Mehr Raum heißt nicht mehr Qualität
Offene Lernbereiche, Rückzugsorte und Klassenzimmer wechseln sich in modernen Schulen ab. Doch in der Realität hinken viele Schulbauten der Entwicklung hinterher. An Schulen werden hohe Ansprüche gestellt – auch baulicher Art. 2026 kommt der bundesweite Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung hinzu. Darüber sprachen wir mit Dipl.-Ing. Vera-Lisa Schneider, Referatsleiterin für Bau- und Liegenschaftsangelegenheiten im NRW-Schulministerium, und Ute Ködderitzsch, Gymnasiallehrerin, Schulentwicklungsberaterin und Beraterin für Pädagogische Architektur (BePA).
Frau Schneider, die erste Frage an Sie als studierte Architektin: Ist eine qualitativ hochwertige Ganztagsbildung ohne Neu- oder Anbau möglich und auch sinnvoll?
Schneider (S): Auf jeden Fall! Wir finden es wichtig, dass der Ganztag nicht additiv, sondern integrativ gestaltet wird. In den Anfangsjahren des Ganztags wurde auch mal ganz hinten auf den Schulhof ein „Häuschen“ gebaut und da war dann die Ganztagsbetreuung drin. In der Zwischenzeit haben wir gelernt, dass es viel besser ist, wenn man Flächen mehrfach nutzt und die Schulfläche gemeinsam durch intelligente Raumnutzungskonzepte aufteilt, so dass dort der Ganztag integriert mit dem Unterricht stattfinden kann. Baumaßnahmen können also minimalinvasiv sein. In diese Richtung gehen auch die von der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft vorgestellten fünf Pilotprojekte (Link unten), die genau vor diesem Hintergrund beleuchtet wurden.
Ködderitzsch (K): Wir müssen die Akteure unterscheiden. Beim Ganztag an Grundschulen beispielweise ist der Träger oft ein anderer als die Schule selbst. Auch da sind wir immer darauf bedacht, den Ganztag nicht zwingend additiv zu denken. Mehr Raum heißt nicht automatisch eine Qualitätssteigerung. Unterschiedliche Träger können die gleichen Flächen zu unterschiedlichen Zeiten gut miteinander nutzen.
Das heißt, es müssen flexible Raumprogramme sein…
K: Es muss immer die individuelle Schulsituation mitbedacht werden. Wenn ich an einer Sekundarschule bin, wird die Ganztagsbetreuung oft vom selben Träger angeboten. Da habe ich einen anderen Abstimmungsprozess als bei einer Schulform, bei der ich zwei verschiedene Träger ansprechen muss. Grundsätzlich stellt sich die Frage, welche Funktionen müssen welche Räume erfüllen. Diese müssen dann intelligent angeordnet werden. Es sollte also ein Raum, wo laut gespielt wird, nicht neben dem Snoezelen-Raum, also dem Entspannungsraum, liegen. Trotzdem kann eine Fläche, die im Vormittagsbereich für Unterrichtszwecke genutzt wird, im Nachmittagsbereich für Betreuungszecke eingesetzt werden. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen miteinander ins Gespräch kommen und ihre Bedarfe äußern und die erforderliche Flexibilität ausloten.
In NRW gibt es seit 2022 die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern zu BeraterInnen Pädagogische Architektur (BePA). Was war der Anlass, diese einzuführen?
