Wohnhaus an der alten Stadtmauer, Berlin

Entdeckung des Raumes
Wohnhaus an der alten Stadtmauer, Berlin

Eine Baulücke mit einer kniffligen Parzellengeometrie, aber an einem sehr historischen Ort fand in Berlin mit Sohrab Zafari einen Architekten, der die gewohnte ökonomische Logik von maximalem Ertrag auf ganz eigene Weise für eine erstaunlich vielfältige Landschaft des Wohnens in der Stadt zu lösen verstand – für eine Architektur zwischen vielen Zeiten und Räumen.

Alt, wirklich alt ist Berlin nur an wenigen Stellen. Eine dieser Stellen findet sich versteckt hinter dem S-Bahnviadukt des Alexanderplatzes mit seiner neuen Mall Alexa. Ein letzter Rest von Berlins mittelalterlichen Stadtmauer ist dort erhalten geblieben, malerisch umgeben von einigen barocken Gebäuden wie der Parochialkirche. Ein Bereich der Stadt, den nur wenige Passanten durchstreifen, da später Wilhelminismus und DDR dieses alte Stadtquartier allzu monofunktional mit großen Verwaltungsgebäuden abriegelten. So verirren sich oft nur ein paar Büroangestellte und Kulturtouristen in die kleine Waisenstrasse, wo nun ein neues Wohnhaus mit einer Architektur jenseits des Gewöhnlichen große Neugier erregt.

Was den Passanten als Erstes ins Auge fällt, ist das leuchtende Weiß dieses Hauses, dann seine seltsamen kubischen Einschnitte und Staffelungen, die keiner bekannten Logik zu folgen scheinen. Einladend und wehrhaft zugleich wirkt das neue Gebäude, dessen fast schon dramatische monolithische Geschlossenheit zur Strasse hin ­verblüfft, aber auch wiederum mit seinen Einschnitten großzügige Einblicke erlaubt. An London oder New York, an Richard Meyers ­Architektur fühlt sich der gebildete Stadttourist erinnert, der sich ­dennoch irrt, denn hier hat ein junger Berliner Architekt gebaut, der Welt gewandt viele Kulturen in seiner Architektur miteinander zu ­verschmelzen versteht.

Es war in der Waisenstrasse vor allem der ungünstige Grundstückszuschnitt, von dem die ungewöhnliche Architektur von Sohrab Zafari ihren Ausgang nahm: Eine Baulücke mit einer schmalen Straßenfront, doch großen Tiefe und zahlreichen verspringenden Grundstücksgrenzen, die eigentlich nur Solitäre oder problematische Brandwandbebauungen erlaubte. Kompliziert war die Geometrie des 517 m² großen Grundstücks, was wohl auch erklärt, weshalb erst 2011 ein Immobilienentwickler Interesse daran fand, hier zwischen einem alten Hospiz und einem unwirtlichen Telekom-Gebäude einen Neubau zu wagen. Maximal verwertbarer Wohnraum war sein Wunsch, dem der deutsche Architekt mit iranischen Wurzeln eine sehr individuellen architektonische Lösung abgewann.

Nicht ein Haus, sondern vielmehr ein Ensemble mit einem siebengeschossigen, abgewinkelten „Vorderhaus“ mit fünf Wohnungen sowie zwei Hofhäusern, fünf- und dreigeschossig, entwickelte der Architekt auf der Baulücke. Eine sehr dichte Bebauung mit 1 700 m² Bruttogeschossfläche, die überraschend viele wie vielgestaltige Freiräume und Einschnitte auf verschiedenen Niveaus aufweist, die nun vor allem viel Tageslicht in die Wohnungen bringen. Eine höchst artifizielle Architekturlandschaft mit einer fast schon mediterranen Anmutung ging daraus hervor, die dem sonst so flachen Berlin eine ­völlig unerwartete Topographie abgewann.

Ein Geschoss hoch geht es von der Straße über eine ins Vorderhaus eingeschnittene Freitreppe zu den beiden Hofhäusern, wo das größere Hofhaus mit einem vorangestellten Patio den Freiraum mit seinen scharfkantigen Einschnitten und auskragenden Volumina entschieden wie dramatisch weitet und sich den Besuchern sehr unterschiedliche Wege um die Häuser anbieten. Einer dieser Wege führt um ein Geschoss tieferen Gartenhof, den sich das kleinere Hofhaus und eine kleine Parterrewohnung gemeinsam teilen. Geschickt inszeniert wechseln sich entlang der Wege überraschend großzügige Festverglasungen mit großen geschlossenen Wandflächen ab, was nur noch mehr die plastischen Qualitäten der nicht rechtwinkligen Mo­nolithen im Wechsel des Tageslichts hervortreten lässt. Was sich erstaunlicher Weise auch im Innern der Häuser bruchlos fortsetzt, deren Wohnungen Niveausprünge nicht scheuen und wo sich gerade auch im Vorderhaus immer wieder abknickende Wege von einem zum ­anderen Wohnbereich auftun.

