Weckt Sehnsucht

Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Rezensent es überlesen hat, doch vermutlich wird es so sein, dass die vorliegende Monografie über das Atelier- und Wohnhaus an der Wuhrstraße auch eine Hommage an den Architekten der Anlage ist: an Ernst Gisel, der im vergangenen Jahr beinahe 99-jährig in Zürich verstarb. Doch der Architekt steht hier nicht im Zentrum (seine Arbeit schon). Hier geht es eher um die weite Sicht auf ein Lebens- und Arbeitsmodell, das aus den 1950er-Jahren kommt und heute noch oder wieder sehr aktuell ist.

Natürlich kann man fragen, ob eine Künstler­Innenwohngemeinschaft auf Wohngemeinschaften aller Arten übertragbar ist. Ein Autor in dieser Publikation deutet das an mit einem „Ja, das ist ein universell übertragbares Modell“, vorausgesetzt, es fehle ihm ein ideologischer Überbau! Und wenn man die sehr präzisen wie beinahe schon literarisch gültigen Texte durchgeht, dann wird man das „Ja“ vielfach bestätigt sehen. Die Texte – eingefügt zwischen lange Farbfotostrecken – schauen in die BewohnerInnengeschichte, auf die Architektur mit ihrer Planungs- und Baugeschichte, auf den Bautyp „Atelier als Mythos und lebendige Gegenwart“, auf das Umfeld, auf die Kunst und die KünstlerInnen und all die Lebensmodelle, die dem Genossenschaftlichen verwandt sind. Und wenn einer der Autoren, der Schweizer Adam Jasper, Philosoph und Kunsthistoriker, schreibt, dass das Reden und Denken das eine ist, das andere das Handeln, zu welchem er die LeserInnen auffordert („Es ist nicht so, dass der Feind an den Hebeln des Kapitalismus sitzt, sondern, dass überhaupt niemand an den Hebeln ist.“), dann ahnt man, dass es im Großen und Ganzen um die Dokumentation einer gelebten und bis heute immer noch sehr lebendigen Utopie geht.

Die bildreiche Dokumentation hat eine fesselnde Dichte. Sie ist unterhaltsam, weckt Erinnerungen an die wilderen Jahre und Sehnsucht nach einem anderen Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Ist dieses Andere auch der Architektur zu verdanken? Ja und Nein und Vielleicht. Man kann dem nachforschen in dieser sorgfältig gemachten Publikation, die ein handfest engagiertes und zugleich sehr feines Statement ist, das fast nichts verschweigt. Be. K.

Arbeiten & Wohnen. Geschichte und ­Gegenwart des Atelierhauses
Wuhrstrasse 8/10. Hrsg. v. d. Baugenossenschaft Maler und Bildhauer Zürich. Scheidegger & Spiess, Zürich 2021, 260 S., 129 Farb- u. 125 sw-Abb.58 €, ISBN 978-3-03942-030-8
x

Thematisch passende Artikel:

Ausgabe 11/2024

Was ist High-Tech?

Aus hochkarätigen Symposien oder Fachkongressen eigenständige Buchpublikationen zu machen ist fast ausgeschlossen. Solche Zusammenfassungen der vorher in Vorträgen präsentierten Forschung...

mehr
Ausgabe 11/2017

Neuer Mythos ist möglich

In der Recherche zum Thema Minimales Wohnen stieß der Rezensent auf das hier vorliegende Buch. In diesem geht der Fotograf und Künstler S. B. Walker der Frage nach, was aus dem sagenumwobenen Walden...

mehr
Ausgabe 12/2023

Für die Zukunft heute lesen

Warum nicht dieses hier gleich zu Beginn: Die vorliegende, umfassende Arbeit ist ein Buch, wie es sich der Rezensent wünscht: schöner, unaufgeregter Satz, eine Harmonie im Verhältnis Text zu Bild,...

mehr
Ausgabe 06/2017

Unaufgeregt sachlich

Was kommt nach Gottfried Böhm? Möchte man fragen und hätte die Frage zur Nachfolge schon gestellt, wenn man Gottfrieds Vater gekannt hätte, Dominikus. Dessen „Über allem Sein“ der Sohn,...

mehr
Ausgabe 10/2013

Authentisch und nah

Das Äquivalent zum Case Study House Program für Los Angeles stellte in San Francisco der Bay Area Regionalism dar. Beide Städte wuchsen nach dem Weltkrieg 1939-45 rasant und fanden jeweils ihre...

mehr