Sedelhöfe, Ulm
Manchmal ist es auch nicht schlecht, wenn Projekte scheitern. Bei den Sedelhöfen in Ulm wollten Investoren ursprünglich ein Einkaufszentrum: Eingang = Ausgang. Als sie absprangen, dachte man die Sache neu und realisierte ein Ensemble, das städtebaulich agiert und alles andere, aber nicht monofunktional ist.
Text: Michael Schuster / DBZ
Zu den Zeiten, als Albert Einstein, dessen Geburtshaus in der Bahnhofstraße, im Bereich der Sedelhöfe stand, das Licht der Welt erblickte, war der Handel mit dem Marktplatz in der Stadtstruktur fest geografisch verankert. Er bildete mit Rathaus und Kirche das Zentrum, einen Ort, wo das Leben stattfand.
Heutzutage, wo die Mobilität, vorzugsweise aber nicht der Individualverkehr, eine unübersehbar erhebliche Rolle im städtischen Raum spielt, hat der Ort gegenüber dem Hauptbahnhof Ulm in Ulm eine wichtige Rolle. Er ist für die Stadt an der Donau als jüngster Teil einer Quartierserneuerung, zugleich auch eine repräsentative Adresse. Viele Jahre war dieser Ort einer, an dem man nicht das Bedürfnis hatte, sich länger aufhalten zu wollen.
Albert-Einstein-Platz, Blick nach Norden. Der Durchgang nach links führt zum Hauptbahnhof, nach rechts geht es ins historische Zentrum
Foto: HGEsch Photography
Entstehungsgeschichte des Projekts
Wäre man der ursprünglichen Planung eines niederländischen Investors gefolgt, dann gäbe es heute an dieser Stelle eine 08/15-Shoppingmall mit einem Eingang, der auch gleichzeitig Ausgang gewesen wäre. Wahrscheinlich wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis diese Mall in Ulm das gleiche Schicksal erlitten hätte, wie es bereits 2020 in den USA für 25 % der US-amerikanischen Shoppingmalls prognostiziert wurde: Sie würden sehr schnell wieder schließen.
Albert-Einstein-Platz, Blick nach Süden. Der südliche Platzausgang weitet sich entlang der Gebäudekante (Haus IV) in die Bahnhof- und spätere Hirschstraße, die als eine der Haupteinkaufsstraßen östlich in Richtung Ulmer Münster führt
Foto: HGEsch Photography
Die Stadt Ulm besann sich, erkannte den Wert des Orts, initiierte das Projekt neu und entschied sich an dieser Stelle für ein offenes Stadtquartier. Diese Entscheidung und das Mitwirken der Hamburger Projektentwickler DC Commercial (DCC) und DC Values (DCV) in Kombination mit den Planungen des Architekturbüros caspar. haben zu einer deutlichen Aufwertung des Quartiers östlich des Bahnhofs und zu einem großen Beitrag in Richtung Stadtreparatur geführt.
Das Architekturbüro caspar. beschäftigt sich seit einiger Zeit, nicht erst mit der Publikation „retail in transition“, intensiv mit den Bedürfnissen der Kund:innen, um einer Entvölkerung der Einkaufsstraßen entgegenzuwirken. Für Konsument:innen, insbesondere Personen der Generation Z, die im Zeitraum 1997 bis 2012 geboren wurden, zählt immer stärker das „Erlebnis Einkauf“ anstelle des reinen Konsums.
Am Platzdurchgang in Richtung Hauptbahnhof liegt auch die Treppenanlage ins Untergeschoss zur Tiefgarage und dem Lebensmittelmarkt
Foto: HGEsch Photography
Städtebauliche Einbindung
Bei dem Entwurf von caspar. kommt dem Städtebau und der Integration des geplanten Ensembles in die Stadt eine wichtige Rolle zu. Rund um den 2 000 m² großen Albert-Einstein-Platz ist ein Komplex aus vier Gebäuden mit einer ausgewogenen Mischnutzung von Einzelhandel und Gastronomie, Büros und Praxen, Wohnen und Hotel auf 10 400 m² Grundstücksfläche entstanden. Insgesamt wurden 80 000 m² Bruttogeschoßfläche, davon 40 000 m² unterirdisch und 40 000 m² oberirdisch realisiert. Es entstanden über 19 500 m² Einzelhandels- und Gastronomieflächen für verschiedenste Dienstleis-tungen und Services, von der regionalen Apotheke bis hin zum internationalen Finalisten.
