Grenzzustand der Tragfähigkeit
Setzungsschäden an einem Mauerwerksgebäude

Zusammenfassung

Bei einem alten Mauerwerksgebäude hatten sich Setzungsschäden ergeben, nachdem die Bohrpfähle einer benachbarten Baugrube partiell unterhalb des Fundaments der Giebelwand endeten. Das Bestandsgebäude war bei Zugrundelegung heutiger Normung rechnerisch bereits vor der Baumaßnahme nicht standsicher; gleichwohl war es über 100 Jahre lang bewohnt und genutzt worden. Die durch die Baumaßnahme verursachten Setzungen stellten eine zusätzliche Beanspruchung dar, die den Tragwiderstand einiger Mauerwerkspfeiler überschritt. Das Gebäude war danach tatsächlich nicht mehr standsicher.

 

Sachverhalt

Neben einem innerstädtisch gelegenen alten Wohnhaus sollte ein Neubau errichtet werden. Zur Sicherung der Baugrube war unmittelbar angrenzend an die Giebelwand des Bestands­gebäudes eine Bohrpfahlwand errichtet worden. Während und nach diesem Zeitraum bildeten sich in den Mauerwerkswänden des Bestandsgebäudes zahlreiche Risse. Schließlich wurde durch einen Tragwerksplaner die Bewertung vorgenommen, die Standsicherheit des Bestandsgebäudes sei nicht mehr gegeben. Es erfolgte die Evakuierung.

Im Rahmen eines anschließenden Gerichtsverfahrens sollte die Ursache der Schäden geklärt werden. Darüber hinaus sollte eine Bewertung der Verantwortlichkeiten aus technischer Sicht erfolgen.

Feststellungen

Das Bestands-Wohngebäude mit Kellergeschoss, Erdgeschoss, vier Obergeschossen sowie einem nicht ausgebauten Dachgeschoss mit Steildach war gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden. Es handelte sich um ein Gebäude mit Ziegel-Mauerwerk und Holzbalkendecken. Lediglich die Decke über dem Kellergeschoss war als Stahlträgerdecke ausgebildet. Zum Zeitpunkt der Ortsbesichtigung war das Gebäude bereits geräumt. Bei der zur Baugrube orientierten Giebelwand sowie bei mehreren Mauerwerkspfeilern im Erdgeschoss waren Sicherungsmaßnahmen durchgeführt worden (Bild 1).

Die komplette Baugrube war durch eine überschnittene Bohrpfahlwand umfasst. 13 Bohrpfähle im Bereich der Giebelwand des Bestandsgebäudes wiesen eine geringere Höhe über der Baugrubensohle als die übrigen Pfähle auf. Die Bohrschablone war dort bereichsweise direkt gegen die Giebelwand betoniert worden (Bild 2).

In dem alten Wohngebäude wurde eine Bestandsaufnahme der Mauerwerksrisse vorgenommen. Wesentliche Risse waren insbesondere im Kellergeschoss, im Erdgeschoss, im Treppenhaus sowie im Bereich der Giebel- bzw. Kommunwände vorhanden. Im Kellergeschoss hatte sich darüber hinaus unmittelbar bei tragenden Wänden der Estrich bis zu etwa 10 cm abgesenkt (Bild 3). Im Erdgeschoss waren insbesondere in den nahe der Baugrube befindlichen Mauerpfeilern massive Risse vorhanden. Das Mauerwerk war dort bereichsweise zudem ausgebrochen. Die Bruchbilder zweier Mauerwerkspfeiler sind in den Bildern 
4 und 5 dargestellt. In den weiter von der Baugrube entfernten Mauerwerkswänden im Erdgeschoss waren Risse mit Rissbreiten bis zu 7 mm sowie einem Versatz der Rissufer vorhanden. In den Obergeschossen wurden Risse insbesondere im Bereich der Giebel- bzw. Kommunwände festgestellt. Besonders auffällig war ein über die gesamte Höhe des Gebäudes verlaufender Riss zwischen den Außenwänden und der – von der Baugrube entfernt liegenden – Kommunwand des Nachbargebäudes. Dieser keilförmige Riss wies eine nach oben hin zunehmende Rissbreite auf. In halber Gebäudehöhe lag diese bei etwa 2 cm (Bild 6); bei der obersten Geschossdecke wies dieser Riss eine Breite von ca. 4 cm auf.

