Unterricht zwischen
Baumkronen
Neubau einer Sprachheilschule, Griesheim

Die Schüler der Sprachheilschule im südhessischen Griesheim lernen in drei kompakten „Baumhäusern“, die über Stege verbunden sind. Mit ihren polygonalen Grundrissen fügt sich die Schule perfekt in das dicht bewaldete Grundstück ein. Windschiefe Dächer und Wände verbessern die Akustik der Klassenräume.

Eine Schule inmitten der Baumkronen, von der aus man das Treiben im Wald beobachten kann: Für die Schüler der Sprachheilschule in Griesheim bei Darmstadt ist das kein Wunschtraum, sondern Realität. Ihre Schule besteht aus drei „Baumhäusern“, die die besondere Lage auf einem Waldgrundstück ausreizen. Der Neubau liegt südlich der Carlo-Mierendorff-Schule, einer Grundschule aus den 1960er-Jahren. Seit 2008 gehört zur Grundschule eine Sprachheilschule, in der sprach- und hörbeeinträchtigte Kinder aus dem Landkreis Darmstadt-Dieburg unterrichtet werden. Da die Räume für die steigende Anzahl von Kindern mit Sprachproblemen nicht mehr ausreichten, entschied sich der Schulkreisträger für einen Neubau auf dem Schulgelände.

Das Büro der Darmstädter Architektin Ramona Buxbaum verteilte das Raumprogramm auf drei kompakte Baumhäuser, die durch überdachte Holzstege verbunden sind. „Durch die Außenstege sparen
wir beheizte Verkehrsfläche. Gleichzeitig erfahren die Kinder den Wald intensiver“, sagt Ramona Buxbaum. Die polygonalen Grundrisse der Schule, ihre windschiefen Dächer und Wände erinnern an Bretterverschläge aus Kindertagen. Einzelne Gebäudeecken wurden „abgeknapst“ und die Baumhäuser so geschickt um einen Spielhof gruppiert, dass nur wenige Bäume gefällt werden mussten. Die 2-
geschossigen Häuser sind ganz oder in Teilen aufgeständert: Baumstammdicke Holzstützen stemmen die Gebäude empor. Unter den überdachten Flächen entstanden regengeschützte Pausenhöfe, wo die Kinder auf Spannseilen zwischen den Stützen balancieren oder über lose verteilte Baumscheiben hüpfen. Holzhackschnitzel am Boden sorgen dafür, dass sie weich fallen.

Die schräg abknickenden und gekippten Außenwände wurden – ebenso wie die Untersichten – mit grün lackierten Dreischichtplatten beplankt. Die Grüntöne greifen das jahreszeitliche Farbspiel der Blätter auf: frühlingsfrisches Maigrün, sommerliches Blattgrün, herbstliches Moosgrün.

Die Schule bietet Platz für bis zu 113 Schüler. Jedes der Baumhäuser bildet eine kleine Hausgruppe mit kompakter Erschließung und eigener Treppe ins Freie. Im Baumhaus 1 lernen Erst- und Zweitklässler, im Baumhaus 3 Dritt- und Viertklässler. Die Aula im Haus 1 ist
mit Matten und Sprossenwänden ausgestattet und wird zusätzlich als Motorikraum genutzt. Denn durch die Defizite beim Hören und Sprechen ist oft auch der Gleichgewichtssinn der Kinder gestört.

Orange als Leitfarbe

Man betritt das Ensemble über das Baumhaus 2, das Sekretariat, Rektorinnen- und Lehrerzimmer sowie zwei Vorklassen für Vorschüler aufnimmt. Eine orangene Leitwand markiert den Haupteingang. Das Orange setzt sich im Inneren entlang der Flure an Wänden und Türrahmen fort. Den Boden schmückt schwarzer Gussasphalt. Auch die Waschrinnen in den WCs sind aus geschliffenem Gussasphalt. Ein Podest erleichtert kleineren Schülern das Händewaschen. Über eine bis zum Dach offene einläufige Treppe gelangen die Kinder ins Obergeschoss und weiter über die Holzstege in „ihr Baumhaus“. Grün gestrichene innenliegende Flure erschließen die Klassen. Schuhe und Mützen liegen griffbereit in hinterleuchteten Holzgarderoben.

