Krieg der Stile
Das Architekturbüro GRAFT –
Berlin, Los Angeles, Peking

GRAFT ist Teil einer Bewegung, die sich noch nicht formiert hat. Ihre Arbeitsweise ist interdisziplinär und konzeptuell, ihre Form ist narrativ und poetisch. Sie kommt in einem organisch fließenden Gewand, im Computer generiert.

An den seelenlosen Baublöcken der minimalistischen „Kastenmoderne“ haben sich die jungen Architekten von GRAFT satt gesehen. Zwar bleibt der gefeierte „Bauhaus-Stil“ eines der höchsten Architekturgüter Deutschlands, nur seine immerwährende Neuauflage ermüdet und verärgert. Und nicht nur das – es setzt sich zudem ein neuer Historismus durch. Auch die einst verpönten Rekonstruktionen sind wieder voll salonfähig.

GRAFT gibt sich mit dem – aus ihrer Sicht – frustrierenden Status Quo nicht zufrieden. Dafür hat man nicht studiert, dafür stellen neue Materialien, neue Bauaufgaben und
Anforderungen zu viele interessante Fragen, auch an eine neue Formensprache. Architektur soll wieder inspirieren, ein Gesicht haben, warm und fröhlich sein, aber auch ökologisch und nachhaltig.

Was den neuen Stil letztendlich auszeichnen wird, ist noch nicht abzusehen. Zu ungenau sind die Ziele, die Formvorstellungen, die Philosophie. Schon die Beschreibung der Form bereitet Schwierigkeiten: fließend, parametrisch, organisch, amorph, biomorph, elastisch oder Blob? Dabei kämpft GRAFT nicht allein.

Eine Handvoll deutscher Büros der gleichen Generation setzt ebenfalls auf neue Formen für neue Aufgaben. Wer setzt sich im „Krieg der Stile“ durch? Werden die jungen Büros lediglich Duftmarken setzen? Kann man schon von der neuen deutschen Form sprechen?

Die Technische Universität in Braunschweig ist die Keimzelle des Büros. Hier traf man sich zum Studium. Sie sind 1967 und 1968 geboren. Dreißig Jahre später gründeten Lars Krückeberg, Wolfram Putz und Thomas Willemeit GRAFT in Los Angeles. 2001 folgte das zweite Büro in Berlin und 2004 mit Gründungs-Partner Gregor Hoheisel ein weiteres in Peking. Seit 2007 wird das Büro in Los Angeles von Alejandra Lillo geleitet. Inzwischen zählt GRAFT weltweit rund 120 Mitarbeiter.

Die ersten Bauten aus den Jahren 2004 und 2005 sind heute bereits GRAFT-Klassiker. Sie verbindet ein positiver Futurismus, der Funktion und Nutzen im Auge behält. Farbgebung, Lichtführung und die Kombination von Design, Skulptur und Architektur tun ein Übriges.

Die von GRAFT entwickelten Prototypen sind überaus erfolgreich. Das Konzept der Zahnarztpraxis KU 64 zog weitere Aufträge nach sich, die Innerraumgestaltung des Hotel Q wurde wegweisend für komplexe Hotelanlagen.

Zunächst nach Berlin – das im April 2004 eröffnete Hotel Q in Berlin ist eines der Schlüsselprojekte. Noch hatte der Investor Bedenken, wie neuartig ein Hotel und seine Inneneinrichtung überhaupt sein darf. Erwartet der Gast nicht die übliche kühle Strenge, glatt polierten Granit und scharfkantiges Teakholz? Es liegt mitten im Herzen von Berlin, direkt am Kurfürstendamm. Wo der Gast üblicherweise die Lobby, Aufzug, Frühstücksraum und Zimmer erwartet, fließen die Räume ineinander. Nicht nur das, auch Decke und Boden bewegen sich aufeinander zu.
Ein roter Linoleum-Belag durchzieht und prägt die Räume. Licht und Form sind gleichberechtigt.

Ein Jahr später wird die Wohnung „Unfolded Cocoon“ in der Gleimstraße, im Prenz­lauer Berg, fertig gestellt. Es kippen die Wände, die Räume öffnen und verengen sich abrupt – ein Raumerlebnis. „Sitznester“ sind in die schiefen Wände eingeschnitten. Colani hätte seine Freude gehabt, wie bei seinem „Learn Egg“ aus dem Jahr 1971. Nach Norden und Süden öffnen breite Glasfronten den Raum und geben einen spektakulären Blick auf die Stadt frei. Arbeiten, Freizeit, Wohnen – die Räume passen sich an. Hybride Zonen werden geschaffen. Die Küche ist der zentrale Ort. Dunkle und helle Räume, zurückhaltende Erdfarbe und markant farbige Akzente wechseln sich ab.

