Für den Schwung sind Sie zuständig
Im Gespräch mit Heike Nessler, Matthias Ludwig und Philip Kurz. Auf RügenEnde April wurde auf Rügen der sogenannte „Müther-Turm“ nach seiner Sanierung feierlich eröffnet. Finanziert hat die Wiederherstellung – wie auch die fast abgeschlossene der „Kurmuschel“, ebenfalls eine Arbeit von Ulrich Müther – die Wüstenrot Stiftung. Mit deren Geschäftsführer und kreativem Kopf, Philip Kurz, mit der die Sanierungsarbeiten verantwortenden Architektin, Heike Nessler, und mit dem Leiter des Müther-Archivs an der Hochschule Wismar, Matthias Ludwig, unterhielten wir uns über den Stiftungsauftrag, den schmalen Grat der Architektenverantwortung und den Müther-Mythos.
Lieber Herr Kurz: Nach Architektenikonen wie Le Corbusier, Gropius, Eiermann oder Scharoun, jetzt der Ulrich Müther. Und nicht eine Bushaltestelle von ihm, sondern gleich zwei seiner herausragenden Experimentalbauten. Folgt die Stiftung in der Auswahl ihrer Projekte eher dem Blick auf das Herausragende, Spektakuläre und weniger einem wie auch immer gearteten Qualitätsanspruch?
PK: Die Entscheidung für den Müther-Turm folgte zuerst wissenschaftlichen Überlegungen. Bei allen unseren Projekten sind wir darauf aus, neue denkmalpflegerisch relevante Erkenntnisse zu gewinnen, wir wollen bauphysikalisch und materialtechnisch anspruchsvolle Projekte bearbeiten. Aber ich würde wohl lügen wenn ich sagte, es interessiert die Stiftung nicht, wie spektakulär die Projekte sind. Unser Ziel ist es ja immer, dass wir Wertschätzung schaffen für Denkmale, dienoch wenig im Fokus stehen, z. B. weil sie noch sehr jung sind. Im Fall des Rettungsturms geht es aber auch ganz stark um Wertschätzung großer kultureller Hinterlassenschaften der DDR, mit der man bis heute oft nur die „Platte“ verbindet. Da ist aber viel mehr entstanden, wie man sieht. Und in die Breite kriegt man das Thema mit dem spektakulären Rettungsturm natürlich besser , als mit der von Ihnen genannten Bushaltestelle in Buschvitz.
Philip Kurz in einem Museumsshop, einen Müther-Architekturführer in der Hand … Kolportage oder reine Wahrheit?
PK: Die Geschichte stimmt schon. Die Stiftung ist ständig auf der Suche nach guten Projekten. Und wer nun glaubt, davon stünden tausende Geeignete herum, die nur darauf warten, entdeckt zu werden, der irrt. Tatsächlich müssen wir die guten Projekte meist mühsam suchen. Aber zurück zum Buch, das ist eine kleine Publikation bei niggli, eine wunderbare Sammlung knapper Informationen zum Werk Müthers. Auf Rügen, aber auch sonstwo in der Welt. Da habe ich Blut geleckt bei der kurzen Lektüre im Bookshop der Nationalgalerie.
Stichwort „Nutzungskonzept“: Bevor Sie loslegen, muss ein realistisches Nutzungkonzept stehen?
PK: Definitiv! Wir können und werden eine Denkmalsanierung nicht finanzieren, wenn das Denkmal ohne Nutzung bleibt. In Binz haben wir den echten Glücksfall, dass die Nutzung des Rettungsturms seitens der Gemeinde nie in Frage stand. Mit seinem außergewöhnlichen Design und dem einmaligen Ort am Strand konnte der Turm ohne Weiteres als Standesamt genutzt werden. Mit dem Turm haben die Binzer einen Ort, an dem jeder heiraten will.
Gab es etwas im Projektverlauf, das nicht glatt lief?
PK: Ja. Sie müssen bedenken, dass beide Bauten sehr prominent am Wasser stehen. Bauarbeiten während der Heirats-/Badesaison sollten deshalb vermieden werden. Das heisst, wir mussten in den Monaten Oktober bis Ende April arbeiten, direkt an der dann doch sehr stürmischen Ostsee! Regen, Sturm, Schnee! – wir konnten nur unter recht aufwendigen Schutzgerüsten arbeiten, was ein Projekt nicht einfacher macht
Gab es Überraschungen bei der Arbeit am Denkmal?
