Rochen am Riff der Stadt
Neuer Bahnhof in Liège-Guillemins/B

Mit dem neuen Hauptbahnhof von Lüttich und der damit verbundenen Trassenfreigabe hat der Staat Belgien als erstes europäisches Land seinen Streckenausbau für Hochgeschwindigkeitszüge vollständig abgeschlossen. So sinnfällig das neue Bauwerk architektonisch ist, so konfliktreich sind die städtebaulichen Probleme, die damit in Gang gesetzt worden sin

Elegant wie ein Rochen über einem kargen Meeresgrund scheint der neue Fernbahnhof des belgischen Lüttich (Liège) über der nordwestlichen Vorstadt der Ardennenmetropole zu schweben. Tatsächlich bewegt sich das Gebäude, das nur von höheren Punkten in der Stadt vollständig überblickt werden kann, mehr in einer städteräumlichen Dimension als im Objektbereich. Hier liegt auch die Schwachstelle des Projektes, dessen Realisierung mehr als 12 Jahre gedauert hatte: ein beträchtlicher Teil des Viertels Guillemins ist dem Bahnhofsneubau zum Opfer gefallen. Hauptursache war dabei weniger der Entwurf des Architekten, als vielmehr die Entscheidung der belgischen Eisenbahngesellschaft, das Gebäude um 150 m weiter nach Osten zu verlegen. Diese Entscheidung wurde aus der Überlegung heraus getroffen, wie man ein neues Gebäude errichten kann bei gleichzeitig laufendem Bahnbetrieb. Nicht beachtet wurde dabei, dass ein Bahnhof zentraler Bezugspunkt eines gewachsenen, urbanen Gefüges ist. So erscheinen derzeit die Wegbeziehungen unstimmig und fordern eine massive städteplanerische Neustrukturierung. Fairerweise muss erwähnt werden, dass die Stadt Lüttich an der Neuorganisation des Bahnhofes nicht beteiligt war. Die Planung lag allein bei der belgischen Bahn. 

Jetzt, wo der TGV-Knotenpunkt vollendet ist, beginnt man das Viertel komplett neu zu entwickeln. Aus einem typischen, heruntergekommenen Bahnhofsviertel soll das Aushängeschild der Industriestadt an der Maas werden. Das Zentrum der belgischen Montanindustrie ist in einem massiven Strukturwandel. Über 100 000 Arbeitsplätze sind hier in Liège, in den letzten Jahren verloren gegangen. Konkret sind die Planungen noch nicht. Einig ist man sich jedoch, vom Bahnhof aus eine große Magistrale zur nahen Maas zu schlagen. Bereits begonnen wurde mit der Gestaltung des großzügigen Vorplatzes. Derzeit wird hier der Bestand eingeebnet. Auch das letzte Gebäude der alten Blockrandbebauung steht offensichtlich im Weg und dürfte bei Erschei­nen dieser DBZ-Ausgabe nicht mehr existieren. Des weiteren blockiert noch das weitläufige, kommunale Finanzamt mit seinen elf Stockwerken eine direkte Maas-Anbindung. Der Fluss verläuft unmittelbar dahinter.

Eine gigantische Empfangshalle

Mit dem Bahnhofsgebäude ist es wie mit dem eingangs erwähnten Rochen: Der Bau scheint über den profanen Dingen der urbanen Realität zu schweben. In zahlreichen Kritiken ist auch nicht von einem Bahnhof sondern von einer Kathedrale der Mobilität die Rede; eine durchaus nachvollziehbare Metapher. Die Bahnhofshalle ist so groß geworden, da es Calatravas Bestreben war, tendenziell einen ganzen Zug in der Halle unterzubringen. Nur für die extrem überlangen, internationalen Fernzüge gibt es noch einmal weiterführende Bahnsteige. Die Halle steht quer zur Gleisrichtung. Dies ist eine formale Geste, mit welcher der Architekt und Ingenieur versucht, die zwei benachbarten Stadtteile Cointé und Guillemins erneut zu verbinden. Sie sind aufgrund der Eisenbahntrasse schon seit mehr als 100 Jahren getrennt. Hinzu kommt deren unterschiedliche Topographie: Guillemins ist flach und zur Maas hin orientiert. Cointé istdagegen der dicht bewohnte, aber steile Stadtberg, der von der Sacrecoeur-Basilika bekrönt wird.