S: Heutzutage ist es selbstverständlich, die Schulen einzubinden, wenn es um Baumaßnahmen geht. Früher war das anders. Da wurde nach Musterraumprogramm gebaut, es wurde umgesetzt, was im Gesetz stand. Heute ist es wichtig, dass die Schulen ihre Bedarfe mitteilen und sagen, was gemacht werden soll. Wir haben jedoch festgestellt, dass die Schulen damit oft überfordert sind. Die Kommunen haben von sich aus auch nicht immer ein Interesse daran gehabt, die Schulen frühzeitig einzubinden, weil es einfach keine geübte Praxis ist und traditionell anders gehandhabt wurde. Deshalb haben wir gesagt, wir müssen hier mehr Information „ins Spiel“ bringen und alle mitnehmen. Die Montag Stiftung hat das schon einmal vorgemacht, indem sie „Schulbauberater“ ausbildete. Wir finden es aber wichtig, dass wir das aus dem System heraus anbieten, mit aktiven Lehrerinnen und Lehrern, als „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die BePA begleiten nicht den ganzen Bauprozess, sondern geben Impulse und tragen dazu bei, dass die Schule oder die Kommune das allein schafft. Das haben wir in NRW neu entwickelt und das wird sehr gut angenommen. Derzeit sind wir das einzige Bundesland, das eine Beratung in dieser Form anbietet.
Wieviel Lehrerinnen und Lehrer nahmen seit 2022 an der Fortbildung zur BePA teil?
S: 2022 hatten wir 15 Plätze, 2025 kommen noch mal 15 Lehrerinnen und Lehrer hinzu.
Frau Ködderitzsch, was machen Sie als Beraterin für Pädagogische Architektur konkret?
K: Wichtig ist: Wir sind keine Prozessberater, wir sind Fachberater. Grundsätzlich stellen wir unsere Arbeit in drei „Säulen“ zur Verfügung. Wir beraten, informieren und bieten verschiedene Veranstaltungen an. In puncto Beratung - ob beim Ganztag, bei den Startchancen-Schulen NRW oder in einem anderen inhaltlichen Kontext - ist es zentral, dass alle Akteure an einem Tisch zusammenkommen, z. B. Schulaufsicht, Kommune, Schulträger und Schulleitung. Im Rahmen der zweiten Säule ist für uns wichtig, unser Grundverständnis zu transportieren, dass Raum und Pädagogik eine Einheit sind. Wir Pädagogen können gut Ideen entwickeln, wie Lernen aussehen soll, und können hierfür notwendige Bedarfe formulieren, aber die Übersetzung, wie ein dafür geeigneter Raum beschaffen sein muss, da verlassen wir LehrerInnen unsere Expertise. Aus Sicht der LehrerInnen ist es untypisch, die (Raum)Komplexität einer Schule beispielsweise über die Funktionen zu erschließen. Die BePA besetzen die Schnittstelle und fungieren in Prinzip als Übersetzer zwischen den Disziplinen Schule und Architektur. Wichtig ist aber auch, Fachinformationen zu vermitteln, z. B. zur neuen Brandschutzverordnung. Als dritte Säule bieten wir verschiedene Veranstaltungen an. So wirken wir bei Veranstaltungen der Montag Stiftung mit oder organisieren mobile Fachtage. Das sind Lernreisen zu gelungenen Schulbauten, die wir NRW-weit anbieten. Außerdem arbeiten wir beim Dialogcafé mit der Architektenkammer in Düsseldorf zusammen.
S: Bei diesem Format bringen wir ganz gezielt Pädagogen und Architekten zusammen, um über aktuelle Themen im Schulbau zu diskutieren. Die BePA geben Impulse und sagen, welche Möglichkeiten es gibt.
K: Als BePA kommen wir dann ins Spiel, wenn der vorhandene oder der entstehende Raum in Bezug auf seine Funktionalität thematisiert wird.
S: Den Bauprozess zu begleiten, ist dann das Aufgabenfeld der Architekturbüros. Eine konkrete Bau-Beratung können die BePA nicht leisten, sie sind schließlich keine Architekten.
Beschränkt sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit Lehrer/Architekturbüro auf die Phase 0 oder kommen die BeraterInnen auch im späteren Verlauf der Planung noch vor?
S: Wir werden in ganz unterschiedlichen Phasen angesprochen. Die Anfragen werden beim Lehrerfortbildungsinstitut QUA-LiS NRW gesammelt und weitergegeben.
