Gestapelte Wellenbewegung

La Folie Divine, Montpellier/FR

Der elfgeschossige Wohnturm La Folie Divine des Londoner Architekturbüros Farshid Moussavi Architecture (FMA) an der Peripherie der südfranzösischen Stadt Montpellier ist, nicht zuletzt durch seine außergewöhnliche Form, Teil eines Programms zur Aufwertung städtebaulicher Randzonen. Durch wohldurchdachte Raumkompositionen, die versetzte Anordnung der Balkone zueinander und die Integration der Außenräume in den Wohnraum gelang es den Architekt-Innen, einen Hauch von Luxus zu generieren.

Himmlischer Leichtsinn

La Folie Divine, frei übersetzt als „himmlischer Leichtsinn“, geht auf eine städtebauliche und gesellschaftliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts zurück, während der lokale Adelige und wohlhabende Bürger Architekten mit dem Bau feudaler Herrenhäuser und Landgüter im unmittelbaren Umkreis Montpelliers beauftragten. Die Landsitze waren von spektakulären Garten­anlagen umgeben, wie die Schlösser Château de Flaugergues, Château de la Mogère oder das Bonnier de la Mosson. Im Allgemeinen bezieht sich die Idee der Folie – auch „Torheit“ – auf architektonisch verspielte Pavillons, die ohne spezifische Funktion als luxuriöse Gartenhäuser erbaut wurden und in französischen, englischen oder auch deutschen Parkanlagen zu finden sind.

Eine andere Art von Luxus

Farshid Moussavi – sie erlangte in der Architekturwelt durch ihre Projekte als Partnerin des Architekturbüros Foreign Office Architekture (FOA) weltweite Anerkennung – ging mit ihrem unkonventionellen Entwurf als Siegerin aus einem internationalen Wettbewerb hervor. Im Entwurf der iranischen und in London praktizierenden Architektin bekommt die Idee des Luxus eine andere Interpretation. Für Farshid Moussavi müssen Wohnungen mehr als eine simple Aneinanderreihung von Zimmern sein. Die Idee der Torheit und der ihr inhärenten Verspieltheit nutzte sie als Ausgangspunkt, um über mögliche neue Wohnformen nachzudenken. „Luxus wird dementsprechend nicht durch die Verwendung teurer und schicker Materialien kreiert, sondern vielmehr durch die Schaffung generöser und spezifischer Raumerlebnisse, einem starken und privilegierten Bezug zwischen Innen- und Außenräumen und der Gewährleistung der Privatsphäre der einzelnen Bewohner“, so ihr Credo.

Im Grünen

Der Turm mit seinen neun Wohngeschossen liegt auf der Parzelle M2 des Stadtentwicklungsplans „Les Jardin de la Lironde“, benannt nach dem Bach, der das Gebiet durchschlängelt. Dieses großflächige städtebauliche Wohnensemble an der östlichen Peripherie des historischen Stadtzentrums von Montpellier wurde vom französischen Architekten und Städteplaner Christian de Portzamparc zu Beginn der 1990er-Jahre entwickelt und zeichnet sich durch ausgedehnte Grünzonen zwischen den neu errichteten Wohnblöcken aus.

La Folie Divine liegt, ähnlich wie sein größeres Pendant „L’arbre blanc“ aus der Feder der Architekturbüros Sou Fujimoto ­Architects, Laisné-Roussel und OXO Architectes, an einer städtebaulichen Schnittstelle, die sich durch eine heterogene Bebauung auszeichnet. Der Wohnturm liegt in einem Cluster zwischen Einfamilienhäusern, Geschosswohnbauten, einer Kindertagesstätte sowie verschiedenen öffentlichen Einrichtungen. Im Erdgeschoss öffnet sich das Bauwerk an seiner Südostseite mit einer 260 m² großen Geschäftszone und einer vorgelagerten Terrasse zur Rue Léonard de Vinci. An der Westseite hingegen scheint es in einer natürlichen Bewegung aus der Böschung der Lironde emporzuwachsen. Dem Pariser Landschaftsarchitekturbüro Coloco gelang es, durch ein einfaches, aber wohldurchdachtes Konzept, die Hanglage zu nutzen, um darin nicht nur die Tiefgarage zum Großteil zu verbergen, sondern auch den öffentlich zugänglichen Fußweg entlang des Baches neu aufzuwerten.

Das Optimum aus rund und eckig entworfen

La Folie Divine ist bereits das zweite von FMA in Frankreich realisierte Wohnbauprojekt. Es entstand in Zusammenarbeit mit dem Pariser Architekturbüro Richez_Associés und dem Projektentwickler Les Nouveaux Constructeurs Aménageur, für den FMA bereits einen Wohnbau im Pariser Vorort Nanterre entwarf. Guillaume Choplain, Partner und Projektleiter bei Farshid Moussavi Architecture erklärt: „Die atypische, amöboide Geschossform ist in einer nahezu natürlichen Bewegung aus der Analyse der Randbedingungen hervorgegangen. Die Form des Bauwerks kann als Hybrid zwischen Wohntürmen mit konventionellen quadratischen Grundrissen und Wohnhochhäusern mit runden Grundrissen umschrieben werden. Durch die Verbindung der beiden Grundrisstypen und die Nutzung der jeweiligen Vorteile ist eine optimierte Form entstanden.“

Was im ersten Anschein als eine komplexe Struktur anmutet, entpuppt sich letztlich als ein einfaches statisches System von Geschossdecken, die einerseits auf dem durch den Aufzug und das Treppenhaus gebildeten Gebäudekern und andererseits auf Betonscheiben in der Fassaden­ebene auflagern.

