaren Marschlandschaft siedelten bereits seit der Eisenzeit Menschen. Um sich gegen Wind und Wetter zu schützen, haben die Bauten hier traditionell einen Hof, entweder U-förmig an drei Seiten oder quadratisch an allen vier Seiten umschlossen. Oft stehen sie auf so genannten Warften, künstlich aufgeschütteten Hügeln, die gegen die Flut schützen, und meistens sind sie mit Reet gedeckt. „Schon die Wikinger bauten Reetdächer. Die Bauweise hat sich bis heute kaum verändert“, erläutert Architekt Kasper Pilemand, der das Projekt geleitet hat. „Die Landschaft hier ist geprägt von der Weite und von horizontalen Linien. Das haben wir in unserem Entwurf neu interpretiert. Der Bestandsbau bildete ursprünglich ein L. Er war von den Proportionen nicht gut gefügt und stand nicht in Einklang mit der Landschaft. Mit unserem Konzept haben wir ihn so erweitert, dass ein geschützter Hof entsteht. Und mit dem Material Reet formen wir einen Baukörper, der mit der Landschaft verschmilzt, aus ihr herauswächst. Die horizontalen Linien kehren in den Fassaden wieder.“ Wo Öffnungen sind, wird der Blick gezielt in die Landschaft oder in den Hof gelenkt. Das Gelände liegt 2,50 m über N.N. und ist so gegen Hochwasser geschützt.

Bauen mit Reet

„Das Interessante an Reet ist, dass man es formen kann. Das Material kann viel mehr als nur ein Dach sein“, betont Kasper Pilemand. Mit präzisen Schnitten haben die Handwerker einen einzigartigen Baukörper aus Reet geschaffen, mit Einschnitten, großen Dachüberständen und Überschneidungen von diagonalen und vertikalen Linien. Bis es dazu kam, gab es mehrere Testphasen. „Wir haben ganz früh eine Ausschreibung für die Reetkonstruktion gemacht und gemeinsam mit den Spezialisten die Konstruktion entwickelt“, erinnert sich der Projektarchitekt. Es gab drei Prototypen. Einer davon wurde direkt auf der Baustelle errichtet, sodass Interessierte sich die Konstruktion dort genau anschauen konnten. Später kamen zwei weitere Handwerksfirmen hinzu, die die Fassaden vor Ort ausführten. Auch ein Holländer brachte sein Know-how ein. Insgesamt sind 2 600 m² Wand- und Dachflächen mit Reet bedeckt. Dafür sind rund 25 000 Schilfbündel verarbeitet worden, die in der Nähe des Grundstücks geerntet worden waren.

Materialwahl und Nachhaltigkeit

Die tragende Konstruktion der Bestandsbauten aus dem Jahr 1995 ist eine Stahlkonstruktion mit Trennwänden aus Mauerwerk. Die Stahlkonstruktion wurde auch als Tragwerk für die Erweiterung übernommen, nur bestehen hier die Trennwände aus vorgefertigten Holztafelelementen. Um die Bestandsbauten in das neue Gebäudeensemble formal zu integrieren, sind ihre Fassaden und Dächer mit vorpatiniertem Robinienholz verkleidet. Alle Rahmen der Glasflächen in den Fassaden bestehen aus geöltem Eichenholz, Terrassen und Holzstege sind aus Thermoholz. Die Wahl der Konstruktion und der Materialien unterstützt die Idee, dass das Gebäude „aus der Landschaft wächst“. Das Reet als widerstandsfähige Gebäudehülle kommt direkt aus der Umgebung. Das Robinienholz wird in Plantagen gezüchtet und bleibt auch ohne chemische Konservierung im Außenbereich lange stabil. Die Gestaltung der Wand- und Dachflächen mit gezielt platzierten Öffnungen für das Tageslicht resultiert aus einem Abwägen zwischen den Anforderungen an die Belichtung der Ausstellungsflächen und dem Energieverbrauch. Ohne Solaranlagen oder vergleichbare zusätzliche energetische Maßnahmen hat das Gebäude einen Energieverbrauch von 40 kWh/a.

Brandschutz

Eine besondere Herausforderung war der Brandschutz, dem die Planer mit einer „Warmdachkonstruktion“ begegneten. Unter dem Reet befindet sich eine brandhemmende Schicht aus Glasfaser, kombiniert mit Steinwolle. Ein Tuch aus Glasfaser, das erst bei Temperaturen von 800 °C schmilzt, ist vollflächig unter dem Reet verspannt. Darunter ist Steinwolle in einer bestimmten Abfolge von unten nach oben verlegt. Sie widersteht Temperaturen von bis zu 1 000 °C. „Auch hier haben wir zahlreiche Tests gemacht“, erklärt der Projektarchitekt. „Mit dem Ziel, die Luftzirkulation so weit zu drosseln, dass sich im Falle eines Feuers keine richtigen Flammen bilden, sondern nur Rauch, der schnell erstickt werden kann.“ Zusätzlich sind die Reetwände und -dächer in den Bereichen der Fluchtwege mit einem salzhaltigen, feuerhemmenden Spray behandelt, das im Abstand von fünf Jahren auf das Reet gesprüht werden muss. Im Gebäude gibt es ein Warnsystem und alle Mitarbeiter werden regelmäßig geschult, was im Brandfall zu tun ist. Das Gebäude liegt so abgeschieden, dass die Feuerwehr im Ernstfall 15 bis 20 Minuten für die Anfahrt benötigt.