Barrierefrei Erschließung, Tageslicht überall

Auch die interne Wegeführung des Bahnhofes folgt diesem Ziel der urbanen Verknüpfung. An den Fußpunkten des Hallengewölbes queren zwei boulevardartige Brücken die Gleise. Sie liegen auf derselben Höhe wie die Bahnhofszufahrt auf der Bergseite. Auf der flachen, urbaneren Seite existiert eine Abfolge von Frei- und Rolltreppen. Dabei hat die berg­seitige Erschließung mitnichten den Charakter eines diskreten Hintereinganges. Vielmehr ist hierüber die Zufahrt zum Bahnhof mit dem PKW organisiert. So wurde extra von der parallel zu den Gleisen verlaufenden Autobahn, die kurz vor dem Bahnhof in einen langen Stadttunnel geführt wird, ein Bahnhofzubringer geschaffen. Eine geschwungene Brücke führt um den Fuß des Berges herum und leitet den Verkehr zu einer großzügigen Vorfahrt. An ihrem östlichen Ende geht sie über in eine Tiefgaragenzufahrt. Hier schraubt sich eine eng gewendelte Rampe nach unten und führt zu 800 Stellplätzen unterhalb der Bahnhofsvorfahrt. Sie sind barrierefrei mit den entsprechenden Ebenen des Bahnhofes verbunden. Dabei hat Calatrava bei der Realisierung des Parkhauses großen Wert auf ein zentrales Thema in seinem Schaffen gelegt: Jeder Punkt eines Bauwerkes soll weitgehend von Tageslicht erreicht werden, weshalb die Parkdecks auch zu den Gleisen hin offen sind.

Das Konzept findet seine Vollendung in dem zentralen Erschließungskorridor unter der Halle. Vom maasseitigen Haupteingang wird die geschäftige Passage auf Terrainhöhe unter den Gleisen hindurchführt. Sie endet in einer großen halbunterirdischen Treppenhalle im Fuß des Stadtberges. Folgt man ihr hinauf, gelangt man zu der PKW-Vorfahrt. Dabei passiert man die Zugänge zu den Parkhausebenen sowie einen hallenintegrierten Radweg längs der Gleise.

Nichts ist dunkel: Tageslicht erhellt die unterirdische Promenade durch querende Glasbausteinbänder in ihrer Decke. Sie sind in die Bahnsteige darüber eingelassen. In der Zugangspassage gehen auf Höhe der transparenten Deckenbänder seitlich davon die jeweiligen Vertikalerschließungen zu den Gleisen ab. Zudem markiert immer ein gläserner Auf­zug in der Mitte die Position einer Plattform darüber. Zwischen den Aufgängen, also unter den eigentlichen Gleisen, ist der vorhandene Raum Ladenlokalen vorbehalten.

Wo immense Kräfte walten

Während die Konstruktion der Halle aus einer beeindruckenden Stahlkonstruktion besteht, wurde der Unterbau des Bahnhofes aus Sichtbeton errichtet, mit Weißzement als Bindemittel. Da für die zwei Ebenen des Parkhauses und dem zusätzlichen Geschoss darunter der Stadtberg Cointé angegangen werden musste, waren umfangreiche Substruktionen notwendig. Es galt, nicht nur das anstehende Erdreich zu stützen, sondern die oberhalb gelegenen Wohnhochhäuser nicht zu gefährden. Sichergestellt wurde dies mit amorph ausgeformten, jedoch schottenartig wirkenden Trennwänden, die etwa alle fünfMeter eingezogen wurden und quer zu den Gleisen ausgerichtet sind. Sie nehmen die exorbitanten Vertikalkräfte auf und sind in den offenen Ebenen der Tiefgarage besonders augenfällig. Signifikant ist ebenso die Flucht der zahllosen, organisch ausgeformten Betonfertigteilelemente, die im Abstand von einem Meter den Gleiskörper flankieren. Unter den Parkdecks befindet sich eine weitere Ebene. Dieser Bereich ist für Aus­stellungen und Kunst reserviert. Calatrava hat hier eine hehre Vision: Er möchte die Kunst zu den einfachen Leuten bringen und diese mehr dafür interessieren. Sein Wunsch ist es, dass die Menschen diesen Ort nicht nur für das Fahren mit dem Zug nutzen, sondern ihn als öffentlichen Raum begreifen. Vor diesem Hintergrund ist auch eine Übereinkunft mit dem Kunstmuseum von Lüttich, interessant: Das Museum bespielt hier vier Vitrinen, in denen es echte Kunstwerke in wechselnder Zusammenstellung zeigt. Es ist ein Konzept mit Potential: eine Einkaufspassage die weiterführen soll, nicht nur zu wartenden Zügen, sondern zur Kunst. Diese Qualität besitzt Charme. Tatsächlich könnte so nicht nur der Bahnhof, sondern auch das gesamte Viertel aufwertet werden.