Die Kommunwand war zu dem Nachbargebäude gehörig. Das heißt, beide Gebäude hatten eine gemeinsame – zum älteren Nachbargebäude gehörige – Kommunwand. Das geschädigte Wohnhaus „riss“ somit im Bereich der oberen Geschosse vom Nachbargebäude bzw. der entsprechenden Kommunwand ab und wies gegenüber dem Nachbargebäude eine Schiefstellung auf.

Die zur Baugrube orientierte Giebelwand war mittels Mauerankern an den Holzbalkendecken verankert. Zur Überprüfung der Art und Weise der Verankerung an den Decken wurde eine Öffnungsstelle angelegt, bei der der Dielenboden entfernt wurde. Die Maueranker waren dort in den Raum hinein bis über den – von der Giebelwand aus gesehen – zweiten Deckenbalken geführt und mittels Nägeln befestigt.

Die Wanddicke der tragenden Wände nahm oberhalb des Erdgeschosses sowie oberhalb des zweiten Obergeschosses sprunghaft ab. Zur Überprüfung des Mauerwerksverbands zwischen den Längswänden (straßen- und hofseitige Außenwand sowie Mittelwand) und der zur Baugrube orientierten Giebelwand wurde das Mauerwerk an mehreren Stellen durch Entfernen des Wandputzes freigelegt. Hierbei ergab sich kein einheitliches Bild: Bei einigen Stellen banden die Mauerziegel der Längswände nur wenige Zentimeter in das Mauerwerk der Giebelwand ein. Bei anderen Stellen griffen die Mauerziegel der Längswände bzw. der Giebelwand deutlich ineinander.

Die Fundamente wurden im Kellergeschoss an mehreren Stellen durch Anlegung von Schürfen bereichsweise freigelegt. Bei der zur Baugrube orientierten Giebelwand bestand das Fundament aus gemauerten Vollziegeln. Es lag dicht unterhalb des Kellerbodens. Im Bereich der Bohrpfähle mit geringerer Höhe wurden Bohrungen unmittelbar unterhalb und oberhalb des Fundaments der Giebelwand angelegt. Durch die Bohrungen wurden Bewehrungsstähle gesteckt. Hierdurch wurde festgestellt, dass sich das Fundament partiell oberhalb der Pfahlköpfe der Bohrpfähle befand (Bilder 7 und 8). Dieses Ergebnis wurde später zusätzlich durch einen Vermesser bestätigt. Bei der zur Baugrube nicht verputzten Giebelwand wurde festgestellt, dass mehrere unterschiedliche Steinformate vermauert worden waren. Um eine Zuordnung des Mauerwerks hinsichtlich der Druckfestigkeit vornehmen zu können, wurden an insgesamt 20 über das gesamte Gebäude verteilten Stellen Bohrkerne aus dem Mauerwerk entnommen. Die Probenahme erfolgte jeweils derart, dass mit einer Bohrkrone ein Binderstein aus dem Mauerwerksverband herausgebohrt wurde. Die entnommenen Mauerziegel wurden im Labor hinsichtlich der Rohdichte sowie der Druckfestigkeit überprüft. Sie waren in die Rohdichteklasse 1,6 und die Druckfestigkeitsklasse 6 einzugruppieren. Die Zuordnung zur Druckfestigkeitsklasse erfolgte aufgrund der kleinsten Einzelwerte der unterschiedlichen Ziegel. Als Mörtel wurde im gesamten Gebäude ein Kalkmörtel mit einer Gesteinskörnung verwendet, dessen Festigkeit ebenfalls bestimmt wurde. Aus den Festigkeiten von Mauerziegeln und Mörtel wurde die rechnerisch anzusetzende Druckfestigkeit des Mauerwerks abgeleitet.

 

Bewertung

Die vertikalen Risse bzw. Bruchbilder bei den Mauerwerkspfeilern im Erdgeschoss (vgl. die Bilder 4 und 5) weisen darauf hin, dass das dortige Mauerwerk infolge einer Überbeanspruchung versagt hatte. Diese Mauerwerkspfeiler mussten die Lasten der darüber befindlichen Wand inklusive der anteiligen Lasten der darüber befindlichen Decken aus dem zugehörigen Lasteinzugsbereich abtragen. Insofern wäre der entsprechende Gebäudeteil ohne Sicherungsmaßnahmen nicht standsicher gewesen.

