Ohne jeden Bonus die Identität rettenIm Gespräch mit Christoph Ellermann
Christoph Ellermann: Ich glaube man braucht dieses besondere Verhältnis zu Scharoun nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass ein gründliches Hintergrundwissen möglicherweise verhindert, dass man dem Bau vorurteilsloser, objektiver gegenübersteht. Offenheit, eine Empfindlichkeit für das Besondere ... Man braucht die Sensibilität für das Vorhandene, die Materialien insbesondere, die allergrößte Aufmerksamkeit erfordern. Auch wenn sie gerade mal 40 oder 50 Jahre alt sind.
Eine wesentliche Aufgabenstellung in dem Projekt war der Umgang mit der Hülle. Alle Bauteile des Daches, die Fenster und so weiter waren zu erneuern. Und das mit dem Hintergrund, dass wir eine energetische Förderung hatten. Wir mussten also die Forderungen aus der neueste EnEV erfüllen. Wie das aber, wenn Proportionen, Ansichten etc. erhalten bleiben mussten? Da war es aus meiner Sicht nebensächlich, Scharoun intensiv zu kennen.
Ich habe Scharoun natürlich, weil ich mich mit ihm über diesen Bau hier beschäftigen durfte/musste, auch kennengelernt. Auch über die Gespräche mit Beteiligten, die Hans Scharoun noch kannten. Von denen hätte, so glaube ich, niemand ein Problem damit gehabt wenn die Fensterprofile z. B. 2 cm stärker ausgefallen wären. Wir haben allerdings um jeden Zentimeter gerungen.
Ja, man hätte hier etwas anderes machen können. Wir haben auch mal überlegt, hier Altenwohnungen unterzubringen. Das war ein Aspekt in unserem Gutachten. Der allerdings, wie bei anderen Alternativen auch, vor allem daran scheiterte, weil dazu kein sinnvolles weil nachhaltiges Nutzungskonzept entwickelt werden konnte. Das sieht man ja nicht selten: Erst wird ein Gebäude wiederherstellt, dann schaut man auf den möglichen Nutzen. Vergessen Sie’s!
Insofern haben wir damals in viele Richtungen gedacht. Wobei die Schulnutzung absolut vorrangig war: über das Gebäude, über das einmalige Konzept, das in der Anlage der Schule steckt. Für Marl ist die Sanierung der Schule ein Glücksfall, denn die Stadt suchte nach Schulräumen, für die Musikschule, für die Grundschule. Eine Kombination, die sich aus meiner Sicht optimal gefügt hat, weil Scharoun immer auch an eine weitere kulturelle Nutzung gedacht hat.
Hier in Marl konnten wir schon im Rahmen des Gutachtens klären, dass eine energetische Sanierung in den meisten Baudetails denkmalgerecht möglich war. Ich bin aber der Meinung, dass es Baudenkmäler gibt, die eine energetische Sanierung überhaupt nicht vertragen würden. Bei solchen muss dann eine Nutzung gefunden werden, die zum Beispiel nicht auf gleichmäßig temperierte Räume angewiesen ist.
Hier in Marl hatten wir eine Gemengelage im baulichen Zustand: der Boden war nicht mehr zu retten, hier konnten wir im Rahmen der Sanierung hervorragend dämmen. Die Dächer waren alle löcherig, die Tragkonstruktion war PCB-geschädigt. Hier konnten wir die massiven Eingriffe mit Dämmmaßnahmen verbinden. Auch die Fenster – die Rahmen hätte man mit dem Finger durchstoßen können – haben jetzt optimale energetische Werte. Die Sanierungsmaßnahmen haben also bei den beschriebenen Bauteilen eine den Anforderungen entsprechende energetische Anpassung hinter sich, die wir beim Sichtmauerwerk nicht machen konnten. Der Mix aus hochdämmend und gleichsam ungedämmt ergab dann den Mittelwert, der ausreichend war. Der vor allem auch die Identität des Gebäudes in die heutige Zeit retten konnte. Und zwar ohne an den Bonus rangehen zu müssen, den Baudenkmäler mit Blick auf Sanierungsanforderungen haben.