K: Immer dann, wenn Raum in seiner Funktionalität in Frage gestellt wird oder neu initiiert werden soll, können wir ins Spiel kommen. Das kann von der Phase 0 eines großen Schulbauprojekts bis hin zur Neunutzung einzelner Räume sein. Das ist das Spannende daran!
Was muss noch besser laufen?
K: Was schon wirklich gut läuft, ist das Bewusstsein dafür, dass Schul(um)bau ein partizipativer Prozess sein sollte. Die Erkenntnis, dass Schule so mit Pädagogik und Raum nicht (be)stehen bleiben kann, weil es auf die Anforderungen der Zukunft nicht umfassend gut vorbereitet, setzt sich ebenso durch. Der Wunsch und das Bewusstsein, dass Raum sich verändern muss und genau hier angesetzt werden kann, wird aus meiner Sicht umfangreicher geäußert. Was noch besser laufen könnte, ist manchmal der Prozess, wenn alle an einem Tisch sitzen. Hier braucht es klare Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und festgelegte Kommunikationsstrukturen – einen gemeinschaftlichen, kooperativen Prozess, der transparent gestaltet ist. Des Weiteren würde ich mir wünschen, dass die Bedeutung von Raum und Pädagogik in der Aus- und Fortbildung von LehrerInnen eine Rolle spielen würde.
Bei welcher Schule ist dieser Prozess besonders gut gelungen?
S: Gut gelungen ist das zum Beispiel bei der „BAN“, der Bildungslandschaft Altstadt Nord in Köln, einem Zusammenschluss von acht Bildungs- und Freizeiteinrichtungen städtischer und freier Trägerschaft. Hier wurden die Raumnutzungen erfolgreich übereinandergelegt. Statt beispielsweise acht Mensen und acht Bibliotheken gibt es nur jeweils eine gemeinsame, das schafft Raum für andere Nutzungen und fördert das Miteinander. Das Projekt wurde von der Montag Stiftung initiiert und begleitet.
Würden Sie sich das Programm BePA für ganz Deutschland wünschen?
S: Wir finden das Programm gewinnbringend, so wird es uns auch gespiegelt. In den 16 Bundesländern sind die Voraussetzungen jedoch sehr unterschiedlich. Einer bundesweiten Regelung steht das föderale System entgegen.
K: Was das BePA-Programm so attraktiv macht, ist, dass es ein niederschwelliges Angebot auf Augenhöhe ist. Die meisten Anfragen, etwa zwei Drittel, kommen von Lehrerinnen und Lehrern. Und: Wir kosten die Kommunen nichts und sind keiner Lösung und keinem Produkt verpflichtet. Wir können anregen, wir können Beispiele zeigen, wir können informieren. So wird es passend für die individuelle Schule. Denn so individuell eine Pädagogikausrichtung an einer Schule ist, so individuell müssen auch die Räume sein.
Der Raum, in dem Wissen vermittelt wird, wird oft als ‚Dritter Pädagoge‘ bezeichnet. Brauchen neue Lehrmethoden also neue Räume? Wenn ja, welche?
S: Heute gehen wir bei den Räumen nicht mehr so nach den Zweckbestimmungen, die draufstehen. Bis in die 90er-Jahre gab es Musterraumprogramme für Schulen. Heute gehen wir aktivitätsbezogen vor. Wir gucken mehr, was soll in dem Raum stattfinden, um die Räume danach zu sortieren: Soll dort einer großen Gruppe etwas beigebracht werden oder trifft sich dort ein kleines Team von 2-3 Schülerinnen und Schülern, die etwas erarbeiten sollen? Soll es ein Raum sein, in dem es still ist, damit dort einzelne Schüler für sich lernen können? Durch den Ganztag finden auch viel mehr Freizeitangebote in Schulräumen statt. Die Kinder benötigen Räume zum Essen, zum Entspannen, zum Zurückziehen.