Für das Gebäude waren vor Beginn der benachbarten Baumaßnahme Begehungen zur Beweissicherung durchgeführt worden. Im Rahmen dieser Begehungen waren bereits Risse festgestellt worden. Nach dem Start der Grundbauarbeiten war es dann in einem – gemessen an der über hundertjährigen Standzeit des Gebäudes – vergleichsweise sehr kurzen Zeitraum zu einer ganz erheblichen Zunahme der Risse und Schadensbilder gekommen. Ein Zusammenhang mit der Herstellung der Baugrube bzw. der Bohrpfahlwand ist somit naheliegend. Jedoch muss hinsichtlich der Ursachen eine differenzierte Bewertung vorgenommen werden. Dabei wird einerseits die Beanspruchbarkeit des Tragwerks unter gewöhnlichen Lasten und andererseits der Einfluss außergewöhnlicher Lasten aus den Grundbauarbeiten untersucht.

Die baukonstruktive Gestaltung des Bestandsgebäudes entsprach prinzipiell vergleichbaren Altbauten. Die im ausgehenden 19. Jahrhundert – also zur Zeit der Errichtung des Gebäudes – geltenden bzw. üblichen Anforderungen [1], [2] waren weitgehend eingehalten. Die Abweichungen der vorhandenen Baukonstruktion von den Anforderungen sind als nicht maßgeblich anzusehen. Das Gebäude entsprach somit im Wesentlichen hinsichtlich der Beanspruchbarkeit der tragenden Baukonstruktion den zur Zeit der Errichtung geltenden Anforderungen. Wesentliche altersbedingte Schäden an den historischen Baustoffen – z. B. erhebliche Feuchteschäden bzw. Verrottung – wurden nicht festgestellt. Die geprüften Ziegel entsprachen den im ausgehenden 19. Jahrhundert üblichen Materialanforderungen hinsichtlich der Dichte sowie der Druckfestigkeit; allerdings wiesen
die ermittelten Druckfestigkeiten der unterschiedlichen Ziegel eine große Streuung auf.

Die auf Grundlage heutiger Normung berechneten ständigen und veränderlichen Einwirkungen überschreiten rechnerisch den auf Grundlage der Materialprüfungen ermittelten Tragwiderstand des Mauerwerks teils deutlich. Das Gebäude war daher bei Zugrundelegung der heutigen Normung rechnerisch nicht standsicher. Darüber hinaus waren die berechneten Bodenpressungen sehr hoch. Diese Umstände waren allerdings durch reine Inaugenscheinnahme nicht erkennbar.

Aus den Grundbauarbeiten resultierten für das Bestandsgebäude zusätzliche außergewöhnliche Einwirkungen. Baugrundverformungen hinter Bohrpfahlwänden können nur minimiert, nicht aber vollständig vermieden werden. Infolge der Bohrpfahlarbeiten können – insbesondere weil die Bohrschablone partiell direkt gegen die Giebelwand betoniert worden war – Erschütterungen verur-sacht worden sein und infolge des Aushubs können Verformungen der Bohrpfahlwand aufgetreten sein. Maßgeblich ist hier aber wohl, dass das Fundament des Bestandsgebäudes im Zuge des Aushubs bereichsweise untergraben wurde. Nach DIN 4123 [3] darf ein Gebäude „nicht ohne ausreichende Sicherungsmaßnahmen bis zu seiner Fundamentunterkante oder tiefer freigeschachtet werden“. Dem Fundament des Bestandsgebäudes ist hier im Bereich der Pfähle mit geringerer Höhe (vgl. Bild 2) örtlich die Stützung entzogen worden. Dies führt insbesondere bei Fundamenten mit geringer Längssteifigkeit zu Setzungen. Diese Setzungen wiederum haben eine erhöhte Beanspruchung des Bestandsgebäudes bewirkt.

