Grüner Setzkasten

Médecins sans frontières, Genf/CH

Flexibel ist wohl das erste Adjektiv, das Architektinnen und Architekten einfällt, wenn es um moderne Büroarbeitsplätze geht. Für die Organisation Ärzte ohne Grenzen ist diese Arbeitsweise jedoch nicht neu, sondern gehört seit der Gründung zu ihrem Selbstverständnis – das zeigt sich nun auch an der Fassade ihres neuen Hauptquartiers aus der Feder von Sauerbruch Hutton

Architektonisches Camouflage:
Das Fassadengrün verschmilzt mit der Vegetation der Umgebung
Foto: Adrien Barakat

Architektonisches Camouflage:
Das Fassadengrün verschmilzt mit der Vegetation der Umgebung
Foto: Adrien Barakat

Der Name ist Raumprogramm: Bereits im alten Hauptquartier der Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans frontières, MSF) in Genf wucherten die einzelnen Abteilungen über die Etagen des Altbaus in der Rue de Lausanne 78 und des zugemieteten Bürokomplexes in der 80/82. Uneingeweihte verirrten sich gern einmal in den langen Gängen. „Bei unseren ersten Besuchen vor Ort fühlten wir uns wie bei einer Schnitzeljagd“, erinnert sich Julia Knaak, Partnerin und Projektmanagerin des Berliner Architekturbüros Sauerbruch Hutton. „Gleichzeitig erzählte uns das kultivierte Chaos und die allgegenwärtigen Zimmerpflanzen viel über die Arbeitsweise und -kultur dieser Organisation. Spezialisten aus den verschiedensten Ländern kommen hier in immer wieder unterschiedlichen Konstellationen zusammen, um möglichst schnell und pragmatisch auf aufkeimende Krisen zu reagieren.“ Dazu gehören nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Logistikerinnen und Logistiker, Juristinnen und Juristen, Verwaltungsangestellte und zahlreiche andere Spezialisten, die sich aufeinander verlassen müssen und die Kultur der kurzen Wege schätzen.

Fünfte Fassade mit Aussicht: Die Dachterrasse zählt heute zu den beliebtesten Orten im neuen Hauptquartier der MSF
Foto: Sauerbruch Hutton

Fünfte Fassade mit Aussicht: Die Dachterrasse zählt heute zu den beliebtesten Orten im neuen Hauptquartier der MSF
Foto: Sauerbruch Hutton

Im Altbau hatte sich diese Arbeitsweise über ein Raumprogramm gestülpt, das eher für statische, individuelle Büroarbeit entworfen wurde. Was aber, wenn das Raumprogramm des Neubaus sich der dynamischen, kollaborativen Arbeitsweise nicht nur nicht in den Weg stellt, sondern sie sogar aktiv unterstützt?

Informelle Arbeits- und Begegnungsorte im Umfeld der Treppen
Foto: Jan Bitter

Informelle Arbeits- und Begegnungsorte im Umfeld der Treppen
Foto: Jan Bitter

Flexible Flächen flexibel nutzen

„Der Entwurfsgedanke, mit dem wir 2017 in den international ausgeschriebenen Wettbewerb gegangen sind, sah vor, dass sich das Gebäude durch seine Transparenz, Offenheit und einer großen Bandbreite an unterschiedlich proportionierten Platzangeboten für Einzel- und Gruppenbüros, zwischen denen Konferenzräume und Gemeinschaftsbereiche Übergänge und Rückzugsräume schaffen, immer wieder neu und situativ aneignen lässt“, erklärt Julia Knaak. Dazu gehören auch die von Sauerbruch Hutton entwickelten Büromöbelserien, die als mobile Raumteiler dienen, sowie Sitzmodule mit Pflanzkästen und einfache, gepolsterte Hocker, mit denen sich spontane Zusammenkünfte schnell organisieren lassen.