Die im August 2005 eröffnete Zahnarztpraxis KU 64 sieht nicht aus wie eine Praxis und „fühlt sich nicht an“ wie eine Praxis. Der Patient meint, sich in einer Bar oder einem Café zu bewegen. GRAFT setzt sich intensiv mit dem tatsächlichen Nutzerverhalten und den Ritualen einer Praxis auseinander. Die Beratung, die Vorsorge, das Wohlbefinden sind gleichberechtigt zur tatsächlichen Behandlung. Vorbild in der Gestaltung ist eine Dünenlandschaft, in der sich der Besucher
in die einzelnen „Sandmulden“ zurückziehen kann. Gleichzeitig bleibt die Gesamtanlage noch zu erkennen, wie am Strand auch. Das Wartezimmer gibt den Blick auf ein Sonnendeck frei, es flackert ein Kamin. Die Praxis durchzieht ein warmer Gelbton.

Der Messestand Sci Fi in Cornicon, USA, aus dem Jahr 2005 setzt die Idee des „Rapid Prototyping“ konsequent um. Die computer-generierten Daten werden ohne Umwege direkt in die Fertigung der Rauminstallation umgesetzt. Ziel ist es, den Weg von der Idee bis zur Fertigung radikal zu verkürzen. Für die Architektur ist dies noch weit gehend Zukunftsmusik. Die traditionellen Elemente eines Messestandes, mit Boden, drei Wänden und Theke sind aufgegeben. Sci Fi nutzt den gesamten Raum. Die Plastik entwickelt sich von innen heraus – organisch. Sie greift um sich. Gleichzeitig „funktioniert“ sie undintegriert die notwendige Messetechnik. Noch zu den Klassikern zählen die Inneneinrichtungen der Restaurants „Fix“ und „Stack“ in Las Vegas. Das „Fix“-Restaurant befindet sich im MGM „Bellagio“ Casino und wurde 2005 fertig gestellt. Das Büro entwirft eine Raumlandschaft. Wand und Decke gehen ineinander über, Grenzen verschwimmen. Das „Stack“- Restaurant wurde 2006 im Mirage Casino/Hotel fertiggestellt. GRAFT inszeniert ein spektakuläres, fast expressionistisches Raumensemble. Der Besucher bewegt sich durch eine Höhlenlandschaft. Durch die hochwertige Mahagoni-Holzverkleidung entsteht eine warme und einladende Atmosphäre.

Die Gestaltung der Waschbecken Kanera 1E und Kanera 1H aus dem Jahr 2007 ist bemerkenswert. GRAFT verlässt das Feld der Architektur, mit ebenso großem Erfolg. Weich fließende Formen, Sinnlichkeit und Erlebnis – diese Begrifflichkeiten werden in späteren Arbeiten noch wichtiger werden. 2008 wurde das Design der Waschbecken mit dem renom-
mierten Red Dot Design Award ausgezeichnet.

Wenige Architekten bekommen überhaupt einmal die Möglichkeit, Innenräume frei zu inszenieren oder weltweit zu arbeiten. Rea-
lität ist das serielle Einfamilienhaus, Baulückenschließung und Bauen im Bestand. Auch GRAFT kommt auf dem Umweg zu einer klassischen Bauaufgabe des Architekten, dem Wohnungs- und Siedlungsbau, zurück.

„Make it right – Pink Projekt“ – nach dem Hurricane Katrina gingen die Wiederaufbauarbeiten in New Orleans nur schleppend voran. Die Planer blieben tatenlos und die Bewohner ratlos, wie unkompliziert qualitäts-
voller und preiswerter Wohnraum entstehen könnte. Brad Pitt, mit dem GRAFT eine Freundschaft verbindet, gab den Impuls,
sowohl öffentlichkeitswirksam als auch konzeptuell Lösungen zu suchen. Mit der weitläufigen Installation „Make it right – Pink
Projekt“ wurde 2007 ein viel beachtetes Signal gesetzt. Der Eindruck, den die scheinbar wahllos in die Landschaft gesetzten Würfel, Kuben und Dächer mit ihrer schrillen pinken Farbe hinterlassen, ist grandios. In Deutschland zu wenig beachtet, entwickelt sich das Büro mit diesem Projekt von Architekten und Designern zu einer Künstlergemeinschaft, die den Vergleich mit Installationen von „Christo“ nicht scheuen muss.

Das Kunstprojekt ist jedoch nur der „Geschmackmacher“ auf den eigentlichen Sinn des Vorhabens, Käufer für die Häuser zu finden. Hierzu reichten prominente Architekten – darunter Pritzker-Preisträger wie Thom Mayne – Entwürfe ein. Der GRAFT-Entwurf ist konventionell, aber passend für den Ort. Ein langgestreckter Stelzenbau mit Balkon und Zugang zum Dach. Er erfüllt dabei alle Anforderungen an ein effizientes, nachhaltiges und kostengünstiges Haus.