Die statische Berechnung des Gebäudes hatte bereits ohne Ansatz einer Lastumlagerung infolge einer Setzungsdifferenz auf Grundlage der heutigen Normung eine deutliche rechnerische Überbeanspruchung einiger Mauerwerkspfeiler ergeben. Die aus den Setzungsverformungen resultierenden Lastumlagerungen hatten dann eine zusätzliche Erhöhung der Beanspruchung der Mauerwerkspfeiler zur Folge. Diese zusätzliche Beanspruchung hat schließlich dazu geführt, dass nach einer Standzeit von über 100 Jahren die betreffenden Mauerwerkspfeiler von dem Zustand einer auf Grundlage heutiger Nor­mung rechnerisch nicht gegebenen Stand­sicherheit in den Zustand einer tatsächlich nicht gegebenen Standsicherheit gelangt sind.

Zusammenfassend kann die Bewertung vorgenommen werden, dass das Bestandsgebäude nicht so massiv geschädigt worden wäre, wenn nicht die benachbarte Baumaßnahme zu unvermeidbaren und vermeidbaren Beanspruchungen geführt hätte. Es ist jedoch auch davon auszugehen, dass ein nach heutiger Normung rechnerisch standsicheres Gebäude die erhöhten Beanspruchungen infolge der Baumaßnahme voraussichtlich erduldet hätte, ohne dass es zu einem bereichsweisen Versagen gekommen wäre. Insofern war der Schadenshergang letztlich durch ein ungünstiges Zusammentreffen beider Faktoren – der Baumaßnahme einerseits und der geringen Reserve gegenüber dem Verlust der tatsächlichen Standsicherheit des Bestandsgebäudes andererseits – möglich. Daher wurden aus technischer Sicht einerseits den Planern und Ausführenden der Neubaumaßnahme und andererseits auch dem Eigentümer des Bestandsgebäudes Verursachungsanteile zugeordnet.

 

Instandsetzung

Für das Bestandsgebäude wäre insbesondere auch ein Austausch der stark geschädigten Mauerwerkspfeiler im Erdgeschoss erforderlich gewesen. Dazu hätten die hierauf einwirkenden Lasten während des Bauzustands abgefangen werden müssen. Darüber hinaus wären zahlreiche weitere Maßnahmen erforderlich gewesen, so dass eine Instandsetzung des Bestandsgebäudes nicht wirtschaftlich war. Das Gebäude wurde schließlich abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt.

 
Literatur
[1] Warth, O.: „Konstruktionen in Stein“, J.M.
Gebhardt Verlag, 1903
[2] Bargmann, H.: „Historische Bautabellen – Nor-
men und Konstruktionshinweise 1870-1960“, 5. Auflage, Werner Verlag, 2012
[3] DIN 4123:2013-04: „Ausschachtungen, Grün-
dungen und Unterfangungen im Bereich beste hender Gebäude“

Schon gewusst?

Mauerwerk versagt bei einer zu großen Druckbeanspruchung üblicherweise infolge eines Aufspaltens der Mauersteine. Die Aufspaltungen werden durch eine Querdehnung des Mauermörtels verursacht: Durch die Druckbeanspruchung ergibt sich in den Mauerziegeln und im Mörtel der Lagerfugen entsprechend der Elastizitätstheorie eine Querdehnung. Da der Mörtel im Allgemeinen eine größere Querdehnung aufweist als die Mauersteine, resultieren hieraus im Ziegel Querzugkräfte und im Mörtel Querdruckkräfte; die Ziegel behindern die größere Querdehnung des Mörtels (Bild 9). Sofern die Querzugkräfte in den Ziegeln deren Festigkeit überschreiten, kommt es zum Bruch der Ziegel. Dieses Versagen führt zu deutlich sichtbaren vertikalen Rissen im Mauerwerk sowie zu Ausbrüchen der Ziegel am Rand (vgl. die Bilder 4 und 5).

Quintessenz

Gebäude dürfen ohne Sicherungsmaßnahmen nicht bis zur Fundamentunterkante oder tiefer freigeschachtet werden. Dies setzt voraus, dass die Fundamentunterkante zuvor exakt erkundet wird.

Sicherungsmaßnahmen bestehender Gebäude im Zuge von Grundbauarbeiten müssen auch dessen Tragwiderstand berücksichtigen. Dieser kann ohne statische Berechnungen bzw. durch reine Inaugenscheinnahme in Einzelfällen nicht ausreichend bewertet werden.

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