„Durch dieses statische System konnte eine maximale Freiheit in der Einteilung und Organisation der Wohnungen erreicht werden, eine Raumkomposition, die die Bewohner je nach ihren Bedürfnissen einteilen und auch verändern können“, so Choplain. Und während im Wettbewerbsprogramm nur fünf verschiedene Wohnungstypen gefordert waren, gelang es den ArchitektInnen, durch diese unkonventionelle Stapelung und Form der Geschossdecken insgesamt 36 verschiedene Wohnungen zu organisieren.

Die einzelnen Decken wurden so abgerundet, dass die tragenden Betonscheiben an der Fassade vom Erdgeschoss bis zum Dach ohne Zwischenkonstruktionen durchlaufen können. Genau genommen gibt es nur vier verschiedene Geschoss­deckenformen, die im Abstand von vier Etagen einmal wiederholt werden, wodurch der Eindruck einer Drehung des Bauwerks entsteht. Durch ein wohldurchdachtes System von ein- und doppelgeschossigen Balkonen wird der Eindruck der Bewegung weiter verstärkt.

Einfache Materialien

Im Gegensatz zu den meisten Wohnbauprojekten, bei denen die Balkone an die Fassade gekoppelte Platten darstellen, setzen die Balkone bei diesem Projekt die wellenförmige Bewegung der Außenmauern fort, wodurch eine durchgehende, das Bauwerk umschließende Linie entsteht und die Außenräume durch ihre Form und Positionierung einen Teil des Wohnraums bilden. Verstärkt durch die raumhohen Fenster- und Türelemente entsteht dadurch tatsächlich ein fließender Übergang zwischen Innen- und Außenräumen. Die Wellenbewegung verstärken die ArchitektInnen einerseits durch die Verwendung von eloxiertem Wellblech aus Aluminium für die Fassadenverkleidung und andererseits durch die Installation von Vorhängen entlang der Balkongeländer, die sowohl als Sonnen- als auch Sichtschutz dienen.

„Um eine gewisse Vielfalt zu erzeugen, arrangierten und kombinierten wir drei Standardprofile der Wellbleche, sodass diese, je nach Position an der Fassade, eine visuelle „Verdichtung“ oder „Verbreiterung“ der Wellenbewegung erzeugen“, ergänzt Choplain.

Monolith

Das flexible Gebäudekonzept, die mehrseitige Orientierung der Wohnungen, die Verbindung der Innenräume mit den Außenräumen und die generierten Ausblicke auf die Umgebung sind ohne Zweifel gelungen. Den ArchitektInnen gelang es durch ihre Intervention nicht nur, qualitativ hochwertigen Wohnraum zu schaffen, sondern vor allem, die ehemalige Brache in einen klar definierten Raum mit städtischem Bezug auf der einen und dem Bezug zur Natur auf der anderen Seite zu verwandeln. Bei einer intensiven Betrachtung vor Ort wird allerdings deutlich, dass das Gebäude durch die Wellbleche der Fassaden, die Bewegung der Vorhänge und die runden und versetzten Balkone nicht „greifbar“ und seine eigentliche Form nicht zu erkennen ist. Michael Koller, Den Haag/NL

Baudaten

Objekt: Folie Divine

Standort: Montpellier/FR

Typologie: Wohngebäude

Bauherr: Les Nouveaux Constructeurs

Architektur: Farshid Moussavi Architecture, London/GB, www.farshidmoussavi.com

Projekteam: Farshid Moussavi, Guillaume Choplain, Álvaro Fernández García, Marco Ciancarella, Paniz Peivandi

Partnerbüro: Richez_Associés, Paris/FR,

www.richezassocies.com

Landschaftsarchitektur: Coloco, Paris/FR,

www.coloco.org

Bauzeit: Januar 2016–September 2017

Fachplaner

Tragwerksplanung: PER Ingenerie, Montpellier/FR, www.peringenierie.com

Projektdaten

Grundstücksgröße: 3 061 m²

Hauptnutzfläche: 2 740 m²

Baukosten

Gesamt: 4,5 Mio. €

Hauptnutzfläche: 1 640 €/m²

Hersteller

Dachdämmung: Rockwool, www.rockwool.com

Wellplatten Fassade: Aluform, www.aluform.de

Außenliegende Decken: Siniat, www.siniat.fr

Vorhänge außen: Serge Ferrari,

www.sergeferrari.com

Lift: Orona, www.orona-group.com

Aus individuellen Wohnungsgrundrissen entwickeln sich wellenförmige Balkon- und Loggienbereiche, die in den mediterranen Außenraum überleiten und den Übergang zwischen innen und außen formulieren. Dadurch, dass die ebenso wellenförmigen Fassaden und Sonnenschutzvorhänge fließend ineinander übergehen, einsteht eine vielschichtige und sinnliche Struktur mit hoher individueller Wohnqualität.«
DBZ Heftpartner MEIXNER SCHLÜTER WENDT,
Frankfurt a. M.

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