Vom Entwickler zum Erfinder
Begeistert vom Raumerlebnis eines leeren Biomassebehälters verwirklichten die Gebrüder Frese den Traum vom runden Haus – und machen nebenbei ein gesamtes Dorf energieautark. Das Besondere daran: Die Biogasanlage wird nicht mit aufwendig produzierten Energiepflanzen betrieben, sondern ausschließlich mit Speiseabfällen. Auf diese Weise wird „das Land“ zum Schauplatz einer beispielhaften Kreislaufwirtschaft.
Die „Villa F“ der Gebrüder Frese, ein off-the-grid Haus im Sauerland, war Katalysator für die Errichtung eines wegweisenden Nahwärmenetzwerks, an das inzwischen mehr als 150 Haushalte angeschlossen sind – obwohl die Bewohner in Titmaringhausen und der Nachbargemeinde Referinghausen dem Konzept anfangs äußerst skeptisch gegenüberstanden. Demzufolge haben die Bauherren und das Team von Christoph Hesse Architects wahre Überzeugungsarbeit geleistet. Das Ergebnis spricht für sich: Durch die in den Neubau integrierte Biogasanlage ist es gelungen, eine energieautarke Nahwärmeversorgung zu etablieren und sich von externen Energieanbietern vollständig zu entkoppeln – das alles für einen Preis von lediglich 4,8 Eurocent je Kilowatt für die nächsten sieben Jahre. Nicht nur beim Entwurf der Villa F, auch beim Ausbau der Infrastruktur (gemeint ist hier ein Depot für Hackschnitzel) und der öffentlichkeitswirksamen Bewerbung des Konzepts mithilfe des Pavillons „StrohTerme“ spielten Hesse und sein Team eine ganz entscheidende Rolle. Die Besonderheit: Das Material jenes Pavillons ist eine Metapher für die Biomasse und das in Raummitte platzierte Stahlbecken mit warmem Wasser ein Symbol der hieraus gewonnenen Energie.
Am Anfang war die Idee
Doch der Reihe nach: Zu Beginn gab es den Gedanken, Biogas nicht, wie es sonst meist üblich ist, mithilfe von eigens angepflanzter Biomasse (oft Mais-Monokulturen) zu produzieren, sondern aus organischen Abfällen aus der Landwirtschaft und aus Lebensmittelresten von Restaurants, Seniorenheimen und Krankenhäusern aus der näheren Umgebung. Diese Biomasse aus Abfällen wird in Fermentern – runden Behältern mit flexiblem Dach – vergärt, wobei ein Großteil der Biomasse von Bakterien anaerob (unter Ausschluss von Sauerstoff) zersetzt und in Biogas umgewandelt wird; der Gärrest kann als nährstoffreicher Dünger auf Feldern und Äckern verwendet werden.
In Titmaringhausen wird das in mittlerweile drei Fermentern entstehende Biogas gleich vor Ort in einem Blockheizkraftwerk (BHKW) in Wärme und Strom umgewandelt – CO2-neutral, da bei der Verbrennung von Biogas lediglich jene Menge an CO2 freigesetzt wird, die vorher in der Biomasse gebunden war. Der im BHKW erzeugte Strom – 1 MW elektrische Energie – wird ins allgemeine Stromnetz eingespeist, während die Wärmeenergie – 2 MW thermische Energie – in Form von erwärmtem Wasser ausschließlich auf dem Betriebsgelände und lokal in den beiden benachbarten Dörfern verteilt wird.