Ausstellungskonzept: Der Zug der Vögel

Das Ausstellungskonzept stand bereits vor dem Architektenwettbewerb fest. Jährlich landen 15 Mio. Zugvögel auf ihrem Flug von Norden nach Süden in riesigen Schwärmen im Wattenmeer. Die Besucher können diese Vögel in der Ausstellung auf ihrer Reise begleiten. Räumlich geführt werden sie vom „Dunkeln“ ins „Helle“. „Der Zug der Vögel ist das Leitbild“, erklärt der Projektleiter von Dorte Mandrup und fährt fort: „Wir haben in enger Abstimmung mit den Ausstellungsmachern von Johan Carlsson gearbeitet und uns regelmäßig getroffen.“ Die Ausstellung mündet im letzten Raum in die beeindruckende
Installa­tion von Jason Bruges Studio „The Digital Ornithology“, bei der ein Schwarm aus 562 kleinen LCD-Bildschirmen in den Himmel zu fliegen scheint. „Ziel dieser Ausstellung ist es, uns die Augen zu öffnen für die enorme Vielfalt dieser Landschaft und für den Dreh- und Angelpunkt, den das Wattenmeer für die Zugvögel darstellt. Die Ausstellung ist ein ganzheitliches Erlebnis, Szenografie, Kunst, Handwerk und Film sollen uns berühren und anregen, direkt nach draußen zu gehen, um den Zugvögeln zu begegnen“, sagt Ausstellungsmacher Johan Carlsson.

⇥Susanne Kreykenbohm, Hannover

Baudaten

Objekt: Wattenmeerzentrum

Standort: Okholmvej 5,

Vester Vedsted, 6760 Ribe/DK

Typologie: Museumsbau

Bauherr: Kommune Esbjerg/DK,

www.esbjergkommune.dk

Architekt: Dorte Mandrup A/S, Kopenhagen/DK,

www.dortemandrup.dk

Projektarchitekt: Kasper Pilemand

Bauunternehmen: Bo Michelsen A/S, Tønder/DK, www.bomichelsen.dk

Wettbewerb: 2014

Fertigstellung: Februar 2017

Fachplaner/Spezialisten

Ausstellungsarchitektur: JAC studios, Kopenhagen/DK, www.jacstudios.dk; Jason Bruges, London/GB, www.jasonbruges.com; No Parking, Kopenhagen/DK, www.noparking.dk

Lichtplanung: Fortheloveoflight, Kopenhagen/DK,

www.fortheloveoflight.dk

Landschaftsplanung: Marianne Levinsen Landskab, Kopenhagen/DK, www.mariannelevinsen.dk

Ingenieure/Tragwerksplanung: Steensen & Varming, Kopenhagen/DK, www.steensenvarming.com; Anders Christensen, Birkerød/DK, www.anderschristensen.dk

Reetkonstruktionen: Tækkemand Kim Andersen, Herning/DK,

www.kandersen.dk; Arne Klüver, Gislev/DK, www.tækkemandarnekluwer.dk; Ruud Conijn/Hemmed Tækkefirma, Glesborg/DK,

www.tag-ruud.dk

Projektdaten

Bruttogeschossfläche: 2 800 m²

Hersteller

Brandschutzsystem (Reet): Sepatec, www.sepatec.dk

Holz (Robinie): Starupwood Scandinavien DA,

www.starupwood.no

Schiebetür außen: Madsen Vinduer & Døre ApS, www.madsen-vd.dk

Fenster und Türen (Fassade): Krone Vinduer A/S, www.kronevinduer.dk

Oberlichter: Alux,

www.akripol.si/de/brands/alux/

x

Thematisch passende Artikel:

Ausgabe 06/2017

Vadehavscentret, Ribe/DK

An der Westküste Dänemarks, ca. 20?km nördlich von Sylt, liegt der Nationalpark „Vadehavet“. Der macht diesen Teil des größeren und grenzüberschreitenden Wattenmeeres zugänglich und schützt...

mehr
Ausgabe 12/2008

Wollen wir in der Kunst wohnen?! Interieur Exterieur. Wohnen in der Kunst. Eine Ausstellung

Natürlich meinen die Ausstellungsmacher es anders. Ihr „Wohnen in der Kunst“ hat einen eher genremalerischen Ansatz und zeigt uns 250 Jahre Wohngeschichte in der Kunst. Aber anders herum könnte...

mehr
Ausgabe 02/2020

The Playground Project im DAM

Noch bis zum 21. Juni können große und kleine Kinder im Erdgeschoss des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt a.?M. spielen. Nicht, dass die Ausstellungsmacher jetzt auf ein Verbot reagiert...

mehr
Ausgabe 05/2018 Öffentlicher „Hof der Domherren“

Gemeindezentrum Kannikegården, Ribe/DK

Kannikegaarden, Ribe; Lundgaard & Tranberg Architects

Der kleine Ort Ribe an der dänischen Westküste ist geprägt von seiner mittelalterlichen Backsteinstruktur. Inmitten des Ortes, gegenüber der größten romanischen Kirche Dänemarks, stellte das...

mehr
Ausgabe 05/2024 Im Gespräch mit … Kengo Kuma www.bundeskunsthalle.de

Auf gutes Handwerk angewiesen

Zugegeben, die Ausstellung von Arbeiten des Japaners Kengo Kuma mit dem rätselhaften Namen „Onomatopoeia Architecture“ besetzt nicht den Hauptraum der Bundeskunsthalle. Dennoch hat die Ausstellung,...

mehr