In den Häusern 1 und 3 ist der Grundriss gespiegelt, sonst aber
hat jeder Klassenraum eine andere Geometrie. Die schrägen, wie von Kinderhand gezeichneten Decken und Wände regen die Phantasie
an und verbessern zugleich die Akustik: Denn durch die polygonalen Grundrisse wird der Schall nicht direkt zurück in den Raum reflektiert, sondern breiter gestreut. Zusätzlich dämpfen abgehängte Akustiklochdecken und Akustikwände aus Holzlamellen den Schall. Die Nachhallzeit verkürzt sich dadurch im Vergleich zu dem in der DIN 18041 geforderten Wert für Regelschulen von 0,56 ms um mehr als 20 % und erfüllt die erhöhten Anforderungen an Sprachheilschulen. Selbst wenn die Kinder kreischen, wirkt die Lautstärke gedämpft.

Flexibel bespielbare Räume

Schränke, Fächer und Türrahmen sind bündig in das umlaufende Holzkleid eingelassen. Durch Panoramafenster blicken die Schüler in die Baumkronen oder beobachten das Geschehen im Hof. Auf einer hüfthohen, als Einbaumöbel gestalteten Fensterbank können sie sich bequem abstützen. Unter der Brüs­tung lagern Spiele und Bilderbücher in Regal­fächern. Die Rollschreibtische der Schüler lassen sich mit einem Griff beliebig verschieben: mal stehen sie in der Reihe, mal im Kreis oder geparkt in der Ecke. „Statt Frontalunterricht sollen die Klassen flexibel bespielbar sein“, sagt Ramona Buxbaum.

Die Schule wird als Passivhaus über eine kontrollierte Be- und Entlüftung mit Wärmerückgewinnung beheizt und belüftet. Zu- und Abluftöffnungen sitzen in Schattenfugen versteckt über der Akustikwand bzw. einer Zwischentür. Neben den Klasseneingängen sind zusätzlich Wandheizkörper in die Holzverkleidung integriert. Dank des niedrigen Jahresheizwärmebedarfs von rund 16 kWh werden sie aber nur selten gebraucht.

Die rund 40 m² großen Klassen sind für 14 Schüler ausgelegt, in den Vorklassen (12 Schüler) bleibt noch Raum für eine Spielecke samt Hochsitz und Treppe. Zwei Klassen teilen sich jeweils einen zwischengeschalteten Gruppenraum, der für die Einzelbetreuung von Kindern genutzt wird. Die Sprachheilschule verfolgt das Ziel der Inklusion: 98 % aller Schüler wechseln nach ein bis zwei Jahren wieder in eine Regelschule, nur 2 % gehen später auf eine weiterführende Schule für hörgeschädigte Kinder.

Jede Holzplatte ein Unikat

Die Schule ist ein reiner Holzbau. Das in Holzständerbauweise errichtete Tragwerk besteht aus 36 cm breiten Doppelstegträgern, die von außen mit mehr als 200 Dreischichtholzplatten beplankt sind. Keine der drei- bzw. vier-eckigen, bis zu 2,05 m breiten und 5 m hohen Elemente ist gleich. Die Platten wurden vor Ort abgemessen, zurechtgeschnitten und auf einer Lattung verschraubt. Die Holzständer
im Raster von 62,5 cm sind innen wie außen mit aussteifenden DWD-Holzfaserplatten beplankt. In die Zwischenräume wurde Zellulosedämmung eingeblasen. Eine 6 cm breite Vorwandinstallation nimmt Kabel und Leitun­gen auf. Vorgefertigte Holzrahmen entlang
der Treppenräume und schräg gestellte Leimholzstützen aus Fichte (Ø 30 cm) steifen die Häuser aus.

Als Schallschutz für die Holzbalkendecken wurde eine Kalk-Splitt-Schüttung verwendet. Bei einem späteren Rückbau können die
natürlichen Materialien wie Holz, Zellulose, Linoleum oder Kalk-Splitt getrennt entsorgt bzw. recycelt werden. Die Freiflächen im Wald blieben – bis auf schmale Pflasterstreifen vor den Eingängen – unversiegelt. Die
5 bis 28 Grad geneigten Dächer werden über Wasserspeier aus Stahlblech nach außen entwässert: Das Regenwasser versickert
offen in unterirdischen, mit Steinen aufgefüllten Rigolen.

Zum Teil findet der Unterricht draußen in Waldfreiklassen statt, die Kinder lernen von und in der Natur. Doch auch in den Klassenräumen haben sie jederzeit das Gefühl den Baumkronen nah zu sein. Die Schule verzahnt Innen- und Außenraum und übersetzt den bildhaften Entwurf in ein kindgerechtes, bis ins Detail stimmiges Raumerlebnis.

Michael Brüggemann, Mainz

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