Im Gespräch mit Tim von Winning

Tim von Winning, Baubürgermeister der Stadt Ulm, im Gespräch mit ­Christian Brensing

Tim von Winning, Baubürgermeister
der Stadt Ulm, im Gespräch mit ­Christian Brensing
Foto: Stadt Ulm / Öffentlichkeitsarbeit

Tim von Winning, Baubürgermeister
der Stadt Ulm, im Gespräch mit ­Christian Brensing
Foto: Stadt Ulm / Öffentlichkeitsarbeit


Welche Parameter und Ziele hat die Ulmer Stadt­ent­wick­lungspolitik?

Der zentrale Punkt für die Entwicklung der Ulmer Innenstadt ist immer noch die Auseinandersetzung mit der starken Zerstörung während des Zweiten Weltkriegs und dem in Teilen architektonisch sehr durchschnittlichen Wiederaufbau. Wir suchen weiterhin Chancen, mit Hilfe einer Stadtreparatur, städtebaulichen Veränderungen oder gar einer urbanen Transformation wieder eine erkennbare Identität in die unterschiedlichsten Bereiche und Bezirke der Ulmer Innenstadt zu bekommen. Hier reihen sich sehr viele alte wie neue Projekte aneinander, um z. B. eine historische Mischung wieder zu etablieren, wozu insbesondere das Wohnen in der Innenstadt gehört.

In den letzten vier bis sechs Jahren lag die zentrale Aufgabe darin, das Dogma, dass eine mittelalterliche Stadt steinerne öffentliche Räume hat und Grün nur in den Innenhöfen sprießt, aufzuweichen, und damit relevante Voraussetzungen für eine Klimawandelanpassung zu ermöglichen. Unser Ziel dabei ist eine stärker entsiegelte und durchgrünte Innenstadt, was aber nicht immer ganz so leicht miteinander zu kombinieren ist. Dennoch, einen verbindlichen gestalterischen Leitfaden für die Innenstadt haben wir bei all dieser Heterogenität des Städtebaus nicht. Wir sind offen für neue Lösungen und gehen konkret auf die spezifischen Projekte ein.

Die Sedelhöfe sind ein Teil der jahrzehntelangen Ulmer
Stadtentwicklungspolitik. Die Stadt Ulm war aktiv an deren Entstehung mitbeteiligt. Wie verlief Ihre Zusammenarbeit mit den Projektentwickler:innen und Architekt:innen?

Der Ort hat eine durchaus bewegte Geschichte. Dort stand bis zu seiner Zerstörung im Bombardement des Zweiten Weltkriegs Albert Einsteins Geburtshaus. An dessen Stelle folgte unmittelbar nach dem Krieg eine, wie ich meine, eher durchschnittliche Randbebauung der Fußgängerzone Bahnhofstraße. Ganz im Stil der Zeit der 1960er-Jahre wurde dort nur eine bedingt geschlossene Bebauung realisiert. Den Ort der heutigen Sedelhöfe gab es damals noch gar nicht, und wenn, dann stand dort nur ein Parkhaus. Kurzum, ein Ort, der mit der Ulmer Altstadt wenig zu tun hatte, ein dienender Bereich, vernachlässigt in seiner Gebäudesubstanz und ein Ort mit sehr wenigen Qualitäten.

Ziel der Stadt Ulm war und ist es weiterhin, das gesamte Bahnhofsumfeld städtebaulich neu zu organisieren. Das ist Teil einer langfristigen Planung, die vor ca. 20 Jahren begonnen hat. Die Sedelhöfe sind ein wesentlicher Teil dieser Operation, das Bahnhofsumfeld wieder stärker in die Stadt hereinzuholen, also gewerblich mindergenutzte Flächen in eine dichte, gemischte Stadtstruktur zu verwandeln. Um diese Aufgabe besser bewerkstelligen zu können, kaufte die Stadt Ulm, in einem ersten Schritt über viele Jahre hinweg, ein Grundstück nach dem anderen auf. Diese Areale bereitete die Stadt dann gezielt für eine Projektentwicklung vor. Im Fall der Sedelhöfe folgte eine Investorenausschreibung, wobei die Stadt, bedingt durch ihren Grundbesitz, einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Quartiers und des Ortes nehmen konnte.

