Ökologisch argumentieren
DBZ Heftpartnerinnen Annette
Hillebrandt, Christina Sonnborn,
Bergische Universität Wuppertal
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Prozesse des Bauwesens sind aktuell für einen Anteil von mehr als 50 % der weltweiten, klimaschädlichen, anthropogenen Emissionen und 50–60 % des globalen Materialverbrauchs verantwortlich (vgl. W. Sobek, non nobis – Bauen in der Zukunft. Bd 1. AV Edition, Stuttgart 2022). Rund 55 % aller Abfälle in Deutschland sind dem Bausektor zuzuordnen (Statistisches Bundesamt: Abfallbilanz 2017, S. 33, www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Umwelt/Abfallwirtschaft/Publikationen/Downloads-Abfallwirtschaft/abfallbilanz-pdf-5321001, Stand 17.8.2022) Im Jahr 2019 betrug das Gesamtabfallaufkommen 417 Mio. t, wovon rund 231 Mio. t auf Bau- und Abbruchabfälle entfielen. Der kontinuierlich hohe Anstieg unseres Wohnflächenverbrauchs verstärkt diese Entwicklung erheblich.
Neben kulturellen, sozialen, raumprägenden, gesundheitlichen und politischen Wirkungen durch Architektur spiegeln die zuvor aufgeführten Zahlen die hohe Wirksamkeit auf die Umwelt und das Klima wider. Die uns als Architekt:innen zugeschriebene Verantwortung muss bewusst wahrgenommen und berücksichtigt werden.
Wenn wir – wie bereits im Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987 gefordert: „protect and improve the environment for both present and future generations“ (V. Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft: Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Eggenkamp Verlag, Greven 1987) – eine Gerechtigkeit anstreben, die sowohl auf ein Gleichgewicht innerhalb einer weltweiten Gesellschaft abzielt, sowie eine Gerechtigkeit zwischen jetzigen und zukünftigen Generationen, dann erst agieren wir im Sinne einer wirklichen Nachhaltigkeit.
Unter dem Leitbild der Nachhaltigkeit kann die Suche nach den passenden Baumaterialien am besten mit der Suffizienzstrategie gelöst werden. Erfüllt ein Gebäude, ein Bauteil oder ein Material nach wie vor den vorgesehenen Zweck, so sollten wir es unbedingt erhalten – Bauen im Bestand VOR Neubau!
Ist ein Abriss unvermeidlich, so sollte selektiv zurückgebaut werden, um eine Wiederverwendung der Komponenten
und Bauteile zu erwirken. Bauteilbörsen wie Concular oder RotorDC bieten eine Chance für ein Re-Use in der Baubranche. Hier werden beispielsweise Techniken für die Wiederaufbereitung von Fliesen auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erprobt und entwickelt, z. B. das Abtragen von Mörtelrückständen oder der zerstörungsfreie Rückbau verklebter Fliesen.
Ist ein Re-Use nicht möglich, sollte die Wiederverwertung eines Materials in Form des qualitäts- und masseerhaltenden Recyclings angestrebt werden. Es muss uns gelingen, Baumaterialien im Kreislauf zu führen, um der Rohstoffknappheit entgegenzuwirken und Abfallaufkommen zu vermeiden. Grundlage dafür bilden rückbaufähige Konstruktionen, die ein sortenreines Trennen nach der Nutzung ermöglichen – unabhängig davon, ob Materialien im technischen oder biotischem Kreislauf geführt werden.
Die Kaskadennutzung bildet für biotische Materialien ein wichtiges Prinzip. Jedes neu eingebrachte Material sollte in der höchstwertigen Kaskade eingesetzt werden, sodass ein mehrstufiges Wiederverwerten möglich bleibt. Holz beispielsweise im ersten Nutzungszyklus zu verbrennen, konterkariert eine mögliche klimaschützende Wirkung. Auch der nicht sortenreine Verbund von Materialien (beispielsweise OSB-Platten), der ein hochwertiges Nachnutzen oder Kompostieren am Lebensende verhindert, ist zu vermeiden.
Zusätzlich müssen konkurrierende Funktionen der zur Bereitstellung des Materials relevanten Systeme bedacht werden. Die Holzbereitstellung ist nicht die alleinige Funktion des Ökosystems Wald! Dieses reguliert zudem das Klima, die Wasser-, Boden- und Luftaufbereitung, bietet einen biodiversen Lebensraum und ist Nah- und Erholungsgebiet für uns Menschen. Auch nachwachsende Rohstoffe sind in einem bestimmten Zeitraum nur begrenzt verfügbar. Studien legen nahe, dass wir bereits heute mehr Holz aus dem Wald entnehmen, als er innerhalb der planetaren Grenzen liefern kann. In diesem Sinne ist der Einsatz von (Massiv-)Holzkonstruktionen als sogenannte „CO2-Senke“ in Frage zu stellen.
Neben ästhetischen, funktionalen und ökonomischen Ansprüchen muss die Wahl des Baumaterials besonders aus einer ökologischen Argumentation heraus getroffen werden – diese Begründung der Materialwahl beinhaltet Aspekte wie Regionalität, Verfügbarkeit, Emissionen im gesamten Lebenszyklus, Nachnutzungspotenziale und Materialbestandteile. Die Argumentation ist komplex. Im Bautechnikteil dieses Hefts (S. 56ff.) wird hierfür tiefergehend sensibilisiert und die Bedeutung des Materials in unser Bauschaffen eingeordnet.
Heftpartnerinnen
Univ.-Prof. Annette Hillebrandt begann ihre selbstständge Tätigkeit als Architektin 1995. Erste Preise für ihre Bauten. Professur für Baukonstruktion / Entwerfen und Bauen im Bestand an der FH Kaiserslautern 2001. Die von 2003-2013 folgende Professur für Baukonstruktion an der Münster School of Architecture brachte 2010 die Gründung der Materialbibliothek (www.material-bibliothek.de) hervor. Ab 2013 Prof. an der Bergischen Universität Wuppertal am Lehrstuhl Baukonstruktion / Entwurf / Materialkunde, Forschungsschwerpunkt Kreislaufpotenziale im Hochbau. Autorin, u.a. der „Atlas Recycling“. Mitglied u.a. des BDA, der DGNB, KNBau am UBA, unterstützt die A4F-Bewegung. Für ihr Engagement erhielt sie den Urban-Mining-Award und den Hans-Sauer-Award. www.annette-hillebrandt.de
Dipl.-Ing. Christina Sonnborn studierte Architektur an der Bergischen Universität Wuppertal und schloss ihren Master of Science im Frühjahr 2020 mit dem vertiefenden Thema Myzelium als Baumaterial ab. Seitdem ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Annette Hillebrandt tätig und begleitet neben der Lehre die an der Bergischen Universität Wuppertal fortentwickelte Materialbibliothek. Zudem arbeitet sie seit 2016 im Architektur-Contor Müller Schlüter in Wuppertal.
Zusammen forschen Annette Hillebrandt und Christina Sonnborn an zukunftsfähigen Baukonzepten wie zum Beispiel zum Umgang mit Bestandsbauten und Urban-Mining Strategien (www.urban-mining-design.de)