PK: Jetzt mag ja mancher denken, so ein kleines Projekt wie der Rettungsturm sei überschaubar. Aber ich sage Ihnen: Sie werden für Objekte dieser Größe gleich viele Besprechungen brauchen, ein gleich hohes Improvisationsvermögen, gleich starke Nerven wie bei einem wesentlich größeren Projekt. Und Überraschungen gibt es natürlich bei jedem Denkmalprojekt, wenn man Oberflächenbeschichtungen abnimmt und mit der Instandsetzung richtig loslegt.
Sie arbeiten konsequent mit lokalen Akteuren: Architekten, Baufirmen etc. Verliert die Stiftung damit nicht auch Know-how, das sie mit jeder Denkmalrettung gewinnt?
PK: Wir sehen alle unsere Projekte prozesshaft. Wir machen nicht die Planung fertig, die dann nur noch umgesetzt wird. . Wenn wir immer die gleichen Partner hätten, würden die Projekte nicht so gut, auch wenn es vielleicht einfacher oder zumindest routinierter wäre. Uns interessiert aber der immer neue und oft überraschend andere Blick, den wechselnde und vor allem auch lokale Akteure haben. Wir sind da sehr neugierig. Und nicht zuletzt wäre es doch fatal, an einem Ort wie Rügen, mit den Bauten von einem hier verwurzelten Ingenieur, das Signal zu setzen: Ihr könnt das nicht, dafür brauchen wir Experten aus Süddeutschland!Und am Ende teilen wir das neu gewonnene Know-how ja immer mit eine Publikation und einem Symposium, so dass andere die Erkenntnisse auch für ihre Arbeit nutzen können.
Liebe Frau Nessler, wie kommt ein Architekturbüro auf Rügen an die Wüstenrot-Stiftung?
HN: Das ist leicht erklärt. Rügen ist eine Insel mit starker Abwanderungsbewegung, der wir uns erfolgreich widersetzt haben. Zudem waren wir schon in der Vergangenheit Ansprechpartner für die lokale untere Denkmalbehörde. Die hat bei der Anfrage seitens der Stiftung dann unseren Namen genannt. Am Ende gab es ein kleines Auswahlverfahren, das wir für uns entscheiden konnten.
Waren die Sanierungsaufgaben Arbeiten weit jenseits Ihrer alltäglichen Praxis?
HN: Nein, die meisten Arbeiten machen wir sonst auch. Wenn man es abstrakt betrachtet, dann war die Sanierung des Rettungsturms die eines Gebäudes aus den 1980er-Jahren. Improvisation war gefragt, aber auch das ist bei jedem Projekt eher gewöhnlich.
An welcher Stelle musste improvisiert werden?
HN: Im Prinzip an jeder Stelle! Da wir hier nicht nach DIN oder anderen Vorschriften arbeiten können, ist unsere Arbeit eine auf einem schmalen Grat und am Ende muss man es auch verantworten können.
Für die beiden Müther-Projekte in Sassnitz und Binz wird es einen Pflegeplan geben?
HN: Ja, an dem werden wir demnächst zusammen mit dem Haustechnikplaner arbeiten. Und nach Winter und Frühjahr wird man beim Rettungsturm schauen, wie die Lage ist. Ganz sicher wird man regelmäßig etwas machen müssen an den Bauten. Wir sind auf jeden Fall im Zeitraum der Firmen-Gewährleistung mit dabei, also in den ersten vier Jahren.
Ganz am Rande gefragt: Warum gibt es den Pflegeplan eigentlich nicht für jeden Neubau?!
HN: Weiß ich auch nicht. Wir Architekten beraten tatsächlich oft erst dann, wenn der Schaden schon da ist … Aber: Ein Pflegeplan ersetzt nicht die tatsächliche Pflege!
Ist Müther für Sie nach dieser langen Arbeit jetzt vielleicht entzaubert? Oder noch mehr bewundert?
HN: Während der feierlichen Übergabe des Rettungsturms vor Tagen lief ein kleiner Film, in dem Müther auch kurz zu Wort kam. An einer Stelle sagt er: „Wir haben das dann einfach gemacht!“ Ich mache nun ziemlich viel Bauleitung und genau dieser Satz hat es auch für mich getroffen: Nicht zaudern, machen. Das ist vielleicht auch so ein bisschen unsere DDR-Geschichte, die da durchschlägt.
Wenn die Wüstenrot-Stiftung noch mal bei Ihnen anrufen sollte: Machen Sie wieder mit?
HN: Ja, unbedingt. Denn sehen Sie: Wann hat man als Architekt mit einem Bauherren zu tun, der einem so viel Zeit für die Planung lässt?! Der mit uns zusammen die Dinge erarbeitet, das Projekt durchaus kritisch begleitet? Das ist schon ein gewisser und durchaus seltener Luxus.