Wie ging das im Detail vonstatten?

Erste Entwürfe für die Sedelhöfe entstanden noch vor meiner Zeit in Ulm, gegen 2013. Damals legte ein holländischer Inves­tor, zusammen mit einem Berliner Architekten, einen Entwurf vor, der noch sehr stark an einem klassischen Einkaufszentrum orientiert war. Es gab auch einen Bebauungsplan für das Grundstück, das allein schon in seiner Form und den Aus­maßen eine architektonische Herausforderung darstellte. Vorgabe für den Entwurf war es, sich an die bestehenden Gassen anzugliedern, was allerdings nur bedingt gelang. Für uns hatte der Entwurf einen gravierenden Malus: Entweder bin ich drinnen oder draußen. Auch wenn die Gassen nicht überdacht waren und es kein eindeutiges Mall-Konzept war, konnte der Entwurf im Hinblick auf die Einbindung in die umgebende Stadtstruktur nicht vollständig überzeugen. Was wir unter anderem kritisierten, war z. B. die fehlende Mischnutzung inkl. Wohnen. Für uns völlig überraschend zog sich der Projektentwickler plötzlich aus dem Vorhaben zurück. So kamen wir mit DC Developments und caspar. in Kontakt.

Welche Entwicklung nahmen die Sedelhöfe dann?

Wir formulierten einige Anforderungen, die das Projekt in eine etwas andere Richtung drehten. Der städtebauliche Schwerpunkt der neuen Bebauung definierte die Sedelhöfe als eine Erweiterung der Fußgängerzone, sodass man direkt aus dem Bahnhof oder vom davor gelagerten Bahnhofsplatz kommend in die Sedelhöfe blicken und gehen kann. Die Betonung lag eindeutig auf der Schaffung eines neuen Stadtbausteins, oder besser, mehrerer Bausteine. Also ein Stadtquartier, das sich ins städtische Umfeld eingliedert. Das von msm/caspar. vorgestellte Konzept von vier eigenständigen Häusern um einen zentralen öffentlichen Platz entsprach unseren Erwartungen sehr. Darin erkannten wir den großen Mehrwert zu einem herkömmlichen Einzelhandelsprojekt, da es einen klassischen Stadtraum abbildet mit unterschiedlichen Einzelgebäuden als räumliche Fassung.

Wie brachten Sie sich ein?

Mein Vorgänger hatte noch mit dem Wechsel der Projektentwickler zu kämpfen. Ich konnte mich dann schon eher in die neue städtebauliche Version mit einbringen. Doch der grundsätzliche Städtebau stand schon. Ich nahm dann Stellung zu einzelnen Dingen und Details, z. B. der Fassadengestaltung oder der Nutzungsthemen. Ich kannte ja das Projekt noch als großes Loch gegenüber des Bahnhofs. Seitdem sind wir bekanntlich sehr weit vorangekommen!

Unmittelbar um die Sedelhöfe herum wird jetzt noch kräftig gebaut. Wie sehen die Pläne z. B. für die Fußgängerzone aus?

Die Ulmer Fußgängerzone zwischen dem Münster und dem Hauptbahnhof ist erkennbar nicht unser schönster Ort. Diverse Anrainer bauen um, z. B. Peek & Cloppenburg gehen mit einem hohen Anspruch vor und am Eingang der Bahnhofstraße ist ein schöner Neubau mit einer Apotheke entstanden. Unsere Antwort darauf ist eine komplette Umgestaltung der Fußgängerzone. Ein neuer Straßenbelag und vor allem eine vergleichsweise dichte Baumbepflanzung sowie unterirdische Wasserspeicher sind im Entstehen, in Form von Sub­­­strat­rigolen zur Speicherung des umgebenden Dachflächenwassers zur Bewässerung der Baumstandorte und zusätzlicher Verdunstung, um gemäß dem Stadtentwicklungsbericht der Bundesregierung, 2020, den Klima- und Hitzeschutz zu verbessern. Die Sedelhöfe wurden vor diesen Arbeiten eröffnet und stehen somit am Anfang der Konversion der Ulmer Fußgängerzone. Wie bereits erwähnt, müssen wir uns von der Losung „Stadt ist Stein“ verabschieden.