 

Gespräch mit Sanitago Calatrava

DBZ: Was war Ihre formale Intention bei dem Entwurf dieses Gebäudes?

Calatrava: Ein Architekt und Ingenieur ist immer auch ein Bildhauer. Allein der Unterschied in dem Selbstverständnis eines Bildhauers zu dem eines Architekten ist folgender: Ein Künstler erschafft, so wie etwa Henry Moore das in beeindruckender Weise getan hat, eine dreidimensionale Skulptur, die immer nur von außen betrachtet wird. Ein Architekt dagegen schafft ein Objekt, in das der Betrachter eindringt. Wenn ich ein Gebäude entwerfe, ist diese Penetration immer ein zentraler Gestaltungsaspekt. So war es auch hier. Wie wirkt der Bahnhof, wenn ich in ihn hineingehe? Wie nehme ich die Architektur wahr?

DBZ: Warum hat die Bahnhofshalle die pyramidalen Baumstützen unter den Passerellen erhalten?

Calatrava: Der Entwurf der Halle legt die Vermutung nahe, dass die seitlichen, massiv ausgeführten Rolltreppenrampen formal das Widerlager der eingespannt erscheinenden, wellenförmigen Kuppel bilden und vertikale Abstützungen abfangen können. Diese Wirkung war nie beabsichtigt: Die Rampen haben keine übergeordnete statische Funktion. Der Querschnitt aller Bögen bildet eine Parabel, welche jeweils im Bereich der beiden Passerellen endet. Sie fungieren auch als eingespannte Querträger, welche die Kräfte aller Bögen bündeln und die Querkräfte reduzieren. Die Last wird dabei vertikal an die pyramidalen Stützen darunter abgeführt. Wenn man sich den Querschnitt des Bauwerkes genau anschaut, dann erkennt man, dass die Rampen schon außerhalb der Hallenkurve liegen. Sie könnten also gar nicht mehr die Vertikalkräfte aufnehmen und, wenn sie auf beiden Seiten vorhanden wären, die pyramidalen Stützen ersetzen. Diese bündeln vielmehr die Kräfte des Ober- und Untergurtes der Bögen perfekt in einem Punkt und leiten diese nach unten ab. Von dort werden die Kräfte in die Bahnsteige eingeleitet, wo großmaßstäbliche Zugstangen eingelassen sind, die der auseinander drängenden Last der Halle entgegenwirken. Sie erklären auch die leicht röhrenförmige Untersicht der Bahnsteige im Bereich der zentralen Passage. Im Grunde funktioniert also die Statik der Halle wie ein Flitzebogen.

DBZ: Das Tragwerk des Daches besteht aus zahlreichen, nah beieinander angeordneten Stahlbögen großartiger Dimension. Jeweils an ihren Enden sind sie im Bereich der Passerelle eingespannt, dagegen berühren sie sich untereinander bis auf eine fragile Glasabdeckung überhaupt nicht. Dazu existieren keine aussteifenden Querverbindungen oder gar eine Diagonale. Wie war das konstruktiv möglich?

Calatrava: Das liegt daran, dass das Tragwerk statisch wie eine Schale wirkt. Die Querrippen und die Längsrippen sind untereinander eingespannt, so dass sie genügend Steifigkeit aufweisen, um als Schalenkonstruktion zu wirken. Die Höhe des Tragwerks beträgt im Scheitel 1,4 m bei einer Spannweite von 196 m. Damit hat man ein enormes statisches Verhältnis, das größer als 1:100 ist und die ganze Halle wirkt wie ein Flächentragwerk.

DBZ: Werden dann im Rahmen der verteilten Flächenlast auch Kräfte über die Dachverglasung geführt?

Calatrava: Nein, nein, die Glasscheiben sind nur einfache Glasscheiben. Die Einspannung zwischen den Längs- und den Querträgern ist sehr massiv und reicht alleine vollkommen aus.

