Gemeinschaft formen
Die Künstlerin Sonia E. Barrett beschäftigt sich in ihrer Installation „Sculpting more community“ mit dem macht- und gewaltvollen Moment von Landkarten, die ein entscheidendes Werkzeug für die Kolonialisierung waren. Wir sprachen im Interview über die Wirkmacht von Karten für unsere Auffassung von der Welt und die Bedeutung von multiplen und kollektiven Autor:innenschaften für Raumbildungsprozesse.
Sonia E. Barrett, wie kamen Sie auf die Idee, Papierlandkarten zu schreddern?
Die Idee entstand, als ich aus den USA zurück nach England gereist bin. Ich hatte dort eine Plantage in den Südstaaten besucht, was wirklich schwierig und schmerzhaft war. Sobald ich im Flugzeug war, war ich erleichtert. Dann habe mich gefragt: Warum spüre ich diesen Schmerz nur auf der Plantage, aber nicht in England? Die Geografie vermittelt uns, dass Orte voneinander separiert sind und nichts miteinander zu tun haben. Und so bin ich an einem Ort mit bestimmten historischen Ereignissen und Erinnerungen konfrontiert, an anderen nicht. In Wirklichkeit sind diese Räume stark miteinander verschränkt. Es ist falsch zu denken, dass ich an dem einem Ort Menschenrechte verletze und an dem anderen nicht, oder, dass ich an einer Stelle die Umwelt verschmutzen kann und sie an anderer Stelle sauber bleibt. Die Idee der Geografie, die Welt in Felder zu unterteilen, die A2 und C4 heißen, macht diese Trennung von Räumen besonders deutlich.
Beteiligte des kollektiven Workshops (von links): Jane Kirogo Wamuyu, Abdé Batchati, Sonia E. Barrett, Kahbit Enow, Laveria Mwai. Nicht abgebildet, aber teilnehmend, Catherine Wanjiku Muthoni
Foto: Adeola Hahn
Ging es Ihnen also darum, diese vereinheitlichende Logik der Landkarte zu durchbrechen?
Die Karten zu schreddern ist ein politischer Akt, weil Karten das sind, was Menschen ihrer Identität beraubt und ihre Persönlichkeit negiert. Und die Karte trennt die Person vom Land und unterteilt das Land daraufhin in ein Raster. Ich dachte mir, wenn in Unternehmen Dokumente geschreddert werden, weil sie eine Gefährdung darstellen, dann können wir das auch mit Karten machen. Es gibt nichts, das Identitäten mehr gefährdet als Karten. Die Idee, die Fäden zu verweben, hat etwas mit dem Konzept von physischer Aneignung von Räumen zu tun. Es geht darum, sie zu verweben und zu verbinden.
Warum haben Sie sich für eine kollektive Arbeitsweise entschieden? Welche Rolle hat die Gemeinschaft?
Es gab so viele Männer, die geglaubt haben, sie hätten die Allmacht, die Räume auf eine Art und Weise zu beschreiben. Es ist wichtig, Kollektive zu bilden, um diese Trennung von Raum in unseren Städten, Ländern und Kontinenten und auch der See zu thematisieren. Das hat eine globale Ebene. Da es hauptsächlich europäische, weiße Männer waren, die die Welt kartiert haben, haben wir als Kollektiv von black and brown women gearbeitet. Wir haben das Flechten als aktive Praxis of care, daher hat es für uns sehr viel Sinn gemacht, die Karten zu schreddern und dann zu flechten.
Die riesige, netzartige Skulptur
entstand gemeinsam durch das
händische Flechten der Papierstreifen von geschredderten Landkarten
Foto: Oliver Barrett
Die Installation ist zuerst in London in der Royal Geographical Society entstanden. Wieso wählten Sie diesen Ort?
Vom Kartenraum der Royal Geographical Society in London aus haben Kartografen im 19. Jahrhundert die Welt kartiert. Dort haben wir erstmalig eine Installation aus Karten von England und den britischen Kolonien erschaffen. Nachdem wir also in London in so einem wichtigen, aber feindlichen und männlichen Ort der Kolonialgeschichte gearbeitet haben, war es für uns interessant, das Werk danach in einem feministischen Kunstraum zu erstellen. Wir kamen auch nach Berlin, weil von hier aus der Afrikanische Kontinent aufgeteilt wurde. Damals wurde eine Karte auf den Tisch gelegt und darauf Linien gezogen. Wir haben eine Karte geschaffen, die man nicht auf den Tisch legen kann, auf der man eben keine Linien ziehen kann.
Aus der zweidimensionalen Karte wird also ein dreidimensionales Objekt im Raum. Geht es Ihnen bewusst darum, sich damit jeder Ordnung zu entziehen?
Ich sehe die geflochtene Karte eher als einen Organismus. Dazu muss ich kurz ausholen: Ich versuche in meinen Werken grundsätzlich zu zeigen, dass Unterscheidungen in den Kategorien Objekte, Tiere und Menschen, Mineralien usw. problematisch sind. Ein Lederstuhl ist zwar ein Objekt, Teile von ihm stammen aber von einem Tier, das Holz stammt von einem Baum. Ich lasse alle diese Teile sprechen und möchte damit zeigen, dass nichts nur eine Sache sein kann. Genauso spalte ich die Papierlandkarte in diesen Bedeutungen auf. Mir ist es auch wichtig zu sagen, dass es so viel gibt, was wir nicht wissen. Die skulpturale Karte mit all ihren Fehlstellen und Lücken spielt auf die vielen Ebenen an, die unter und oberhalb der Fläche liegen, die die zweidimensionale Karte fixiert. Ich möchte damit herausstellen, was wir alles nicht wissen und dass darin auch eine Schönheit liegt.
Interview: Natalie Scholder/DBZ
Foto: Sonia E. Barrett
Die Erkenntnis, dass wir nicht alles wissen können, sollte sich meiner Ansicht nach nicht nur in Landkarten, sondern auch in Stadtplänen widerspiegeln. Halten Sie diesen Gedanken auf die gebaute Welt übertragbar?
In Bezug auf Städte und gebaute Räume sind gerade die nicht determinierten Räume kraftvoll. Also Räume, von denen wir nicht wissen, was in ihnen passieren wird und die dieser Ungewissheit Ausdruck verleihen. Genauso wie die Landkarte, kann der Stadtplan nicht nur mit der Oberfläche agieren, ohne zu beachten, was unterhalb der Oberfläche und in der Luft passiert. Und es geht auch nicht nur um die Umbenennung von Räumen. Das ist ein Schritt, aber vor allem muss erkannt werden, dass nicht alles benannt werden kann und nicht alles quantifizierbar ist. Ich denke, es ist eine wichtige politische Herausforderung, offene Räume für alle zu schaffen und Aneignung zu ermöglichen.
Interview: Natalie Scholder/DBZ