K: Ich wage mal zu behaupten: Neue Lehrmethoden gibt es in dem Sinne nicht. Es ist vielmehr eine andere Haltung bei der Wissensvermittlung, die ich als Lehrerin einnehme. Es geht zusammen mit der Wissensvermittlung um individuelle Persönlichkeitsentwicklung. Dafür benötige ich nicht immer ganz neue Räume, vielleicht brauche ich auch nur andere Möbel oder eine neue Aufteilung innerhalb des Schulgebäudes.
Auch offene Lernlandschaften im Flur, die mehr Raum einnehmen, verändern die Schule schon sehr…
K: Ja, die neue Schulbaurichtline gibt uns mehr Möglichkeiten, um Flurflächen anders nutzen zu können. Vielleicht kann ein Klassenraum wegfallen, um den Flur zu vergrößern. Ich kann dort andere Möbel nutzen, die sowohl akustische Aspekte beinhalten als auch das Thema Farbe berücksichtigen. Neben der Farbgestaltung dieser Areale spielt auch die Beleuchtung eine Rolle. Was soll in diesem offenen Lernbereich stattfinden? Das muss sich die Schule vorher überlegen.
S: Die Akustik im Flur ist ein wichtiger Punkt. Wenn dort Arbeitsbereiche eingerichtet werden, ist der Flur nicht mehr nur Verkehrsfläche, sondern er hat auch eine andere Zweckbestimmung. Dann muss der Flur auch entsprechend akustisch behandelt werden, sonst wird er nicht genutzt. Akustik merkt man vor allem dann, wenn sie eben nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wurde und zu Stress führt.
K: Es muss also nicht immer der große Umbau sein, auch kleinere Maßnahmen bringen schon eine Menge Veränderung. Wir sind alle noch in den Schulen des Industriezeitalters ausgebildet geworden. Der Veränderungsprozess beginnt jetzt erst. Da immer gleich an die ganz große Umbaumaßnahme zu denken, ist eventuell auch kontraproduktiv. Zu Beginn könnte ein kleinerer Umbau, der erst einmal einen Veränderungsprozess initiiert, eventuell sehr viel sinnvoller sein.
Wie sieht Ihre ideale Schule hinsichtlich der Architektur aus?
S: Darauf gibt es nicht die eine Antwort. Gute Schulen sind architektonisch gelungen und man kann gut in ihnen arbeiten. Beim von uns verliehenen Schulbaupreis NRW 2023 hat mir u. a. das Carl-Reuther-Berufskolleg in Hennef (pbs architekten) gut gefallen, eine Sanierung eines 70er-Jahre Baus. Den hat der Rhein-Sieg-Kreis größtenteils entkernt und ein neues Raumprogramm geschaffen. Oder das Berufskolleg Tecklenburger Land (farwickgrote partner), ebenfalls eine Sanierung, das durch behutsame Eingriffe neue Räume gewonnen hat. Grundsätzlich finde ich Umbauten meist kreativer als Neubauten auf der grünen Wiese. Da ergeben sich manchmal völlig neue Raumzusammenhänge, auf die man gar nicht käme, wenn man neu bauen würde.
K: Dem schließe ich mich an. Den Prototypen einer idealen Schule gibt es nicht. Schulbau ist auch nie fertig. Es ist immer ein Kompromiss und ein partizipativer Prozess, um den Bildungsort zu schaffen, indem individuelle Entwicklung mit anderen zusammen ermöglicht wird.
S: Für einen Neubau ist vielleicht die Offene Schule Köln (Hausmann Architektur) ein interessantes Beispiel, das kostengünstig und flächensparsam sein musste. In Bezug auf die Grundrisse wurde dort die radikalste Herangehensweise gewählt. Doch auch der BOB-Campus in Wuppertal (raumwerk.architekten) ist gelungen, das ist eine Umnutzung einer ehemaligen Fabrik. Grundsätzlich gibt es ein großes Spektrum, das zeigt, was alles möglich ist.
Mit Vera-Lisa Schneider und Ute Ködderitzsch sprach DBZ-Redakteurin Heide Teschner am 12.02.2025 via Teams.