Werksviertel-Mitte, München
Der Name scheint Programm: Das mit „Werksviertel“ oder „Werksviertel-Mitte“ bezeichnete, 39 ha große Entwicklungsareal im Osten Münchens liegt als schwer verdauliches Planungskonstrukt jedem Beobachter schwer im Hirn: „Fabrikcharme“ soll das, was sich hier seit ein paar Jahren baulich entwickelt, zu einem Kreativquartier hinleiten, das die sonst so behäbige Landeshauptstadt Anschluss finden lassen soll an Frankfurt, Hamburg, ja, warum auch nicht, an Berlin. Bis Anfang der 1990er-Jahre waren auf dem Gelände östlich des Ostbahnhofs Gewerbehallen und Verwaltungen von Pfanni (Knödel), Optimol (Schmierstoffe), Konen (Nähmaschinen) oder Zündapp (Motoren). Was ja auch schon mal einen Mix, Produktionsmix darstellt. Dann wurde, wie bis heute immer noch praktiziert, die Produktion dahin verlagert, wo die Rendite schöner aussah, und das Gelände verwaiste zusehends. Möglicherweise wegen der Nähe zum Bahnhof hielt die Stille jedoch nicht lange an. Das Gelände wurde zum Ausgehgeheimtipp, dann, weil die Bars und Clubs irgendwie legalisiert werden sollten, ab 1996 zum „Kunstpark Ost“. Mit sehr schnell rund 30 Clubs, Bars, Ateliers und Restaurants war hier eine Zwischennutzung für vier Jahre angepeilt, die dann noch einmal um drei Jahre verlängert wurde. Grund: Die Stadt München kam nicht in Bewegung. Der offene internationale, städtebauliche und landschaftsplanerische Ideenwettbewerb wurde erst 2002 ausgelobt und Anfang 2003 entschieden (Gewinner war das Büro Steidle Architekten, München). Zu dieser Zeit gab es nach einer Untersuchung des Geographischen Instituts der TU München vom Mai 2000 im „Kunstpark Ost“ 96 Dienstleistungsbetriebe (49 % Firmenneugründungen) sowie 56 Künstlerateliers. Das Institut erfasste 700 feste Arbeitsplätze, so dass der Rat der Stadt 2003 zu dem Schluss kam, dass der „Kunstpark Ost“ damit „weit mehr als ein reines Freizeitzentrum [ist], er ist auch ein Standort junger Dienstleistungsbetriebe und Künstler und als solcher ein Gründerzentrum für neue, innovative Betriebe.“
Der „Kunstpark Ost“ war Ende der 1990er-Jahre, Anfang der 2000er nicht das einzige innerstädtische Entwicklungsgebiet. Der Strukturwandel (weniger Gewerbe, mehr Dienstleistung), die zunehmende Verlagerung des Warentransports auf die Straße (mehr Flächen durch die Schließung von Güterbahnhöfen und Rangierfeldern) sowie die Schließung bzw. Verkleinerung innerstädtischer Kasernen schufen im gesamten Stadtraum Münchens 16 Planungsfelder. Für die galt es – die meisten waren deutlich größer als das Gelände am Ostbahnhof – detaillierte Planungen zu erstellen, die alle einem Gesamtkonzept für die Stadtentwicklung zu folgen hatten. Für diese Leitentwicklung fehlten offensichtlich zündende wie kohärente Ideen und ganz sicher auch die notwendigen Kapazitäten auf Seiten des Referats für Stadtplanung und Bauordnung, damals unter der Leitung von Christiane Thalgott. Es kam, wie es kommen musste, die Stadt entschied sich für Zwischennutzungen −um Luft zu haben, um mit Übersicht in die Detailplanung für die jeweiligen Quartiere gehen zu können. Und weil damals der Wohnungsbau noch nicht das bestimmende Thema der Stadtplanung war und weil man aus vorangegangenen (illegalen) Besetzungen frei gewordener Immobilien seitens der Kreativen gelernt hatte, dass diese Eroberungen von bisher unzugänglichem Stadtraum in der Regel positive Folgen für den ehemaligen Lost Space hatten, sollten, ja mussten Start-ups und Künstler östlich des Ostbahnhofs ihre Spielwiese bekommen, unter Auflagen und für vier Jahre, wie schon gesagt.