Wir haben intensiv mit dem Haustechniker gearbeitet, ganz besonders mit dem Bauphysiker. Die Schwierigkeit der Sanierung bestand ja auch darin, dass wir an vielen Stellen im Haus gedämmte Flächen mit ungedämmten Flächen direkt verbinden mussten, Stichwort Tauwasserbildung. Die Haustechniker haben uns bei der Wiederherstellung des von Scharoun eingesetzten Lüftungssystems unterstützt.
Scharoun hatte für jede „Klassenwohnung“ – so nannte er die Klassenräume, die tatsächlich mehr sind als Unterrichtsräume – und für alle Sonderräume eine dezentrale Lüftungsanlage vorgesehen. Die jedem Raum zugeschaltete Anlage, die in einem kleinen angrenzenden Raum untergebracht war, hat warme Luft durch den Fußbodenaufbau bis an die Fenster geführt, wo sie durch Schlitze entweichen und über die Scheiben streichen konnte. Da das System ein Prototyp war, hat es auch nicht lange funktioniert, es wurden konventionelle, zentral angesteuerte Heizkörper montiert. Aber als wir in die Schule kamen, gab es in einigen Räumen noch Reste dieser Anlage. Wir haben das dann modern übersetzt, haben eine kleine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung eingebaut, Weitwurfdüsen in die Wand eingebracht, die die Warmluft unterhalb der Decke bis zu den Fenstern blasen. Das Prinzip der mechanischen Be- und Entlüftung, das Scharoun schon vor 45 Jahren versucht hatte, ist heute in fast
jedem Schulneubau Standard. Scharoun war hier Wegbereiter.
Ich würde mir das sehr wünschen! Aber die Vorgaben sind heute so klar definiert, das Raumprogramm derart beschnitten, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass man eine Schule wie diese in ihrer Reinform machen kann. Hier bekommt jeder Schüler das, was er braucht: Licht, Luft, Raum, Platz, Abwechslung ... Wie das hier gelöst wurde, das ist für die tägliche Arbeit beispielhaft.
Beim ersten Blick auf das Grauen des teils schwer geschädigten Baus sehen Sie erst einmal nichts vom Erfindungsreichtum, der in diesem Gebäude steckt. Wir hatten natürlich eine Vision, sonst könnten wir solche Projekte gar nicht angehen. Aber je weiter wir gekommen sind – und wir haben den Bau sukzessive Klassenraum für Klassenraum bearbeitet – desto mehr öffnete sich der Bau mit all seiner Raffinesse. Wenn Sie mich fragen, was hätte Scharoun besser machen können – das Baukonstruktive lassen wir einmal außen vor – dann fällt mir dazu nichts ein. Im Gegenteil kann ich sagen, dass wir mit dieser Schule einen idealen Schultypus haben. Allein schon die Begrifflichkeit der „Klassenwohnungen“ ist meines Erachtens ein Hinweis auf die fast schon utopische Haltung Scharouns in der Frage, wie Schulräume wirken sollen.
Ja. Jetzt vielleicht etwas entspannter, aber ja, das Konzept passt. Und wieder einmal haben wir erkannt, dass man für eine solche, über viele Jahre und manche Handwerkerinsolvenz hinlaufende Arbeit eine Leidensfähigkeit benötigt, die über Durststrecken hinweghilft.
Was kommt nach der Durststrecke?
Ich freue mich über jede Bauaufgabe, sei sie ein Neubau oder eine Restaurierung, Sanierung ... Wenn Sie aber unterstellen, die Arbeit in Marl wäre nicht auch eine sehr kreative, dann liegen Sie falsch! Neubau ist sicherlich leichter, aber Ideen, gute Ideen braucht man bei solchen Objekten wie der Schule hier mindestens genau so dringend.
Mit Christoph Ellermann unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 9. September 2015 in der Aula der sanierten Scharounschule in Marl.