Bäume aus Stahl

Haltestelle Münsterplatz, Mainz

Mehr Platz auf dem Münsterplatz schafft das Planerteam Bierbaum.Aichele.Landschaftsarchitekten, Schoyerer Architekten_Syra und osd / office for structural design. Durch den neu organisierten Straßenraum entstand mehr Fußgängerfläche und Ordnung. Die robuste und hochwertige Haltestellen-Architektur im öffentlichen Raum wurde vorgefertigt und so vor Ort schneller aufgebaut und montiert.

Noch immer ist es laut auf dem Mainzer Münsterplatz. Über 1 000 Busse, Bahnen und noch mehr Autos donnern täglich darüber. Dazwischen Radler auf schmalen Schutzstreifen und Fußgänger auf teils ebenso schmalen Bürgersteigen. Am Rande stehen ein paar Bäume vor einer uneinheitlichen Bebauung. Hier Gründerzeit, dort Nachkriegsbauten. Schon lange war der Münsterplatz infrastrukturell überfordert und bildete trotz zentraler Lage zwischen Hauptbahnhof und Altstadt weder eine Platzqualität noch eine Adresse aus. Aber es tut sich was, seit die Stadt Mainz im Dezember 2014 zum Wettbewerb lud. In diesem galt es, den Straßenzug vom Bahnhof über den Münsterplatz bis zum Schillerplatz, insgesamt etwa 500 m Straßenraum, neu zu organisieren und zu gestalten. Das Team von Bierbaum.Aichele.Landschaftarchitekten, SCHOYERER ARCHITEKTEN_SYRA und den Tragwerksplanern von osd überzeugten mit einem Entwurf, der mehr Fußgängerfläche und Ordnung im Straßenraum schafft. Sämtliches Stadtmobiliar, Bus­haltestellen, Anzeigetafeln, Bänke, selbst Bäume, stehen auf schmalen Streifen, die die Bahnhofstraße begleiten. Dahinter bleibt großzügig Platz für Passanten.

Ein Wald aus Edelstahl

Auf dem Münsterplatz in Mainz plante das Team ein Gegenüber zweier Dächer, das den Platz optisch und atmosphärisch zusammenbindet. Das grüne Laubdach einer Baumgruppe auf der südlichen Seite, auf der nördlichen ein daran angelehntes Stahldach. Das schwebt auf filigranen, versetzt angeordneten Edelstahlstützen, wie Bäume aus Stahl. Zu ihren Füßen liegen zwei Sitzinseln aus Holz. Die Wirkung des Daches im Stadtraum beeinflusste fast alle nachfolgenden Entscheidungen. Der Architekt Julian Schoyerer erklärt: „Das Dach soll ein Treffpunkt sein, den man bis weit in die Bahnhofsstraße sieht.“ Daher ist die östliche Dachkante bis an die Bordsteinkante vorgerückt, während die andere Seiten die Häuserfluchten aufnehmen. Die schmale Dachkante ist so in der Bahnhofstraße weithin sichtbar und ermöglicht an der Haltestelle den wettergeschützten Einstieg in Busse und Bahnen. In seiner Höhe orientiert sich das Dach an den südseitigen Erdgeschossen. Weil der Platz nach Norden leicht abfällt, das Dach selbst aber horizontal ist, erreicht die Dachhöhe auf der nördlichen Haltestellenseite mit fast 5 m eine Höhe, die kontrovers diskutiert wurde. Man befürchtete, dass der Regen seitlich zu tief unters Dach gelange. Doch die Höhe lässt Licht, Luft und Weite in den überdachten Raum.

Pyramiden falten

Aus der stadträumlichen Wirkung resultiert auch die Entscheidung für ein räumliches, gefaltetes Dachtragwerk. Architekt Schoyerer sagt: „Wir wollten ein filigranes Dach mit einer möglichst geringen Aufbauhöhe.“ Das Dach soll schützen, aber nicht auftragen. Für kleine Querschnitte kam nur ein Stahltragwerk in Frage. Für eine möglichst schlank wirkende Konstruktion mit der notwendigen Stabilität bei Eigen- und Windlasten plante das Team ein Raumtragwerk aus umgekehrten Pyramiden. So ergibt sich eine statisch wirksame Hülle aus einem dünnen Edelstahlblech mit schmalen Außenkanten. Die Pyramidenbleche sind innen mit längslaufenden Stegblechen ausgesteift, was die Dicke der Hüllbleche bis auf 8 mm reduziert. Gitterroste schließen das Dach nach oben ab und schützen die Regenfallrohre vor groben Schmutz, Müll und Laub. Die Fallrohre verlaufen jeweils in den Edelstahlstützen, ebenso wie die Elektroinstallationen für je zwei dachintegrierte Leuchten.

Acht Pyramidendächer auf acht Rundrohrstützen wurden zu 164 m² Dachfläche verbaut und miteinander verschraubt. Die einzelnen Dachmodule haben eine Breite von 2,45 m und sind unterschiedlich lang. Das maximale Längenmaß von 8,50 m ergab sich aus der Herstellung, dem Transport und der Montage. Die Bleche mussten zum Beispiel als Ganzes ins Tauchbad und auf die Lkw-Ladefläche passen. „Wir haben alle Prozesse schon im Entwurf mit einberechnet, um die Kosten realistisch zu kalkulieren,“ sagt Prof. Klaus Fäth, Gesellschafter bei osd. Was selbstverständlich erscheint, braucht Weitsicht und Glück. ­Julian Schoyerer sagt: „Wir haben hier direkt in Mainz einen Stahlbauer mit überlanger Kantbank gefunden.“ So konnte die Pyramide, anstatt aus vier Stücken zusammengeschweißt, aus einem Stück gekantet werden. Klaus Fäth erklärt: „Das reduzierte die Kosten für Schweißarbeiten und auch die Gefahr von blauen Verfärbungen im Edelstahl als Reaktion auf die Hitze beim Schweißen.“