Der Wettbewerb als Initial und das „Münchner Modell“
Die Dynamiken in der Stadtplanung jeder Großstadt sind enorm, meist erkennt man den Schwung, der oft einem hohen wirtschaftlichen Druck unterliegt, aber in der Veränderung des Stadtraums nicht. München hatte mit seinen Planungsfeldern das Potential erkannt, aber was damit machen? In der Beschreibung des von Steidl Architekten gewonnen Ideenwettbewerbs wurde eine Rahmenplanung „Rund um den Ostbahnhof“ direkt bei dem Münchener Büro beauftragt, deren Weiterentwicklung in ein Konzept münden sollte, „das die Vitalität und Vielschichtigkeit der vorhandenen Bebauung und Nutzung als positives Potential für die Entstehung des neuen Quartiers begreift.“ Die, so das Büro Steidle Architekten 2007 weiter, „momentan vorhandenen Aktivitäten und Nutzungen sollen schrittweise kultiviert, verdichtet und fortgeschrieben werden, während parallel dazu neue Entwicklungen angestoßen werden. Das Nebeneinander unterschiedlicher Nutzungen, von alt und neu, von kultiviert und roh, bietet Chancen, ein unverwechselbares und sehr eigenständiges Quartier zu entwickeln.“ Damit hatten die Architekten exakt den Kern dessen erfasst, was das Werksviertel ausmachte und was es für die Stadt (jetzt mit Baurätin Elisabeth Merk) zu einem von zehn „Handlungsräumen“ und schließlich zum „Modellprojekt“ hat werden lassen für das „Münchner Modell“. Das, so das Planungsreferat, soll dazu dienen, „das notwendige ‚Spielfeld‘ für die Entwicklung der Handlungsräume aufzuspannen – ohne dabei jeden ‚Spielzug‘ vorwegzunehmen.“ Oder um es präziser zu formulieren: Man habe also „ein Modell, das sowohl einen für alle Handlungsräume verbindlichen Rahmen definiert, als auch ausreichend Freiräume für eine an die Bedarfe eines jeden Handlungsraums angepasste Vorgehensweise gewährt.“ (Perspektive München Konzepte: Handlungsräume der Stadtentwicklung, hrsg. v. Landeshauptstadt München, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, München 2019)
Urbane Vielfalt. Aber was ist das eigentlich?
Die Architekten verstehen das bis heute als „urbane Vielfalt, räumliche Ereignisse und programmatische Innovation“. Wer zuzeit über das immer noch wilde Gelände streift, den springen insbesondere die räumlichen Ereignisse an, denn das Werksviertel ist – Corona-bedingt – wie ausgestorben. So kann man noch einige Reste des alten Geländes erkennen, bewusst integriert in Neubauten, saniert oder schlicht „zwischengenutzt“, also kurz vor Abriss und Überbauung. Die Straßen, die hier angelegt werden sollen, sind noch Notpisten, Reste ehemaliger Gleisanlagen oder schlichte Wiese, über die zu fahren man sich hüten sollte. Es besteht die Gefahr, sich festzufahren oder dass die Reifen von Metallteilen, Glas oder anderen scharfkantigen Gegenständen durchbohrt werden.
Ein paar Neubauten stehen schon länger, einige sind in der Fertigstellung, wenige kommen noch. Prominenteste Ergänzung wird das Konzerthaus München sein, für das demnächst die Bauarbeiten dort starten, wo jetzt noch ein etwa 80 m hohes Riesenrad zum Siteseeing und Sightseeing einlädt. Gewonnen hatte den Wettbewerb für dieses Prestigeprojekt, das für München eine vergleichbare Herzenssache ist wie die Frauenkirche für Dresden, das Bregenzer Büro Cukrowicz Nachbaur Architekten (u. a. gegen Chipperfield, Zaha Hadid, Volker Staab u. a.).