DBZ: Das Gebäude ist sowohl zur Stadt wie auch zur Bergseite hin offen. Haben Sie nicht Sorge gehabt, dass in dem Bahnhof permanent Durchzug herrscht?

Calatrava: Das war am Anfang der Planung auch zuerst unsere Sorge. Doch dann haben wir erkannt, dass der Hügel einerseits so stark bewaldet ist, dass auftretende Winde durch die Bäume stark gedämpft werden und zum anderen ist die Halle schließlich so nahe an den Berg gebaut, dass dieser die Halle strömungstechnisch quasi einseitig verschließt. Und die Bestätigung, dass dieses auch tatsächlich zutrifft, haben wir ja unmittelbar noch während der Bauzeit durch das alltägliche Wettergeschehen erhalten.

 

Kritik

Die Bahnhofshalle mit ihren knapp 158 m Spannweite ist quer zu den Gleisen gespannt. Dabei hat die Halle eine Höhe in ihrem Scheitel von 35 m. Hat man bei der klassischen Bauweise vor allem die Stirnseiten der Hallen dazu genutzt, um die Portale und die Gleise in effektiver Weise stützenfrei zu halten, so wählte der Architekt und Bauingenieur Calatrava die Querrichtung aus formalen Erwägungen. Zusätzlich sollten mit dem breiten Gewölbe alle Gleise überspannt werden. Damit wurden nicht nur immense Spannweiten, sondern auch eine ausgefeilte Tragkonstruktion notwendig. Die Lösung fand sich in dem grundsätzlichen statischen Konzept der Halle. Kein Gewölbe sollte sie sein, sondern eine Schale. Die Konstruktion sollte sich wie ein Raumtragwerk verhalten, vergleichbar einer Eierschale. Damit ist eine erhebliche Dimensionsreduzierung der tragenden Elemente möglich, allerdings erfordert diese Bauart auch ein flächen­mäßiges Aussteifen untereinander. Da hierfür die Verglasung des Daches nicht hinzugezogen werden konnte, ergab sich die Notwendigkeit, alle Hallenträger in einer exorbitanten Weise einzuspannen. Insgesamt wurden schließlich 39 Stahlbögen nebeneinander, jeweils in einem Abstand von knapp zwei Metern voneinander errichtet.

Während der Montage waren diese untereinander ausgesteift, da die Schalenwirkung zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestand. So mussten die horizontalen Kräfte mit großformatigen Zugbändern zwischen den Bogenfußpunkten gehalten werden. Die dafür notwendige Stärke der temporären Stahlseile, wird andernorts zum Bau von permanenten Hängebrücken eingesetzt. Die Bögen sind ausgeführt als Hohlprofile mit sich veränderndem Querschnitt, bei einer maximalen Konstruk­tionshöhe von 1,20  m. Auf einem hochhaushohen Montagegerüst wurden sie dann zum finalen Bogen zusammengesetzt. Zwischen Mai 2005 und Juni 2006 wurden sie auf hydraulischem Wege in acht Etappen an ihren finalen Standort verschoben. Das konstruktiv notwendige, kraftschlüssige Einspannen geschah durch Schweißen. Die Dimensionierung der Bögen resultiert nicht allein aus der zu erwartenden Belastung, sondern auch aus der Notwendigkeit, zu erwartende Verformungen auch durch Setzungen zu minimieren. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Abschätzung der Windlast auf die über 30.000 m² große, voll verglaste Dachfläche. Verbaut wurde hier herkömmliches VSG-Glas in einer Stärke von 2 cm.

Die Sockelpunkte der Bögen wurden in großformatige Stahlträger am Rand der Passerellen in einer Höhe von 6 m eingespannt. Die gewaltigen Lasten werden jeweils in fünf baumstützenartige Stahlauflager abgeführt. Diese sind allseitig unverschiebbar, allerdings in der Bogenachse gelenkig und leiten die Kräfte in die Fundamente ab. Die Auflager stellen auch die Steifigkeit der Halle in Längsrichtung sicher. Die Stabilität in der Querrichtung wird über die gewaltigen Vordächer gewährleistet. Immerhin kragt das Vordach auf der Guillemines-Seite um mehr als 45 m aus, zum Berg Cointé hin sind es ein paar Meter weniger. Gestützt werden sie in den jeweiligen Endpunkten durch je einen expressiven Stahlknoten, welcher die Kräfte wiederum in ein großformatiges Fundament überführt.

 

Alle Texte: Robert Mehl, Aachen

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