Jules-Verne-Technik für die Langzeitwirkung

Statt über trübende Verfärbungen sorgten sich die Auftraggeber über gleißende Lichtspiegelungen. Unbegründet, wie der Blick nach oben zeigt: Das Dach hat eine Vintage- statt einer Spiegeloptik. Schleifspuren und die Aussteifungsbleche zeichnen sich auf dem elektropolierten Edelstahl ab, die Oberfläche reflektiert die Umgebung nur schwach als mattes Farbmuster. Julian Schoyerer sagt: „Wir wollten kein High-Tech, sondern die Anmutung einer Jules-Verne-Technik.“ (siehe Bildunterschrift Seite 47) Er verweist auf die Verschraubungen der Stützen mit der Dachunterseite, die an alte Nieten erinnern. Für einen eher unfreiwilligen Vintagelook der Stützen sorgen Werbeaufkleber, die sich hier wie überall im öffentlichen Raum finden. Die aber lassen Schoyerer kalt: „Edelstahl ist eigentlich unkaputtbar. Das Dach wird sicher länger leben als wir und ist dabei fast wartungsfrei.“ Sagt es und zieht einen der Aufkleber ab. Er ergänzt: „Diese Langzeitwirkung eines Bauwerks wird viel zu selten in die Investitionsrechnung der Kommunen einbezogen.“

Aber weil sich nicht alles genau vorhersagen lässt, braucht es Flexibilität im System, wie hier beim Bau der Fundamente. Klaus Fäth erklärt: „Die Gewerke von Beton- und Stahlbau haben unterschiedliche Maßtoleranzen.“ Eine herkömmliche Millimeterabweichung im Betonfundament könnte in der Verlängerung einer z. B. nicht lotrecht eingespannten Stütze die Dachanschlüsse um mehrere Zentimeter verschieben. Das wäre fatal. Also ließen sie für jede Stütze eine Stahlhülse im Fundament montieren. Darauf sitzt eine Kopfplatte, die sich über die Stahlhülse höhenverstellen lässt und auf die der Fuß der Stahlstütze montiert und millimetergenau justiert werden kann. Man ahnt schon, die Planungsphase war lang, dafür dauerte die Installation der Module vor Ort nur zwei Wochen.

Was Passanten heute zuerst ins Auge fällt, ist übrigens nicht das Dach, sondern die bunte WC-Box darunter. Ihre Beschichtung mit Spektralfolie erzeugt eine Farbveränderung bei Perspektivwechsel. Wer also vorbeiflitzt, der sieht alle Farben des Regenbogens. Und er sieht noch immer Eng- und Baustellen, vor allem an der südlichen Platzseite, wo einmal ein grünes Gegenüber endlich Ruhe schaffen soll.⇥

⇥Rosa Grewe, Darmstadt

Baudaten

Objekt: Premiumhaltestelle Münsterplatz

Standort: Münsterplatz, Mainz

Typologie: Haltestellendach

Bauherr: Gebäudewirtschaft der Stadt Mainz

Nutzer: Wirtschaftsbetrieb Mainz

Architekt, Fassadentechniker: SCHOYERER ARCHITEKTEN_SYRA, Mainz, www.schoyerer.de

Mitarbeiter: Marc Nehrbaß, Kathrin Gadomsky, Jonas Klingenschmitt, Steffen Brosda, Frank Wiegmann (Bierbaum.Aichele.Landschaftsarchitekten)

Bauleitung: Architekt Marc Nehrbaß

Ausführung Stahlbau: SMB/Stahl- und Maschinenbau Bingen, Bingen, www.smb-kt.de

Ausführung WC-Anlage: Hering Sanikonzept GmbH, Burbach, www.heringinternational.com

Bauzeit: April 2018

Fachplaner

Tragwerksplaner, Gründung: osd / office for
structural design, Frankfurt a. M., www.o-s-d.com

Projektdaten

Gesamtlänge: 16,77 m

Maximale Breite: 9,80 m

Spannweite: 4,25 m

Konstruktionsart: statisch wirksame Edelstahl-Pyramidenformen inkl. Aussteifung

System: Edelstahl Faltdach

Anzahl der Felder: 8

Baukosten (nach DIN 276)

KG 300 brutto: 427 000 € (Flugdach) +

119 000 € (WC-Anlage)

Gesamt brutto: 546 000 €

Hauptnutzfläche: 3 050 €/m² (Flugdach) +

22 000 €/m² (WC-Anlage)

Brutto-Rauminhalt: 667 €/m³ (Flugdach) +

3 839 €/m³ (WC-Anlage)

Hersteller

WC-Anlage: Hering Sanikonzept GmbH,

www.heringinternational.com

Außenbeleuchtung: BEGA Gantenbrink-Leuchten KG,

www.bega.com

Edelstahlfaltwerk – das ist schon ein toller Begriff aus der Tragwerksplanung. Die schlanken Edelstahlstützen tragen die Edelstahlfaltwerkmodule unterschiedlicher Größe und erzeugen dadurch eine facettierte, reflektierende Untersicht, die zugleich das Tragwerk ist. Die Verschmelzung von Tragwerk und Architektur – aus so einem Dialog resultieren immer die besten Lösungen.

                DBZ Heftpate Knut Stockhusen, sbp , Stuttgart

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