Es hat natürlich Abrisse gegeben, Zu- und Umbauten der Werkanlagen, aber auch komplette Neubauten wie das Werk 2, ehemalige Pfanni-Produktion. Damit sind auch legendäre Clubs verschwunden, aber die stammten ja auch aus der Zeit der Zwischennutzung, damals, als man noch mehr durfte als heute. Die Bodenpreise erlauben solche Nutzungen einfach nicht mehr. Und tatsächlich: Gibt es einen legendären Club, der nicht irgendwann weichen musste, schon, um nicht sein Legendäres zu verlieren?
Heute wird sportlich gewohnt
Heute wird gewohnt (1 150 Wohnungen sind geplant, davon 340 gefördert), gearbeitet und – Retrotrend – indoorgesportelt, was das Zeug hält. Man kann Essen gehen oder sich Essen bringen lassen, man kann flanieren und das Notwendigste einkaufen oder sich in die S-Bahn setzen und in der Stadt das Notwendigste um das Schöne ergänzen. Drei Stationen. München ist nicht Berlin, die Neubauten von Hild und K, von Steidle Architekten, N-V-O Architekten oder MVRDV stehen entlang imaginärer Straßen. Zahlreiche Hotels setzen auf Umsatz mit Kulturtouristen, die Gastronomie auf eben diese und auf diejenigen, die mittags schnell aus dem Büro eilen um sich zu stärken. Noch hat vieles den Charme (und die Chance!) des Unfertigen, noch dürfen Künstler mit Auftrag Wände mit Grafitti gestalten und können – demnächst wieder – auch unbekanntere Bands ihren Auftritt haben.
Doch wie so viele innerstädtische Quartiere wird der Mix aus hochwertig und improvisiert, aus professionell und ambitioniert, aus extrem schnell und extrem behauptend in ein Gleichgewicht wollen, das das passende Umfeld für das Müncher Konzerthaus werden muss. Konzerthaus? Zwei Hallen bieten Platz für kleine bis große Auftritte, aber auch für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks BRSO? Lange wurde um dieses Konzerthaus gerungen, sehr lange. Dann kam die Standortsuche, die Entscheidung für den Münchener Osten. Hier nun, zwischen eher klobigen Hotelbauten und im Schatten eines Büroturms mit Wohnen und anderen, zwischen ehemaligen, bereits lange schon umgenutzten Gewerbehallen und Resten von dieser Landschaft, die einmal Arbeitslandschaft war, soll irgendwann einmal ein internationales Publikum Mozart, Mahler, Hayden, Beethoven lauschen? In einem Glashaus, das die Münchener schon „Schneewittchensarg“ nennen. Martin Wöhr, Vorsitzender der Freunde des BRSO, äußerte sich kritisch zur Wahl des Bauplatzes. Ihm gefiel zur Wettbewerbspräsentation der Entwurf schon, der Ort allerdings nicht so: „Das Teil“, so Martin Wöhr, „hätten wir auch im Finanzgarten untergebracht.“ Dieser prominentere Standort am Englischen Garten war lange in der Diskussion. Dem Vorsitzenden war das Werksgelände nicht geheuer. Damals. Denn längst ist aus dem unaufgeräumten Feierviertel eine nette Vorzeigeadresse geworden, in die investiert wurde und wird. Ob das Werksviertel Modellprojekt für das Münchner Modell bleibt? Dann müsste man erst einmal klären, was die Stadt tatsächlich und ganz konkret mit einem Modelltypus möchte. Die Bodenbesitzverhältnisse allerdings sind beim Werksviertel klar: 10 % sind hier städtischer Besitz, der Rest gehört privaten Unternehmen. Modell? Be. K.