Dem Kommen und Gehen gebaut
Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg
In Heidelberg, aber jenseits des Neckars, liegt ein wahrlich gigantischer Klinikkomplex. Das neue NCT ist hier nur ein Winzling, der in der Gemengelage hochrangiger Institute allerdings sehr selbstbewusst seinen Platz eingenommen hat. Und hier eine wichtige Rolle spielt.
Es ist schon paradox: Da wird die Medizin immer komplexer – weil der Mensch als physisch/chemischer Organismus immer tiefer erforscht wird; gleichzeitig erwarten die Universitätskliniken und alle anderen medizinischen Großunternehmen, dass die Komplexität und hohe Dichte der Apparatelandschaften und –strukturen in ihrer Minimalisierung zum Verschwinden gebracht werden. Waren Krankenhäuser immer schon auf Zweckmäßigkeit getrimmt – vom frühneuzeitlichen Hôtel-Dieu de Beaune bis zu Le Corbusiers Projekt Ospedale di Venezia –, eine Zweckmäßigkeit, die in den letzten Jahrzehnten auf den Aspekt der Wirtschaftlichkeit zugespitzt wurde, so versucht man zunehmend, das Krankenhaus als reine Maschine (Universitätsklinikum Aachen beispielsweise) zu überwinden und dem physikalisch/chemisch determinierten Organismus Mensch noch auf anderen Feldern zu begegnen: auf emotionalen, geistigen, spirituellen, menschlichen?!
Ganz besonders dann, wenn ein Klinikum auf besondere Krankheitsbilder spezialisiert ist oder nur für Kinder oder nur für alte Menschen da ist. Den Schwerkranken möchte man heute nicht mehr mit Fluren begegnen, die dunkel sind und endlos lang Zimmer auf beiden Seiten reihen. Es soll nicht mehr nach Krankenhaus riechen, nicht mehr danach aussehen, es soll einfach kein Krankenhaus mehr sein.
Manche Investoren verlangen fröhliche Farben
Manche Investoren verlangen daher fröhliche Farben. Oder heimelige Wohnzimmermöbel. Oder irgendwie beruhigende Bilder an den Wänden. Oder vergleichbare Musik. In jeden Falle viel Licht auf den Fluren und in den Zimmern, in welchen dann aber doch drei Kranke miteinander klar kommen müssen; es sei denn, man ist zusätzlich oder ganz anders versichert. In Heidelberg, einer Stadt mit Universität und überraschend großem Klinikum dazu, wurde – etwas außerhalb auf der grünen Wiese – ein Klinikensemble gebaut und auch in Zukunft weitergebaut, dessen Ausmaße so sind, dass es auch international wettbewerbsfähig ist (denn Wettbewerbsfähigkeit spielt bei Kliniken dieser Größe eine entscheidende Rolle). Hier, zwischen Klinikbeständen und Neubauten liegt das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, das im Herbst 2010 eröffnet wurde.
Ergebnis eines geladenen Wettbewerbs, den Anfang 2005 Behnisch Architekten für sich entscheiden konnten, steht der Neubau heute zwischen Kopfklinikum, Ionenstrahlen-Therapie und Kinderklinik. Die schon in die Jahre gekommenen, sich auftürmenden Studentenwohnheime liegen jenseits der Straße „Im Neuenheimer Feld“, an welcher der Neubau mit der Hausnummer 460 seinen Platz gefunden hat.
Kein „Ort der stillen Schönheit“
Kein „Ort der stillen Schönheit“, wie ein Wettbewerbsteilnehmer seinen Entwurf übertitelte, und damit weit über das hinaus und daneben schoss, was ein onkologisches Exzellenzzentrum sein kann. Denn hier geht es nicht um Davos’sche Dekadenz à la Zauberberg, die Bauherrenallianz zwischen dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und dem Universitätsklinikum Heidelberg mit Förderung durch die Deutsche Krebshilfe versteht die Klinik als ein weiteres der in Deutschland schon etablierten Spitzenzentren (Comprehensive Cancer Center, CCC). Hier soll „Exzellenz in der translationalen Krebsforschung mit interdisziplinärer Patientenversorgung“ verbunden werden. Die Architektur soll alle ambulanten und tagesklinischen Chemotherapien des Klinikums, die bislang im Otto-Meyerhof-Zentrum des Universitätsklinikums vorgenommen werden, in einem Gebäude unter Leitung der Abteilung Medizinische Onkologie zentralisieren. Das NCT nimmt damit die Ambulanzen der Abteilungen Medizinische Onkologie, Gynäkologische Onkologie, Dermatologische Onkologie, Neuroonkologie und der Radioonkologie und Strahlentherapie sowie die zentrale Chemotherapie-Tagesklinik auf, ergänzt durch spezifische Beratungsangebote für Patienten u.a. zur Ernährung, Bewegungstherapie und Psychoonkologie. Und als wäre das alles nicht genug, sind hier zudem die Kern-Forschungsbereiche des NCT untergebracht.
