Form follows love? Anna Heringer mit und gegen den Diskurs
Es gibt sie, die Leitsätze, die Architekten und auch Designer, Ingenieurinnen und Theoretikerinnen in ihrer Sicht auf die Dinge ein Arbeitsleben lang begleiten. „form follows function“ gehört dazu, eine Sentenz, mit der vor bald 130 Jahren der US-Amerikaner Louis Sullivan ein Diktum für viele (westliche) Entwerfer in die Welt brachte. Aber hat diese Effizienz-Formel seine Apologeten, hat sie die Gesellschaft weitergebracht, sie entwickelt nach den Gesetzmäßigkeiten des Kalküls?
Es gab natürlich Kritiker. Es gab Gestalter, die Gegenpositionen formulierten in der Art, so wie es Robert Venturi mit Mies‘ „less is more“ gemacht hatte und mit seinem „less is a bore“ das „Learning from Las Vegas“-Diktum (mit Denise Scott Brown) nicht minder wirksam im westlichen Architekturdiskurs platzierte. Mit „form follows function“ wurde und wird bis heute Formfindung und Funktion als untrennbare Einheit angesehen, ganz gleich, ob es nicht auch gänzlich unterschiedliche, auch divergierende Funktionen aus einer Form zu bilden gäbe oder vice versa. „form follows function“ hat eine Ästhetik geprägt, die sachlich erscheint, weil sie logisch aus dem Ursächlichen abgeleitet zwingend generiert ist.
Aus der Formel, die nach jeder Anwendung in der Architektur das „quod erat demonstrandum“ nach sich zu ziehen scheint – ein formeller Satz unter einem in der Mathematik erfolgreich (!) geführten Beweis – sind weitere Ableitungen entstanden, die nicht bloß das Produktdesign in Anspruch genommen haben, auch andere, künstlerische oder kreative Arbeiten haben sich auf Sullivans Satz zurückgezogen. Er selbst war mit seinem The Wainwright Building (zusammen mit Dankmar Adler) möglicherweise auf einer ganz anderen Route unterwegs, als später dann die Heroen der Moderne mit den Moderne-Ikonen wie der Villa Savoye (Le Corbusier) oder dem Guggenheim Museum (Frank Lloyd Wright) auf ihre Art Wege in der Architekturgeschichte gegangen sind: „form follows function“, wie Sullivan es meinte, war zudem eher dem antiken Ideal harmonischer und damit elaborierter Baukunst verpflichtet. Seine Hochhäuser waren – in der Gestalt – nichts weniger als die zeitgenössische Interpretation griechischer Säulen. Tatsächlich stammt die Sullivan-These ursprünglich von dem US-amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough, der bereits 1852 den Zusammenhang von Form und Funktion in den organischen Prinzipien der Architektur zu erkennen glaubte.
Dennoch, das Einprägsame, das (scheinbar) Einfache bleibt. Und sickerte über die Jahrzehnte in sämtliche Diskurse ein, wird hunderttausendmal gedruckt, gelesen, vorgelesen, analysiert und wieder gedruckt. Und schließlich gebaut, irgendwie. „form follows function“ wird auch verteidigt im Rückzug auf das Rationelle, auf zu optimierende Produktionsabläufe, auf die Produktevermarktung, die überzeugen muss, die ein neues Produkt (auch ein Gebäude) neben den unzählig schon vorhandenen zu rechtfertigen hat: Die Form folgt der Funktion so wie Wasser der Topografie folgt, zwangsläufig, naturgegeben. So einfach ist das.
Aber ist es das? Nun bin ich da angelangt, von wo aus das gerade Geschriebene gedacht ist, bei einem druckfrischen Buch, dessen Autorin die meisten von Ihnen vom Namen her kennen: Anna Heringer (Form follows love. Intuitiv bauen. Birkhäuser, Basel 2024). Der Titel verrät schon, wohin offensichtlich die Reise gehen wird: nicht ins Funktionale, nicht zu den Rationalisten und Modernisten (letzteres ist tatsächlich ein Schimpfwort), sondern zurück, an einen Anfang. Zurück?
„Ich hatte lange kein besonderes Interesse daran, in Deutschland zu bauen. Es gibt zuviele Vorschriften, die häufig von der Bauindustrie und ihren Lobbys mitgetragen werden und die potenzielle Innovationen oft bewusst verhindern.“
Anna Heringer würde sagen: nach vorne. Weil das Intuitive, das hier mit Emotion und Maßstäblichkeit, Verantwortung und Glücklichsein verbunden wird, mehr sein kann als der längst nicht mehr grundsätzlich hinterfragte, omnipräsente Standard, mit dem auch kritisch eingestellte Büros allenfalls noch einen „Leben und Lebenlassen“-Diskurs führen, ohne die grundsätzlichen Fragen zu stellen.