Als Orte der Begegnung orientieren sich auch die Teeküchen an den Treppen zwischen den Etagen
Foto: Jan Bitter

Als Orte der Begegnung orientieren sich auch die Teeküchen an den Treppen zwischen den Etagen
Foto: Jan Bitter

Insbesondere der Verzicht auf einen zentralen Erschließungskern unterstützt den Transit der Ideen und Teamkonstellationen im Hauptquartier: Abgesehen von den beiden Fahrstühlen am Übergang zur Kantine sollen sich die Beschäftigten das Gebäude über ein kaskadierendes Treppensystem erwandern, in dessen Umfeld sich Teeküchen, Sitzgelegenheiten und Versammlungsorte befinden. Auch die Blickbezüge zwischen den Etagen tragen zum Gefühl der Transparenz und der fließenden Übergänge bei.

Grüne Gardine: Sonnenliebender Hopfen überwuchert Teil der Fassade
Foto: Jan Bitter

Grüne Gardine: Sonnenliebender Hopfen überwuchert Teil der Fassade
Foto: Jan Bitter

Fassade spiegelt innere Organisation

„Die Fassadengestaltung ist für uns letztlich eine Folge dieser inneren Organisation – ein Schaufenster, das bereits einen ers­ten Eindruck vom inneren Geschehen gibt“, sagt Julia Knaak. Ihrem Entwurf spielte dabei in die Karten, dass sich die Organisation ohnehin einen Neubau wünschte, dem man seine Funktion als Bürogebäude nicht auf dem ersten Blick ansieht.

Lageplan, M 1 : 15 000

Lageplan, M 1 : 15 000

Von hier bis zur Fassadenbegrünung sei es damals nur ein kleiner Schritt gewesen: „Uns waren die Zimmerpflanzen im Gedächtnis geblieben, welche die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damals auch als Raumtrenner nutzten, um ihr eigenen kleinen Refugien innerhalb des wechselhaften Arbeitsumfelds zu schaffen. In einem flächeneffizienten Neubau war dafür natürlich weniger Platz. An der Fassade aber konnten wir sie zitieren, den neuen Ort also wortwörtlich in der Geschichte der Organisation verwurzeln.“

EG, M 1 : 750

EG, M 1 : 750

Die ein, zwei oder abschnittsweise auch schon einmal drei Geschoss hohen Holzrahmen bilden dabei die formelle Fortsetzung der floralen Raumteiler im Altbau: Hinter ihnen springt die Fensterfront mal mehr oder weniger zurück, gibt Raum für Balkone und Loggien oder macht Platz für größere Büros im Inneren. Außerdem bieten die Rahmen Stellfäche für Pflanzkästen und Rankhilfen, die das Gebäude im Umgebungsgrün einbetten und ein Gefühl von Privatheit schaffen, verstellen dabei aber nicht den Ausblick nach draußen. Zusätzlich steifen die 50 cm tiefen Rahmen die vorgehängte Fassade aus, die so auch problemlos die schweren Pflanzkübel tragen kann. Technisch sind die Pflanzkästen mit einer automatischen Bewässerungsanlage ausgestattet, die sich den Witterungsbedingungen anpasst.

1. OG, M 1 : 750

1. OG, M 1 : 750

Nicht teurer als Fensterputzen

„Die Tiefgarage des Nachbargebäudes erstreckt sich noch weit unterhalb des Hauptquartiers, dessen Gelände die Organisation lediglich im Erbbaurecht gepachtet hat“, sagt Julia Knaak. Der Verkauf des Altbaus, Spenden und Rücklagen deckten gerade die Neubaukosten und zwang die Bauherren zu einer gewissen Pragmatik in ihren Entscheidungen. Weshalb auch die ursprünglich geplanten Geschossversprünge letztlich der Flächeneffizienz geopfert wurden.

3. OG, M 1 : 750

3. OG, M 1 : 750

Mit der Pflege des Grüns und den damit zusammenhängenden Installationen sind örtliche Fassadenklatterer betraut. Auf dem Dach befinden sich deshalb photovoltaische Anlagen und eine Terrasse – aber keine Wartungskörbe. „Auf diese Weise ist die Wartung unserer Grünfassade ähnlich aufwands- und kostenintensiv wie die einer Glasfassade“, sagt Julia Knaak. Ob und wie das Grün zur Verschattung und zum Mikroklima des Gebäudes beiträgt, habe man nicht weiter evaluiert. Das Grün diene vor allem dem Wohlbefinden und gestalterischen Aspekten. Lediglich bei der Auswahl der passenden Pflanzen habe man sich intensiv mit der jeweiligen Position an der Fassade auseinandergesetzt: sonnenliebenden Hopfen für die Rankgitter, bunt blühende Pflanzen in den Loggien, Küchenkräuter wie Salbei vor der Kantine und vieles mehr. 