Komplexes Innenleben
Angesichts solcher Komplexitäten könnte man anfangen, zu verzweifeln. Oder den interdisziplinären und patientennahen Gedanken in eine Raumstruktur fassen, die schlicht aber zugleich verfeinert ist. Dass die Klinik eine Tagesklinik ist, sollte nicht vergessen werden, vielleicht führten dieses bewegende Moment, die hohe Fluktuation, die Bewegungsströme im Haus, zur Grund- und Aufrissgestalt. Besucher und Patienten betreten den langgestreckten, äußerlich in zwei horizontal geschichtete Volumina geteilten Bau über das vier Geschosse hohe Atrium. Mit seiner umlaufenden Treppenrampenlandschaft, die zwischen den Ebenen vermittelt und mit Tageslicht von oben her hell gemacht wird, steht es funktional (und eben nicht topografisch) im Zentrum. Hier liegen die Cafeteria mit Terrasse, Krankengymnastikräume oder die Besprechungsräume, von welchen insbesondere diejenigen zu nennen sind, in welchen so genannte Tumorboards ihren Platz haben. Hier wird, auch mit den Patienten, die Sachlage interdisziplinär präsentiert und die Behandlung weitergedacht. Diesen Räumen gegenüber wurde ein Raum der Stille in Edelstahlbändergeflecht aufgehängt, eine zeitgenössische Referenz an verschwiegene Krankenhauskapellen. Außen ein perfekter Körper im Raum bedarf er innen jedoch noch eines zündenden (künstlerischen?!) Funkens.
WDVS einmal anders
Das vermittelnde Atrium teilt das Volumen aber auch in einen östlichen, dreigeschossigen Bauteil, in welchem die Laborbereiche untergebracht sind, und den westlichen Teil mit Behandlungs- und Untersuchungsräumen und Verwaltung. Während Laborräume und Medizinische Abteilungen durch das grün gefärbte Glas der Fassaden mit den anliegenden Gärten verwoben wirken, schwebt das zweigeschossige polygonale Volumen hinter weißer skulpturierter Putzfassade über dem Ganzen. Die in die Fassade eingeschnittenen Vouten bilden je nach Sonnenstand ein wechselndes Schattenspiel. Die in erster Linie aus Kostengründen eingesetzte WDVS-Lösung wurde damit an dieser Stelle anders als sonst üblich interpretiert.
Für die Patienten wurde ein großzügiger, freundlicher Empfangsbereich gestaltet, von dem aus sie in die vier ambulanten Module weitergeleitet werden. Geschützte Wartebereiche sind mit Blick nach Draußen angeordnet. Die Untersuchungs- und Behandlungsräume liegen entlang der Fassaden. Oberlichter in den Flurtrennwänden versorgen die Erschließungsbereiche mit Tageslicht. Die Verkehrsflächen sind hier mit geschliffenem Estrich versehen, Behandlungs- und Wartebereiche haben Eichenparkett als Bodenbelag, keine Selbstverständlichkeit in Räumen, in welchem die Angst vor Infektion noch immer zu panischem wie zugleich gefährlichem Desinfizieren verleitet.
Außenbezug
An die ambulanten Module ist jeweils eine Tagesklinik für die chemotherapeutische Behandlung mit separaten Wartebereich und Leitstelle angeschlossen. Die Behandlungen finden in offenen, loungeähnlichen Bereichen statt, in denen durch halbhohe Schrankmöbel und Trennwände kleine Sitzgruppen von drei bis fünf Liegesesseln gebildet werden. Diese Bereiche wirken freundlich, fast hat man den Eindruck, die sich hier aufhaltenden Patienten ruhen sich lediglich kurz aus, bevor sie irgendwo und ganz energisch ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Fassaden sind hier großzügig und mit freiem Ausblick in den ihnen vorbehaltenen Garten verglast. Sichtschutz bieten auf der Ebene 00 dichte Hecken. Eine vorgelagerte Terrasse kann auch während der chemotherapeutischen Behandlung genutzt werden. In der Ebene 01 ist der Tagesklinik zusätzlich eine Balkonfläche vorgelagert, um auch hier die Möglichkeit zu geben, sich im Freien aufzuhalten.