Konzipiert für ein gehobenes Wohnklientel verstehen es die 110 bis 290 m² großen Wohnungen zu überraschen. Über fünf Ebenen erstreckt sich etwa die oberste Maisonettewohnung des Vorderhauses mit Seitengebäude, dessen Wohnzimmer man direkt vom Treppenhaus betritt, um dann zum Hof hin einen halben Meter tiefer zur Küche zu wechseln, von der es wahlweise ein Geschoss tiefer in den Schlafbereich oder ein Geschoss höher zu einer höchst artifziellen Dachlandschaft geht. Eine Dachlandschaft auf zwei Niveaus mit einem tieferen windgeschützten Außenbereich inklusive Panorama-Fenster und einer Dachterrasse mit wasserumspülten Liegeinseln, auf denen sich die Stadtlandschaft von Berlin Mitte genießen lässt. Hier konnte der Architekt sein ganzes Können auch als Innengestalter einbringen – mit einer zweigeschossigen Pfostenriegelganzglasfassade vor einen Küchenbereich aus Perlino-Stein, soliden Dielenböden und einem sehr plastisch eingeschnittenen Baderaum, wo eine kreuzförmigen Dusche mit zwei Sitznischen alte Badekultur wiederaufleben lässt. Im größeren Hofhaus verstand er es hingegen auf Wunsch seines Bauherrn sogar einen Pool räumlich faszinierend als integralen Teil seines Patios auf dem dritten Geschoss in Szene zu setzen.

Individualität und hohe Flexibilität

Sehr flexibel und erstaunlich virtuos ent-

wickelte Sohrab Zafari, der bei Enric Miralles und schneider+schumacher sein Handwerk lernte, mit den Eigentümern im Verlaufe des Verkaufs viele Lösungen der einzelnen Wohnungen oft erst auf der Baustelle. Was wohl den Statiker sehr forderte, der zudem Zafaris Vorzug von Über- statt Unterzügen in die massive Stahlbetonkonstruktion berücksichtigen musste. Das Ergebnis, die beeindruckende Individualität und räumlichen Qualitäten der einzelnen Wohnungen – zwei Maisonetten und drei Etagenwohnungen im Vorderhaus – rechtfertigen ihre Mehrarbeit als auch die ungewöhnliche, aber aufgrund der besonderen Gebäudegeometrie notwendige Entscheidung zweier Treppenhäuser für´s Vorderhaus, für ein Haupt- und ein Fluchttreppenhaus.

Dabei verstand es der Architekt geschickt den „zweiten Notausgang“ in Wandmöbel zu integrieren oder für einen eigenen Ausgang aus dem Jugendzimmer zu nutzen. Aus Brandschutz- und Budgetgründen entschied man sich wiederum für einen hohen Anteil von Festverglasungen mit wenigen Öffnungsklappen oder Schiebeelementen sowie eine WärmedämmverbundFassade.

Komplexe Raumkonfigurationen

Schwer fällt die architektonische Zuordnung von Zafari komplexen Raumkonfigurationen, die eine tiefe Freude am Entwickeln indivi­dueller Lösungen zum Ausdruck bringen – Wohnarchitektur nicht als konventionelle Meterware, sondern als dreidimensionale Erfahrungsräume zu schaffen. Man könnte das Ensemble an der alten Stadtmauer als eine moderne Interpretation islamischer Baukunst verstehen. Mit einem stählernen, abstrakten Mashrabiya-Band entlang des Erdgeschosses der Straßenseite, das hier weniger dem geschützten Ausblick als der Maskerade unterschiedlich tiefer Räume dahinter dient, das Hauseingang, Tiefgarageneinfahrt, Hofzugang und verschiedene Nebenräume verschleiert. Die Introversion des Ensembles, dessen inszenierte Öffnung zu den Lichthöfen im Innern mutet ebenfalls islamisch an (kann Anderen auch europäisch-mittelalterlich erscheinen). Das Gleiche gilt für den Haus­eingang, der sich tief und verwinkelt in das Volumen einschneidet, sich verengt, dann weitet und für eine dramatische Inszenierung von Dunkel und Hell, von rohem Beton und abstrakten LED-Lichtstreifen genutzt wurde. Erstaunlich reif, erstaunlich vielfältig wird hier das Wohnen in der Stadt neu interpretiert und für eine globalisierte Gesellschaft fortgeschrieben. C.Käpplinger, Berlin

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