Schnitt, M 1 : 750

Schnitt, M 1 : 750

Kälte und Wärme aus dem See

Auf dem Dach der Kantine, das statisch dafür gerüstet ist, bei weiterem Platzbedarf in der Zukunft aufgestockt zu werden, befindet sich aktuell noch ein Technikrucksack. Eine Notlösung, da das städtische Fernwärme- und -kältesystem GeniLac, das sich künftig aus einer Tiefe von 45 m aus dem Genfer See speisen soll, noch nicht fertiggestellt ist. Auf dem Dach des Hauptgebäudes war somit Platz für photovoltaische Anlagen und ein großzügiges Freiluftcafé samt Sonnendeck, das über die Terrasse im siebten Stock erreichbar ist. Von hier aus fällt der Blick auf den schneebedeckten Mont Blanc und den Genfer See. Auf diese Weise setzt die fünfte Fassade das Spiel von Entgrenzung und Inszenierung der Übergänge zwischen Innen und Außen fort. ⇥

⇥Jan Ahrenberg/DBZ

Sauerbruch Hutton
Julia Knaak
www.sauerbruchhutton.de
Foto: Urban Zintel

Sauerbruch Hutton
Julia Knaak
www.sauerbruchhutton.de
Foto: Urban Zintel

Die Fassade kombiniert auf interessante Weise eine offene Fassadenstruktur aus Holz mit einer vielfältigen Fassadenbegrünung in Edelstahlelementen. Dadurch erscheint die Fassade von innen heraus betrachtet atmosphärisch höchst differenziert. Sie verkörpert nicht nur die Werte der Organisation, sondern auch die Vision einer zukunftsweisenden Architektur, die Mensch und Umwelt gleichermaßen berücksichtigt.«
⇥DBZ-Heftpartner Sauerbruch Hutton, Berlin

Projektdaten

Objekt: Neubau des Operationellen Zentrums für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen

Standort: Genf/CH

Typologie: Verwaltung

Bauherr/Bauherrin: Médecins sans Frontières

Nutzer/Nutzerin: Médecins sans Frontières

Architektur: Sauerbruch Hutton GvA mbH ­

(www.sauerbruchhutton.de) mit Fabio Fossati Architectes SA (www.fossati-architectes.ch)

Team: Matthias Sauerbruch, Julia Knaak, Marc Broquetas, Andrea Frensch, Fotios Gkrilias, Philipp Hesse, Natalie Hipp, Guillaume Larouche, Florent Le Corre, Charlotte Moulise, Moojin Park, Anna Luise Pfau, Maria Silvestre Martinez, Qihang Yang, Alix Zingraff /// Fabio Fossati, Francois Cottier, Yohan Luciano, Caroline Aubert, Alexandre Soeiro

Bauleitung: Fabio Fossati Architectes

Generalunternehmung:

Bauzeit: 03.2020 – 08.2022

Zertifizierungen: Planung nach Minergie Standard, keine Zertifizierung gewünscht

Grundstücksgröße: 5 679 m²

Nutzfläche: 10 535 m² (nach SIA 416)

Technikfläche: 1 568m² (nach SIA 416)

Verkehrsfläche: 2 630m² (nach SIA 416)

Brutto-Grundfläche: 15 208 m² (nach SIA 416)

Brutto-Rauminhalt: 57 040m³ (nach SIA 416)

Gesamt brutto: 57 Mio CHF   

Fachplanung

Tragwerksplanung: Werner Sobek Frankfurt GmbH & Co KG (Konzept), www.wernersobek.com, Sbing SA, www.sbing.ch

TGA-Planung: K. Wintsch & Cie SA, Tapernoux SA, www.kwintsch.ch, Rhône-Electra Engineering, www.rhone-electra.com