Der Schwesternstützpunkt befindet sich hinter einem großzügigen Tresenelement, das Teil der offenen Möblierung der Therapiebereiche ist. Von hier aus können die Schwestern den Behandlungsbereich überblicken. Der gesamte Tagesklinikbereich ist ebenfalls mit Eichenparkett ausgelegt. Ausgestattet ist dieser mit besonderen Therapieliegen, die von Behnisch Architekten in Zusammenarbeit mit einem Hersteller von medizinischen Liegen und in enger Abstimmung mit den Nutzern entwickelt wurden und wenig mit herkömmlichen Therapiemöbeln gemein haben. Im westlichen Teil der Ebenen 02 und 03 befinden sich die Büros Medizin / Forschung. In Ebene 03 ist außerdem angrenzend an diese das Direktorium untergebracht. Die Trennwände sind abwechselnd großflächig mit transparentem Glas, satiniertem Glas oder Holztäfelung versehen; ein Bankvorstand könnte nicht angemessener untergebracht sein.
Raummöbel
Unbedingt zu erwähnen sind noch die wo immer möglich ausgeprägten Fensterlaibungen aus Eichenholz, in die entweder Regale oder Sitzbänke integriert sind. Letztere schaffen wie nebenbei einen Raum im Raum, der zur Kommunikation oder auch zum Innehalten in der kontinuierlichen Fluktuation einlädt. Dass die Klinik auf ein Leitsystem nicht verzichten kann, ist selbstverständlich, doch die Beschränkung auf eine einfache Typologie zeigt, dass das Gebäude trotz seiner Länge sehr schnell räumlich zu erfassen ist.
Dem Kommen und Gehen nachgibig
Vielleicht sollte man noch sagen, dass das Gebäude den Anforderungen eines energetisch optimierten Funktionsbaus entspricht und man durch intelligente Planung die Kosten für die Installation und den Betrieb der Lüftungsanlage beispielsweise durch eine Kombination von bauteilaktivierten Decken und Teilklimatisierung optimieren konnte. Doch solches erscheint selbstverständlich. Weniger das Gefühl, das man hat, wenn man die Klinik verlässt: Fast vermisst man das tiefe Luftholen, das automatisch erfolgt, wenn man in einem Gebäude war, das einem unmerklich die Luft genommen hat. Das mag mit dem oben schon beschriebenen Verstecken zu tun haben, ganz sicher aber auch mit einer Architektur, die dem Kommen und Gehen nachgiebig genug ist, dem Suchen zuverlässig, und dem Dableiben eine selbstverständliche Haltung gegenüber einnimmt. Be. K.
Baudaten
Projekt:
Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg
Standort:
Im Neuenheimer Feld 460,
69120 Heidelberg
Bauherr:
Dr. Mildred Scheel Stiftung für Krebsforschung, Bonn
Architekten:
Behnisch Architekten, Stuttgart,
Stefan Behnisch, David Cook,
Martin Haas
Projektleitung:
Andreas Hardegger (Projektleiter),
Sebastian Wockenfuss (Projektarchitekt)
Mitarbeiter:
Dina Gallo, Marc Hofmann, Karsten Klenk, Dominic Nocon, Andreas Peyker, Martina Straub, Anka Volk
Projektsteuerer:
B.I.S. GmbH Beratende Ingenieure Schaaf, München
Fachplaner
Ingenieure/Fachplaner:
ZWP Ingenieur-AG, Köln
Akustikplaner:
ITA Ingenieurgesellschaft für technische Akustik MBH, Wiesbaden
Medizintechnik/Laborplanung:
wup woernerundpartner planungs-
gesellschaft mbh,Frankfurt a. M.
Projektdaten
Wettbewerb: 2005 (1. Preis)
Baubeginn: 2007
Fertigstellung: 2010
Fläche BGF: 13 120 m²
Volumen BRI: 55 860 m³
Nutzfläche NF: 5565 m²
Arbeitsplätze: 180
Kosten:
29 Mio. € (brutto)
Konstruktion:
Stahlbeton-Massivbauweise
Auszeichnungen:
Beispielhaftes Bauen Heidelberg 2003-2010, und 2011 WAN Award Healthcare Sector