Crystal Houses,
Amsterdam/NL
Die extrem überraschende Fassade aus geklebten Glasblöcken mit all den traditionellen, aber auch komplizierten Details wurde trotz des gegensätzlichen Materialvokabulars und dank intensiver technischer und handwerklicher Forschungen und Experimente auf hohem Niveau zu einem delikaten Brillanten in der Stadt.
⇥DBZ Heftpate Mick Eekhout
Beim Neubau eines Amsterdamer Geschäftshauses haben MVRDV aus Rotterdam ein ungewöhnliches Experiment gewagt und eine Fassade mit Klinkern aus Glas ausgebildet. Das Ergebnis ist ein aufwändig gefertigter Hybrid, der trotz transparenter Schaufront wie ein typisch niederländisches Giebelhaus daherkommt.
Das zunächst durch das französische Modelabel Chanel und ab November durch einen noch geheim gehaltenen neuen Nutzer angemietete Geschäftshaus wirkt auf den ersten Blick als stilvoll gekleideter, dabei silbrig schimmernder Altbau, der sich nahtlos in die bestehende Zeile aus Backsteinbauten einfügt. Beim Näherkommen wird aber schnell sichtbar, dass die Außenhaut mehr ist als experimentell schillernde Glasur. Denn statt mit traditionellen Backsteinklinkern haben die Architekten die unteren beiden Ebenen des dreigeschossigen Hauses mit transparenten Glasbausteinen ausgebildet. Die obere Gebäudehälfte wurde demgegenüber im Stil der Nachbarhäuser mit braunroter Ziegelfassade, kleinen Dachgiebeln einschließlich Traufverzierungen, vorstehenden Balken und Flaschenzügen gestaltet. Im Ergebnis ist damit ein ebenso innovativer wie vertrauter Blickfang gelungen, der sich mühelos gegen die benachbarten Flagship-Stores zu behaupten weiß.
Hybrid aus Alt und Neu
Lange Zeit war die P. C. Hooftstraat eine ganz normale Wohnadresse. Erst in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Straße zunehmend zu einer hochpreisigen Shoppingmeile entwickelt. Um in diesem noblen Umfeld eine ausreichend große Ladenfläche zu erhalten, stand schon zu Beginn fest, dass der auf dem Grundstück vorhandene, aber deutlich zu kleinteilige Vorgängerbau aus dem Jahr 1910 abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt werden musste. Ebenso fest stand auch, dass der Neubau eine großflächige Glasfassade als werbewirksames Schaufenster bieten sollte.
Ausgehend von diesen Vorgaben entwickelten die mit der Planung direkt beauftragten MVRDV Architekten den Vorschlag, das neue Geschäftshaus an den Formenkanon der benachbarten Bestandsbauten anzupassen und dabei eine Neuinterpretation der traditionellen Klinkerfassade umzusetzen, die nicht aus Backstein, sondern, wie gefordert, aus Glas besteht: „Auf diese Weise konnten wir das, was wir vorher zerstören mussten, in veränderter Weise wieder zurückbringen“, erklärt Projektarchitekt Gijs Rikken. Wichtig dabei ist die Rolle der Fassade als Prototyp: „Denn unsere Hybrid-Lösung ist letztlich an jedem Ort der Welt denkbar. Sie erfüllt auf zeitgemäße Weise die Ansprüche an eine möglichst transparente Schaufensterfront, ohne dabei beliebig zu wirken und ohne den Charakter der regionalen Bautradition aus dem Blick zu verlieren.“
Fließender Übergang
Die transparenten Glasbausteine gleichen dem Normalklinkerformat und wurden auf der Baustelle sogar als Fenster- und Türstürze eingesetzt. Zusätzlichen Reiz erhält das Konzept durch den fließenden Übergang zwischen den Glasziegeln im unteren Bereich und den herkömmlichen Backsteinklinkern, die oberhalb des Mezzaningeschosses eingesetzt wurden. Und auch statisch erfüllen die Steine alle Anforderungen: „Denn da das Primärtragwerk des Geschäftshauses aus Stahlträgern besteht, muss das gläserne Mauerwerk lediglich sein Eigengewicht sowie einwirkende Windlasten auffangen“, erklärt Gijs Rikken. „Aufgrund der extrem steifen Konstruktion, die die von Beton deutlich übertrifft, ist das aber kein Problem.“
Im Innenraum steht den Nutzern eine 620 m2 große, komplett stützenfreie Ladenfläche mit einer Höhe von bis zu 10 m zur Verfügung. Die Beheizung und Kühlung erfolgt mit einer Wärmepumpe auf Basis von Geothermie, deren Sonden rund 150 m tief in den Amsterdamer Boden reichen: „Trotz der Glasfront mit ihrem hohen Licht- und Wärmeeinfall ist damit für ein ganzjährig angenehmes Raumklima gesorgt“, erklärt Gijs Rikken.