In 2008 werden eine Reihe größerer Hotel-Bauten realisiert. In der Summe macht es den Eindruck, Hotelbauten seien fortan ein Teil des Kerngeschäfts. So entsteht in Tbilisi, Georgien, das Hotel Iveria. Auch wenn GRAFT sich den Gegebenheiten des bestehenden Hotels anpassen muss, finden sich die typi-
schen Gestaltungsprinzipien wieder. Mitten in Las Vegas, im Casino des Monte Carlo Hotels, wird das BRAND Steakhouse realisiert. Durch die in unterschiedlicher Höhe abgehängte Decke entsteht eine etwas düstere, doch anregende Atmosphäre. Direkt am „Strip“ in Las Vegas wird im gleichen Jahr ein Appartement-Komplex – die Panorama Towers – gebaut. GRAFT ist für das Gesamtprojekt, von der Architektur der Anlage bis zum Innendesign der öffentlichen Räume,
zuständig.

Unweit der „Verbotenen Stadt“ in Peking entsteht das Emperor-Design Hotel. Die Zimmer spielen mit einzigartigen Blicken in die Verbotene Stadt. Das W-Hotel liegt im Herzen von New York, unweit der ehemaligen Zwillingstürme des World Trade Centers. Das Luxus-Hotel wird 2009 fertig gestellt. GRAFT gestaltet alle Innenräume.

„Ao Di – Next Gene“ ist der Kurztitel einer Art „Weissenhofsiedlung“ aus Taiwan. Mehrere
renommierte Büros wurden in Aodi, Taiwan, eingeladen, in einer spektakulären Landschaft Privathäuser zu gestalten. GRAFT verwirklicht 2009 einen gezogenen Baukörper, der spiralförmig in ein Haupthaus mündet. Die Dynamik wird nicht in erster Linie durch eine klassische Gliederung erzeugt, sondern durch computergenerierte, frei im Raum fließende Form. Das Büro verwirklicht mit Ao Di „parametrische“ Architektur und macht einen Quantensprung in der eigenen Formensprache.

Sinnlichkeit und Poesie – beim „Bird Island“, einem Einfamilienhaus in Kuala Lumpur in Malaysia, sind diese Begriffe berechtigt. Das 2007 begonnene Haus wird geprägt durch hügelförmige Dachaufbauten, die aussehen wie die 3D-Darstellung von Tsunami-Wellen. Große Lamellen fassen den Baukörper ein und öffnen sich jeweils zur Windrichtung. Die neue Form kommt in einem organisch fließenden Gewand.

GRAFT arbeitet zunehmend interdisziplinär. Architektur, Design und Kunst gehen Hand in Hand. Licht und Farbe sind gleichberechtigt zu Form und Struktur. Für alle Einzelelemente wird eine jeweils neue Gestaltung und neuer Ausdruck gesucht. GRAFT bedient sich des gesamten Fundus` ihres eigenen
Erlebens – Film, Musik, Wissenschaft, Natur – nur der Rückgriff auf traditionelle Formen bleibt vordergründig tabu.

Im Grundsatz behandeln alle Bauten die Frage „Wie wollen wir wohnen? Wie wollen wir leben? Wo fühlen wir uns wohl?“. Die nächsten Jahren werden die neue Architektengeneration näher einzuordnen wissen. Dann wird auch deutlich, was von den zum Teil hochfliegenden Projekten, die nur auf dem Rechner existieren, übrig blieb. Schon jetzt zeigt sich, dass die visionären Phantasien in der Realität in ein enges Korsett gepresst werden. Die hier vorgestellten Projekte wurden jedoch alle realisiert. Noch ist das Prinzip „file to factory“, also die direkte Umsetzung des computergenerierten Entwurfs in die Produktion, nur ein frommer Wunsch. Zu hoch sind derzeit die Kosten in der Umsetzung.

Die Suche nach der neuen Form bezieht sich nicht nur auf die Architektur. Im deutschen Design wären etwa die Entwürfe von Konstantin Grcic vergleichbar. Zudem ist der Trend global. Büros wie Asymptote, Zaha Hadid, Santiago Calatrava und Urbanus Architecture&Design machen weltweit Furore. Doch die deutschen Büros von GRAFT, Jürgen Mayer H. und 3deluxe spielen bereits nahe an der ersten Liga. Sie sind in ihrem Auftreten, ihrer Philosophie und in ihrer Formensprache verwandt. Allen gemein ist der Fluss von Architektur, Design und bildender Kunst und die Suche nach der neuen Form. Dr. Holger Rescher, Bonn

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