Fassadentechnik: BCS SA, www.bcs-facades.ch

Lichtplanung: Rhône-Electra Engineering

Innenarchitektur: Sauerbruch Hutton GvA mbH

Akustik: Archac, www.archac.ch 

Landschaftsarchitektur: Agence TER,

www.agenceter.de

Energieplanung: K. Wintsch & Cie SA

Brandschutz: Archisecu

Weitere Fachplaner/Fachplanerinnen:

Ingenieur Lignum: Bois Initial, wwwbois-initial.ch

Küchenplanung: SchemaTec, www.schematec.ch

Energie

Primärenergiebedarf: Bewerteter Wärmebedarf nach 380/1 (gem. Formular EN-1C des Dossiers für die Energieeffizienz 30 Tage vor Baubeginn) 36,96 kWh/m2a (Heizung, WW und Lüftung)

Endenergiebedarf: Unbewerteter Wärmebedarf: 31,94 kWh/m2a (Heizung, Warmwasser und Lüftung)

Jahresheizwärmebedarf: Wärmebedarf nach 380/1 (gem. Formular EN-1C des Dossiers für die Energieeffizienz 30 Tage vor Baubeginn) 17,83 kWh/m2a (nur Heizung)

U-Werte Gebäudehülle:

Außenwand = zwischen 0,12 und 0,18 W/(m²K)

Fassadenpaneel = zwischen 0,12 und 0,18 W/(m²K)

Bodenplatte = zwischen 0,22 und 0,24 W/(m²K)

Dach =  0,08 W/(m²K)

Fenster (Uw) = zwischen 0,9 und 1,00 W/(m²K)

Verglasung (Ug) = 0,6 W/(m²K)

Ug-total (mit Sonnenschutz) = 0,081 W/(m²K)

Luftwechselrate gemäß SIA 380/1: 0,7 m3/(h.m2) im Durchschnitt für die Bürobereiche. Variabel für die anderen Räume.

Haustechnik: Das Projekt wird an das städtische Fernkältenetz GeniLac angeschlossen. Diese Infrastruktur wird mit Wasser aus dem Genfer See und 100 % erneuerbarer Elektrizität betrieben: Anbindung an das thermoökologische Genilac für die Kälteerzeugung, Wärmepumpe über Genilac zur Wärmegewinnung. Effiziente thermische Isolierung. Thermische Speichermasse. Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung. Verteilung und Abgabe von Niedertemperaturwärme (32 °C in Büros), Kälteverteilung bei hohen Temperaturen (17 °C in den Büros).

Hersteller

Beleuchtung: Zumtobel, www.zumtobel.com

Bodenbeläge: Geschliffener Estrich,

www.balzan-immer.ch, Bauwerk Parkett,

www.bauwerk-parkett.com, Heuga, ForboLinoleum, www.forbo.com    

Dach: Hevron, www.hevron.ch

Fassade/Außenwand: Hevron, Wicona,

www.wicona.com,

Fenster: Wicona, Glaströsch, www.glastroesch.com   

Heizung:  Heiz-Kühlsegel, Caesar Technik,

www.caesartechnik.ch

Innenwände/Trockenbau: Pan All, www. pan-all.be, Rosconi, www.rosconi-systems.ch

Lüftung: Kampmann, www.kampmann.fr, Trox,

www.troxhesco.ch

Möbel: Einbaumöbel Tischler Eskiss, www.eskiss.ch, und Wider, www.wider-sa.ch, lose Möblierung Vitra, www.vitra.com

RLT-Anlage: Seven Air, www.seven-air.ch       

RWA-Anlage: ISBA, www.isba.ch

Sanitär: Alterna, www.alterna.swiss, Geberit,

www.geberit.ch, Hewi, www.hewi.com

Software /CAD/ Zutrittssysteme: Siemens, 

www.siemens.com

Sonnenschutz Warema, www.warema.com, Copaco, www.copaco.be

Türen/Tore: Hevron, Pittet, www.pittetfreres.ch, Wider

Deckensegel: EchoJazz, www.echojazz.com

Polsterstoffe und Akustikelemente: Kvadrat,

www.kvadrat.dk

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