Aufwendige Entwicklung
So verblüffend einfach die Idee der gläsernen Klinker auf den ersten Blick wirkt, so kompliziert gestaltete sich deren Fertigung: Jeder einzelne der insgesamt 7 000 Glasbausteine wurde in Handarbeit durch die Firma Poesia aus Resana bei Venedig in drei verschiedenen Formaten gegossen. Um dabei eine optimale Maßhaltigkeit zu erhalten, wurden die Oberflächen der an den Kanten abgerundeten Steine in einem aufwendigen Prozess maschinell und teilweise in Handarbeit geschliffen und poliert. Als ähnlich aufwendig erwiesen sich auch die Arbeiten auf der Baustelle, wo die Steine dann nicht, wie sonst üblich, mit einer mineralischen Mörtelschicht, sondern stattdessen mit einem unter UV-Licht aushärtendem, transparentem Spezialklebstoff verbunden wurden: „Insgesamt waren bis zu zehn Experten gleichzeitig ein Jahr lang vor Ort beschäftigt, um die Glasfassade Stein für Stein aufzubauen“, erklärt Gijs Rikken. „Die Baustelle glich also letztlich eher einem Labor als einer normalen Baustelle!“
Robert Uhde, Oldenburg
Faidra Oikonomopoulou und Telesilla Bristogianni promovierten an der Glass & Transparency Gruppe der TU Delft und forschten zwei Jahre lang an den Glasbausteinen und deren Eigenschaften für Crystal Houses in Amsterdam. Das Forschungsprojekt zeigt das Potential von gegossenem Glas, aber auch die Herausforderungen, die in der akribisch genauen Handarbeit mit dem minimal aufgetragenem Klebstoff stecken. Zum Thema „Glas recyceln“ finden Sie unter „Re3 Glas“ auf der Website der TU Delft weitere Forschungsergebnisse, an denen beide mitgearbeitet haben.
Bei der Entwicklung des Klebstoffs und der Ausarbeitung der passenden Fügetechnik haben die Architekten eng mit der TU Delft zusammengearbeitet. Wie ist es zu dieser Kooperation gekommen?
Telesilla Bristogianni: Das Projekt geht aus von der Vision, eine völlig transparente und selbsttragende Fassade mit Bausteinen aus Gussglas herzustellen, die ohne Stahl oder andere opake Tragelemente den berechneten Windlasten standhält. Aufgrund des hohen Innovationspotentials und der zahlreichen unbekannten Faktoren bezüglich der Struktur und der dazu notwendigen Computerberechnungen hatte das für die technische Umsetzung zuständige Büro ABT schon frühzeitig entschieden, uns in die Entwicklung miteinzubeziehen.
Welche Eigenschaften muss die Klebelösung vorweisen?
Faidra Oikonomopoulou: Um die Anforderungen von ABT umzusetzen, haben wir zunächst verschiedene hochfeste Klebstoffe recherchiert und diese dann hinsichtlich Haftfestigkeit, Transparenz, UV-Stabilität und Anwendbarkeit untersucht und bewertet. Das schließlich verwendete Produkt, ein UV-härtendes Acrylat der Firma Delo aus Offenbach, erfüllt in dieser Hinsicht sämtliche Voraussetzungen.
Was waren die spannendsten Fragen, die es zu erforschen galt?
Telesilla Bristogianni: Der Klebstoff wird idealerweise in einer geringen Dicke aufgetragen. Das erforderte aber auch, dass der gesamte Prozess des Glasgießens und Nachbearbeitens der Steine darauf abgestimmt werden musste. Ebenso mussten wir klären, wie der Klebstoff auf der Baustelle richtig aufgetragen werden muss und wie man die eingesetzte UV-Lampe am besten positioniert, damit der Kleber absolut transparent und mit einer bestimmten Intensität aushärtet. Zusätzlich haben wir spezielle Schlagprüfungen mit einem Vorschlaghammer durchgeführt, um die Widerstandsfähigkeit der Steine gegen Vandalismus zu simulieren und um mechanische Daten und Spezifikationen für die Glassteine festzulegen.
Gab es unerwartete Situationen mit dem Material?
Faidra Oikonomopoulou: Ja, beim Verkleben auf der Baustelle haben wir ganz früh bemerkt, dass ein Stein aus der darunterliegenden Schicht herausgebrochen ist. Und das nur, weil die Oberkante dieses Steins einen winzigen Fehler aufwies. In Kontakt mit dem Klebstoff des aufliegenden Steins schrumpfte er deshalb und bildete schließlich einen Riss aus. Deshalb haben wir sämtliche Steine anschließend noch mal extra auf ähnliche Mängel hin untersucht.
Die Fragen an Faidra Oikonomopoulou und Telesilla Bristogianni stellte Robert Uhde.
Baudaten
Standort: P.C. Hooftstraat,
Amsterdam/NL
Typologie: Geschäfts- und Wohnhaus
Bauherr: Warenar Real Estate, Amsterdam/NL, www.warenar.eu
Architekten: MVRDV, Rotterdam/NL, www.mvrdv.nl
Team: Winy Maas, Gijs Rikken, Mick van Gemert, Marco Gazzola, Renske van der Stoep and Antonio Luca Coco
Forschung: TU Delft; Team: Frederic A. Veer, Faidra Oikonomopoulou, Telesilla Bristogianni, www.tudelft.nl
Fertigstellung: 2016
Fachplaner
Tragwerksplaner: ABT Ingenieure, Muttenz/CH, www.abt-ing.ch
Delo Kleber: Siko BV, Hengelo/NL, www.sikobv.nl
Projektdaten
Fläche Wohnen: 220 m²
Hersteller
Glasbausteine: Poesia Glass Studio, Resana/IT, www.poesiaglass.studio