Allein von der nördlich anliegenden Keltergasse aus zu sehen: Die Wohnbebauung auf Haus III. Die Grünranken markieren die Übergänge der Nutzungen
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Bei der Planung gab es, nicht nur mit dem eigentlichen Grundstück, das in seiner Form und seinen Ausmaßen eine Herausforderung darstellte, weitere Parameter, die es zu erfüllen galt. Zum einen musste eine Anbindung zum Ulmer Hauptbahnhof erfolgen, die Tiefgarage wurde gegenüber der ursprünglichen Planung vergrößert, um unweit des Bahnhofs nicht nur für Reisende weitere Parkmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Einkaufen auch im Untergeschoss, hier der Platz unter dem Platz mit Blick auf den Zugang zum Lebensmittelmarkt links
Foto: HGEsch Photography
Nutzungsflexibilität der Flächen
Die flexiblen Grundrisse sowie die großen Raumhöhen ermöglichen unterschiedlichste Nutzungen. Auf ursprünglich für den Handel vorgesehen Flächen im zweiten Obergeschoss von Haus II entstand auf über 2 500 m² ein Fitnessclub.
Die Sedelhöfe wurden zu einer Zeit eröffnet, die für den stationären Handel nicht herausfordernder hätte sein können. Mitten in einer Pandemie und mit dem Onlinehandel als Gegenspieler, dessen Anteil am gesamten Einzelhandel in den letzten Jahren stark zugelegt hat, ist es umso bemerkenswerter, dass man inzwischen eine Vollvermietung erreicht hat. Dass der klassische Einzelhandel auch heutzutage noch eine Berechtigung hat, zeigt allein schon die Tatsache, dass ausgerechnet der Betreiber der führenden Online-Plattform für Mode in den Sedelhöfen ein Outlet betreibt.
Auf der Kubatur von Handel, Praxen und Fitness ab 3. OG aufgesattelt (Haus III) die 112 Mietwohnungen der Sedelhöfe, dreigeschossig um einen begrünten,
ruhigen Platz mitten in der Stadt
Foto: HGEsch Photography
Offensichtlich spielt die Attraktivität des Ortes eine wichtige Rolle. Die großzügigen Fensterfronten der Einzelhandelsflächen prägen die unteren Geschosse. Dass man sich für eine unterschiedliche Fassadengestaltung der einzelnen Gebäude entschieden hat und nicht für eine homogenisierende Umsetzung, macht das Ensemble optisch abwechslungsreicher und verleiht ihm die nötige Dynamik.
Die Architekten haben bei den Sedelhöfen, abgehend vom Stadtplatz, geschickt Sichtachsen geschaffen, die auch bis hin zum gotischen Ulmer Münster reichen. Dadurch sind fließende Übergänge in die Fußgängerzone entstanden, die das Quartier mit dem vorhandenen Umfeld verschmelzen. Die Wegeführung vom Ulmer Hauptbahnhof über die Sedelhöfe in Richtung Münster und in die entgegengesetzte Richtung tragen zu einer starken Frequentierung als auch zur Akzeptanz der Sedelhöfe bei.
Lageplan, M 1 : 10 000
Haus I-IV
Wohnungsbau
Es gibt einen wesentlichen Punkt, der aus den Sedelhöfen ein Quartier macht, ein Punkt, der auf den ersten Blick gar nicht auffällt. Auf Gebäude III befinden sich insgesamt 112 Mietwohnungen, angeordnet um einen 1 000 m² großen Innenhof mit Grünanlage und einem Spielplatz im Atrium. Es wird in Ulm wahrscheinlich keine Wohnungen geben, die innerstädtischer sind, eine bessere Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr haben und dennoch so viel Ruhe bieten.