Die grundsätzlichen Fragen sind beispielsweise die, ob Wachstum und Wohlstand tatsächlich unverbrüchlich zusammenhängen. Oder ob nicht das andauernde Streben nach dem Optimum, das in „form follows function“ suggeriert wird, nicht eher der immergleiche Rhythmus in einem Voranschreiten ist, das, von außerhalb des Systems betrachtet, Stillstand, ja sogar auch Rückschritt darstellt. Und hier sind wir wieder mitten in diesem Buch der Anna Heringer (zusammen mit der Autorin Dominique Gauzin-Müller), das mit seiner Direktheit und dem Fernsein vom gegenwärtigen Diskursvokabular auf jeder Seite das System Bauwirtschaft – in dem die Architekten und Ingenieure einen nicht unerheblichen Einfluss haben – als etwas Rückständiges hinterfragt. Dass die Schrift in einem renommierten Architekturbuchverlag erscheint, könnte verwundern, ist der Duktus von Text und Bild doch sehr persönlich, teils von wunderbarer und zugleich irritierender naiver Direktheit, die derart angreifbar selten von Architekten wahrzunehmen ist. Die – und das sei betont – zugleich auch erleichternd unprätentiös sehr schnell und sehr anschaulich zum Kern der Sache „Wie denn bauen?!“ kommt.
„Das Bauen ist tief in der menschlichen DNA verankert. Wir haben uns davon entfernt, weil wir heute daran gewöhnt sind, dass alles schon da ist.“
Stichworte sind: Ökologie, soziales Engagement, Handwerk, Gerechtigkeit, Diversität, Claystorming, Kostenwahrheit, Schönheit des Materials, Genügsamkeit, Partizipation, Frauenpower, Architektin und Mutter und natürlich das Gebaute: Fassadenrhythmus, das richtige Haus, jeder Mensch ein Baumeister, Unvollkommenheit im Detail, Gestaltung als Prozess usw. Anna Heringer – die mittlerweile zahlreiche renommierte Preise für ihre Bauten erhalten hat, hochdotierte, internationale Preise für ihr Engagement und ihre Arbeit insgesamt, die gefragte Vortragende auf prominent besetzten Panels ist und deren Zurückhaltung einen größeren Kult um ihre Person bis heute verhindert – Anna Heringer stellt Fragen, gibt Antworten, sämtlich scheinbar (intuitiv) aus dem Bauch heraus, nicht an Vorbildern angelehnt oder eben an der zur Hohlheit sich neigenden Fachsprache des gegenwärtigen Diskurses, die eigenartige Räume (Blasen?) erzeugt, in denen das Immergleiche in marginalen Abwandlungen immer schneller von allen Seiten widerhallt, längst richtungslos und über den Raum hinaus auch wirkungslos; viel Lärm um Nichts.
Dass ich hier über die Architektin schreibe, entspringt möglicherweise dem Gefühl, dass wir Persönlichkeiten, wie sie eine ist, dringend brauchen, in unruhigen Zeiten wie diesen um so dringender. Der Hang – zumindest der der westlichen, so genannten „entwickelten“ Länder – auf selbst verursachte, durchaus gravierende und die Gesellschaft bedrohende Probleme mit höchst elaborierten (technischen) Lösungen zu reagieren, in deren Folge neue, ernsthafte Probleme entstehen, auf die in gleicher Weise wie zuvor reagiert wird usw. wird in den meisten gebauten Projekten gespiegelt: Neue Technologien, neuartige Verfahren und gemonitorte Prozesse sollen die Architektur optimieren, sie nachhaltig, kreislauffähig, effizient und damit baubar machen. Aber Liebe?
„Ich schnitt mir den Masterplan, den ich erhalten hatte, aus Ton aus und begann, ihn in einem Claystorming-Prozess mit den Händen umzuformen.“
Damit komme ich zum Schluss. Anna Heringer beschreibt sich selbst, ihren Werdegang, ihr Netzwerk, das sie Freunde nennt, ihren Fokus auf das Bauen, ihre Erfahrungen mit dem Bauen in Afrika, in Indien, in diesem Land und eigentlich überall auf der Welt. Dass sie dabei aus sich selbst heraus schreibt und nicht – wie schon der Autor hier – immer wieder und natürlich rückversichernd Bezüge zur Geschichte und dem allgemeinen Diskurs herstellt und statt dessen vom Lebensglück schreibt, macht den Text, macht das Buch zu einem kleinen Lesestück, das wir öfter als einmal lesen werden auf der Suche nach unserer Verfasstheit, die sich nicht in Vitruvschen oder Sullivanschen oder Koolhaasschen Bonmots wiederfindet. Vielleicht noch bei Lucius Burkhard, ganz sicher auch im Werk von Bernard Rudofsky. Architektur muss wohl wieder vernakulär werden, dauerhaft, Ausdruck von Selbstwirksamkeit (ein leider schon ziemlich verbrauchtes, missbrauchtes Wort) und Liebe (Respekt?). „Form follows love“ oder „Architektur ist keine Ware“. Benedikt Kraft/DBZ