Wo erkennen Sie noch weitere Qualitäten und Potenzial in den Sedelhöfen?

Ich kenne nicht viele Einzelhandelsgroßprojekte, die eine so klare Trennung von Öffentlich und Privat haben. Die also alle Eingänge vom öffentlichen Raum realisieren und den öffentlichen Raum dezidiert nutzen. Was ich den Sedelhöfen hoch anrechne, ist, dass sie sich nicht als einheitliches Großprojekt präsentieren, sondern die Fußgängerzone mit Einzelbausteinen geschickt verlängern. Wie bereits erwähnt, machen die Passanten einen Schlenker über die Sedelhöfe. Somit ist mit den Sedelhöfen ein neues Eingangstor zur Ulmer Innenstadt entstanden und gleichzeitig ein architektonisch angemessenes Gegenüber zu dem neu gestalteten Bahnhofsplatz. Und dann stellt gerade der hohe Anteil von 112 Mietwohnungen eine Durchmischung dar, die ansonsten in Innenstadtlagen von Großstädten seinesgleichen sucht. Das garantiert eine Belebung des Quartiers auch über die Abendstunden hinaus.

In dem 2021 erschienenen Buch Retail in Transition von Caspar Schmitz-Morkramer geht es vornehmlich um durch die Digitalisierung und dann durch die Corona-Pandemie verursachten Veränderungen in deutschen wie europäischen ­Innenstädten. Wie reagiert Ulm auf diesen ­Wandel?

Wir sind erstaunlich gut durch diese Zeit der Lockdowns gekommen, weil wir die Grundannahmen, wie Stadtstrukturen resilient werden im Hinblick auf zukünftige Szenarien, schon lange verfolgen. Dazu gehören eine entsprechende urbane Dichte, eine hohe Funktionsmischung, aber auch das Poten­zial der Gebäudestrukturen für Veränderbarkeit von Funktionen sowie die Qualifizierung des öffentlichen Raums. Das sind für uns essentielle Elemente des Städtebaus, die auch über die Corona-Pandemie hinaus Bestand haben. Sie machen die Ulmer Innenstadt zukunftsfähig. Gerade in diesen Bereichen sind die Sedelhöfe ein sehr gutes Beispiel, wie man an die offenkundigen Herausforderungen unserer mitunter sehr monofunktional ausgerichteten Innenstädte herangehen kann. Nehmen Sie zum Vergleich die Einkaufsmall Blautal Center hier am Stadtrand von Ulm. Sie beansprucht eine Grundstücksfläche von über 60 000 m², also das Sechsfache der Sedelhöfe. Dort herrscht zur Zeit ein circa 40-prozentiger Leerstand. Folglich spricht man sehr intensiv über einen Umbau oder sogar kompletten Abriss der Mall. Im Gegensatz dazu punkten die Sedelhöfe, weil sie geschossweise unterschiedliche Nutzungen haben und sie damit befähigt sind, Veränderungen mitzumachen. Die Häuser werden nicht besser oder schlechter, wenn sie z. B. etwas mehr oder weniger Retail aufweisen. Wie Sie wissen, dachte man ursprünglich darüber nach, auch das zweite Obergeschoss der Sedelhöfe in den Handel mit einzubeziehen. Das hat der Investor dann im Zuge der Entwicklung geändert, was eindeutig belegt, dass diese Art von Architektur positiv auf Veränderungen reagieren kann, ohne dass die Stadtstruktur darunter leidet. Diese Offenheit für Veränderungen und die dem Projekt implizite Flexibilität sind für mich Qualitätsmerkmale der Sedelhöfe. Städte müssen veränderungsbereit sein und bleiben, das ist für mich einer der zentralen Bestandteile von Resilienz.

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