Grundriss EG, M 1 : 1 500
1 Handel / Gastronomie
2 Anlieferung
3 Abfälle
4 Rampe Tiefgarage
5 Zugang Wohnen
6 Wohnen
7 Büro / Praxen
Fazit
Insgesamt gibt es viele Dinge, die gut umgesetzt wurden und einen Beitrag für ein städtisches Quartier leisten. Dazu würde ich mir noch wünschen, es gäbe noch mehr Möglichkeiten zum Verweilen. Ein weiterer Wunsch ist die teilweise Entsiegelung und Begrünung des Albert-Einstein-Platzes.
caspar., Köln/Hamburg
Caspar Schmitz-Morkramer
www.caspar.archi
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Projektdaten
Objekt: Neubau Mixed-use Quartier Sedelhöfe, Ulm
Standort: Albert-Einstein-Platz, Ulm
Typologie: Handel, Büro, Wohnen, Tiefgarage
Verfahren: Investorenwettbewerb
Bauherrin: DC Developments und DC Values, Hamburg
Architektur: caspar., Köln / Hamburg
Entwurfsverfasser: Caspar Schmitz-Morkramer
Team: Christoph Wolf (PL), Christoph Lesch (PL), Engin Esen, Fernando Gonzalez-Cardero, Viktoria Grebe, Gregor Gutscher, Timo Heinzmann, Kai Hesse, Klaus Kirchner, Israel Moreno Torres, Simon Kortemeier, Jan Jermer-Urban, Julia Pagels, Janek Reiner, Marco Röttgen, Alexander Willems
Bauzeit: 2016–2020
Leistungsphasen: 1–4, 5 (Leitdetails); 5–8 (Bauherrenberatung)
Grundstücksgröße: 9 823 m²
Brutto-Grundfläche: 78 500 m² (gesamt)
Handel: 26 500 m²
Büro: 9 800 m²
Wohnen: 8 600 m²
Parken: 29 000 m²
Technik DG: 2 200 m²
Nutzfläche gesamt: 36 000 m²
Brutto-Rauminhalt: 340 000 m³
Wohneinheiten: 112 (Dachlandschaft)
Stellplätze: 700 (3 Tiefgaragenebenen)
Fahrradstellplätze: 315
Fachplanung
Tragwerksplanung: Schüssler Plan, Frankfurt a. M. (bis LPH 4); Brendebach Ingenieure, Wissen (ab LPH 5)
TGA-Planung HLS: Deerns Stuttgart (bis LPH 4); Aschauer+Burkhardt, Stadtilm (ab LPH 5)
TGA-Planung Elektro: Deerns, Stuttgart (bis LPH 4); CEP, Stuttgart (ab LPH 5)
Fassadenplanung: DS-Plan, Köln (bis LPH 4); Scharl, Ehingen (ab LPH 5), Wolfsberger, Hamburg (Beratung Bauherr)
Bauphysik: Graner+Partner Bergisch Gladbach
Brandschutz: umt, Ulm
Ausführungsplanung: npp Noack Planung und Projektentwicklung, Dresden
Projektsteuerung: Witte Projektmanagement, Frankfurt a. M. (bis LPH 4); nps Bauprojektmanagment, Ulm (ab LPH 5)
Vermesser: Ingenieurbüro Will, Ulm
Verkehrsplanung: Dr. Brenner, Aalen
Lichtplanung: Hailight, Innsbruck/AT
Baulogistik: cpc-baulogistik, Berlin
Vermietung: Storescouts, München /Hamburg; DC Developments, Hamburg
Baugrube (Verbau): Züblin Spezialtiefbau, Stuttgart
Rohbau: Koha, Berlin