Lieber Herr Ludwig, als Müther-Experte die Frage an Sie: Gibt es einen Müther-Mythos?
ML: Ich denke, muss man in die ost- und die westdeutsche Sicht differenzieren. Aus ostdeutscher Perspektive ist der Müther eine ganz große Figur, vielleicht auch tatsächlich der von Ihnen angesprochene Mythos.
Aber woran liegt das? Hat Müther selbst an diesem Mythos gebaut?
ML: Ursächlich liegt das sicherlich an der Expressivität seiner Bauten, vor allem, wenn man das im Kontrast zur restlichen Architektur aus der DDR-Zeit sieht. Es wird ja der Satz kolportiert: „Für den Schwung sind Sie zuständig.“ Müthers Bauten sind bis heute Solitäre und dieses Alleinstellungsmerkmal ist es wohl, das zusammen mit der ganzen Persönlichkeit des Ingenieurs zu dessen Mythos - wenn Sie so wollen - beigetragen hat.
Alleinstellungsmerkmal in der Provinz: Hätte Müther in Berlin ähnlichen Erfolg gehabt?
ML: Ich denke nein. Seine Verortung am Rande wird er selbst sehr ambivalent gesehen haben. Einerseits hatte er weit weg von Parteizentralen größtmögliche Freiheiten, andererseits hatte er eben auch keinen Zugriff auf die großen Bauprojekte (ausgenommen die Großgaststätte „Ahornblatt“) in der damaligen Hauptstadt. Ganz sicher hätten seine Arbeiten, die von großer Kompromisslosigkeit gekennzeichnet sind, viel verhaltener, gezähmter ausfallen müssen , wenn er näher an den allgemeinen Architekturbetrieb herangerückt wäre.
Warum verschwinden die Architekten, die für viele seiner Entwürfe verantwortlich zeichnen, immer hinter dem Ingenieur und Bauunternehmer Müther?
ML: Sie haben es schon gesagt: Der Entwerfer des Rettungsturms, der Architekt Dietrich Otto, war beim Bauunternehmer Müther angestellt. Das kennen wir von großen Büros heute auch: Die kreativen Leute hinter dem Büroinhaber werden meistens nicht wahrgenommen. Dazu kam, dass Müther als Bauunternehmer die Projekte ja nicht bloß konzipiert sondern auch ausgeführt hat. Womit er die maximale Kontrolle über alle – dann eben „seine“ – Projekte hatte. Und nicht zuletzt : Ulrich Müther konnte sich immer schon, zu DDR-Zeiten aber auch später noch, sehr gut in Szene setzen.
Als Leiter des Müther-Archivs in Wismar: Wo liegt dessen Zukunft, mit was können wir rechnen?
ML: Zurzeit sind wir noch ganz mit der Erschließung des Archiv-Bestands beschäftigt, also mit Grundlagenarbeit. In nächster Zukunft wollen wir das Archiv öffnen für die Aufnahme weiterer Architekten bzw. Ingenieure. Vorzugszugsweise DDR-Architekten aus dem Nordosten Deutschlands Architektur Archive gibt es in Süddeutschland oder Berlin schon wir haben hier noch Nachholbedarf. Und wir glauben, dass das gerade erwachende Interesse an Architektur, die zu DDR-Zeit entstanden ist, hinweist auf die Notwendigkeit, eine große Forschungslücke zu schließen, bevor das Meiste verschwunden ist. Das umfasst die Biografien, die Architektur selbst aber auch das Technische, wie wir es gerade exemplarisch bei den Müther-Schalenbauten sehen. Der Schalenbau erlebt – das am Rande – gerade eine Art Revival. So forschen verschiedene Hochschulen, z.B. die ETH Zürich, an Betonschalen, die nicht mehr mit handgefertigten Bretterschalungen hergestellt werden, sondern durch zeitgemäßere Techniken. Da wird der Müther wieder zum großen Thema, gerade in unseren Zeiten der Ressourcenschonung.
Und wie heisst das Müther-Archiv in den nächsten Jahren?
ML: Da ist noch nichts konkret geplant, aber man könnte es in Anlehnung an die anderen Archive „Architekturarchiv der Moderne in Mecklenburg Vorpommern“ nennen. Wir wollen das zusammen mit den örtlichen Kammern und Berufsverbänden auf die Beine bringen und auch mit der Politik, die in Mecklenburg-Vorpommern aktuell ihr Projekt „Initiative Baukultur MV“ aufgelegt hat.
Mit Heike Nessler, Prof. Matthias Ludwig und Prof. Philip Kurz unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 26. April 2018 an unterschiedlichen Orten auf Rügen.