Klassen und Raum. Eine Ausstellung in Bielefeld

Jeder geht in die Schule. Also eigentlich. Denn es gibt tatsächlich Hinderungsgründe: wenn die Wege zu weit, zu schlecht, zu gefährlich sind, Kinderzwangsarbeit, wenn sie ein Mädchen ist, das Schulgeld das Familien­budget überschreitet u. v. a. m. Dass wir uns dennoch immer wieder Gedanken darüber machen, wie wir Lernräume gestalten, wie Lernen effektiver, lustvoller und nachhaltiger werden kann, liegt am Luxus eines (mehr oder weniger) gut ausgebauten und schulkostenfreien Zugangs zum Lernen in vielen Schulmodellen. Wir könnten auch anders auf Schule schauen, so wie in einer Ausstellung in Bielefeld (nur noch bis zum 21. Juli 2024).

Zuletzt hat den Autor ein Buch mit dem Titel „Classroom, a teenage view“ (Rezension in der 06|2024 DBZ) vom mitteleuropäischen Schauen auf Schule überzeugt, in dem ein ganz anderes Schauen als das im zeitgenössischen Architekturdiskurs gepflegte präsentiert wurde. In Letzterem geht es immer wieder um den Bezug auf das nicht eindeutig belegte, aber überall präsente Zitat vom dritten Pädagogen, der mit den Kindern und dem Lehrer selbst der (Klassen-)Raum ist.

Nun zeigt der Bielefelder Kunstverein mit „Klassenzimmer (Sala de Classe)“ wieder eine ganz andere Leseschicht auf Schule, die überraschend trivial Schule als eine Realität darstellt, mit der wir alle einmal (glücklicherweise) konfrontiert waren. Die Brasilianerin Andréa Hygino (* 1992) reflektiert mit ihren skulpturalen, filmischen, foto­grafischen wie grafischen Arbeiten Schule als einen Erfahrungsort von strukturellem Rassismus und Klassendenken. Anhand des öffentlichen Bildungssystems Brasiliens – das eine in der Arbeit nur am Rand vorkommende, spezielle Architektur hervorgebracht hat – betrachtet Andréa Hygino die „mikropolitische Dimension ­weiterhin bestehender kolonialer Denk- und Handlungsweisen“ (Kunstverein), die sich im Klassenzimmer abspielen. In diesen Kontext stellt sie ihre Arbeiten, die das Normierende ebenso wie das Verwandelnde, die Vereinzelung wie Gruppendynamiken präsent werden lassen.

Schulmöbel, die Zwänge ausüben

Schulmöbel, die Zwänge ausüben, die für zu hoch, zu wenig, zu nutzlos verfremdet werden, deren vielfach genormter Gestus (Rechtshänder), mittelgroß, Geradesitzer etc. kommentiert und alternativ beantwortet wird. Hinzu kommen Videoarbeiten zu Sprache und Sprechen(müssen), zur Geschichte der Selbstversicherung (Capoeira) oder grafische Arbeiten, die den Kritzelkosmos, die Sgrafitti und Palimpseste von Schülerinnengenerationen aufleuchten lassen als das, was sie sind: Notate der Langeweile, der Überforderung, des Tagträumens etc.

Dass die Arbeiten von Andréa Hygino derart präsent wirken, verdanken sie der (altersmäßigen/ emotionalen?) Nähe der Künstlerin zum Topos Schule: In allen Arbeiten spielt eigenes Erleben oder die noch nicht zu Ende reflektierten Geschichten befreundeter/bekannter Ehemaliger die entscheidende Rolle. Für uns ist die Konfronta­tion mit ihren überraschenden wie betroffen machenden Arbeiten Anlass und Aufforderung zugleich, das Thema Schule und Raum, Kindsein und Fürsorge, Angstfreiheit und Zwang immer wieder neu zu denken, zu diskutieren und auch in Planung umzusetzen. Der Raum als dritter Pädagoge spielt dabei eine komplett untergeordnete oder – und das ist der Witz – zentrale Rolle: weil in ihm alles und zugleich nichts geschieht.

Dass die Kuratorin den Originaltitel „Sala de Classe“ wortwörtlich aufgegriffen hat, um das Raumthema in den gesellschaftlichen Diskurs über Klassen zu erweitern, wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen; Andréa Hyginos Blick auf das Gegebene erzählt von nichts anderem. Schule ist im idealen Fall eben kein in sich geschlossenes Gesellschaftsstück, sondern die Gesellschaft selbst.

Reagiert auf Pausenklingel gegenüber

Während der Produktion der Ausstellung fanden mehrere kunstpädagogische Workshops von Andréa Hygino in Kollaboration mit der Laborschule Bielefeld und der Westkampschule Bielefeld mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation statt. Die Ergebnisse der Workshops sind in Teilen in den Räumen des Kunstvereins zu sehen. Die Ausstellung wird zudem von Besuchen der „Arbeitsgruppe 10: Migrationspädagogik und Rassismuskritik“ sowie dem Oberstufen-Kolleg Bielefeld begleitet. Zudem findet im Rahmen der Ausstellung eine Lehrveranstaltung mit dem Titel „Thoughts on school – Schreibpraktiken spekulativer Fabulation“ für das Institut der Medien und Kulturwissenschaft der Heinrich Heine Universität statt.

Um das Innen mit dem Außen zu verbinden, rea­giert die Ausstellung auf die Pausenklingel der gegenüberliegenden Schule: Der Ausstellungsort nimmt sich (theoretisch) ebenfalls eine „Pause“. Eine zweite Arbeit im Innenhof des Kunstvereins referiert unter dem Titel „Domingos, Feriados, Rios, Marés“ (Sonntage, Feiertage, Flüsse, Gezeiten) ebenfalls auf einen solchen Moment der freien Verfügung. Auf zwischen den Bäumen befes-tigten Wäscheleinen gehängte Schuluniformen sollen das demokratische Versprechen der Gleichbehandlung kritisch in Frage stellen; sie visualisieren aber ganz schlicht auch die Anwesenheit von Schülerinnen und ihren Lehrern, die sich bereit machen für den kommenden Lerntag. Dann sind die Leinen leer und das Arbeiten in den Räumen und auf den Möbeln startet von Neuem und doch immer wieder wie ganz von vorn.

Benedikt Kraft/DBZ

www.kunstverein-bielefeld.de

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