Überzeugende Leistung
Die Villa F diente als Pilotprojekt. Denn erst nachdem die Bauherren nachweisen konnten, dass sie ihr Haus selbst in einem strengen Winter ausschließlich durch die aus Biogas erzeugte Wärme beheizen konnte, ließen sich zunächst rund zehn Nachbarn und dann schließlich immer mehr Dorfbewohner auf eine Umrüstung ihrer Heizungsanlage und einen Anschluss an das – von den Frese-Brüdern mithilfe eines Baggers selbst unterirdisch verlegte – Leitungsnetz ein. Damit die Anlage jederzeit uneingeschränkt betrieben werden kann – sprich: im Winter, wenn die Temperaturen bisweilen unter –10 °C fallen, oder etwa während längerer Schließungszeiten von Gastronomiebetrieben (zum Beispiel während der Betriebsferien oder eines Corona-Shutdowns) –, ist ein Puffer für anlieferungsschwächere Zeiten notwendig. Im Fall der Biogasanlage der „Villa F“ ist dabei die Rede von Hackschnitzeln (zum Beispiel aus Strauchschnitt), die in einem eigens errichteten Depot gelagert werden. Für den Bau des seitlich offenen Reservois recycelte Bauleiter Bernd Weigel von Christoph Hesse Architekten die Halle eines ehemaligen Baumarktes aus dem rund 30 km entfernten Korbach, die demontiert, in ihrer Form komplett rekonfiguriert und auf dem Betriebsgelände in Titmaringhausen wiederaufgebaut wurde.
Form follows function
Das orthogonale Depot aus Leimholzbindern schließt die Reihe der drei Fermenter ab, deren runder Grundriss – eine Notwendigkeit, um den Innendruck des Gasvolumens gleichmäßig aufnehmen zu können – den späteren Bauherrn der Villa F zu der Idee inspirierte, in einem Rundhaus wohnen zu wollen. Die Rundform ermöglicht eine Minimierung der Außenfassade im Verhältnis zum umschlossenen Raum, was der Energiebilanz der ausschließlich mit der Wärme der eigenen Biogasanlage versorgten Villa F dauerhaft zugutekommt. Die umlaufende verputzte Außenwand der Villa F wird aus 36,5 cm messenden Hochlochziegeln gebildet; sie wurde nicht zusätzlich gedämmt, jedoch durch die Bewohner sukzessive mit Steinen aus einem nahegelegenen Bach geschützt. Im Inneren überrascht der Rundling mit zwei räumlich sehr differenziert gestalteten Ebenen: Während im Erdgeschoss eine schmale, zentrale Diele gleich sieben sehr unterschiedlich zugeschnittene Räume der Leitzentrale erschließt, prägt im Obergeschoss ein offener Wohnbereich mit Esszimmer und Küche die zentrale Raumsequenz, die seitlich von einem Schlafzimmer mit Bad sowie von einer Sauna mit angrenzender Loggia inklusive rundem Whirlpool (mit weitem Blick in die Landschaft) flankiert wird.
Pionierbauwerk mit Strahlkraft
Nachdem sich die durch eindrucksvolle Zahlen belegte Erfolgsgeschichte des Nahwärmenetzes in Titmaringhausen herumgesprochen hatte – der Ort spart pro Jahr insgesamt rund 150000 l Heizöl und 300000 m³ CO2 ein (das entspricht rund 4500 Containern), und jeder Haushalt muss pro Jahr rund 2500–3500 Euro weniger für die Wärmeversorgung aufwenden als zuvor – und auch der Nachbarort Referinghausen angeschlossen worden war, wurde ebendort die Unabhängigkeit vom globalen Energiemarkt mit einer temporären Installation gefeiert: Gemeint ist die sogenannte StrohTherme, die metaphorisch für die Biogasanlage steht. Der Pavillon ist einer von mehreren „Open Mind Places“, die dazu dienen, die Selbstwirksamkeit der Menschen zu wecken, um sie für neue Ideen zu begeistern und sie ferner für eine ökologische und solidarische Zukunft zu sensibilisieren.
Die „StrohTerme“ lockte nicht nur die Einheimischen, sondern auch Hunderte von Besuchern an, die sich über das Nahwärmenetz und über dessen mögliche Übertragbarkeit auf andere Orte informieren konnten. Etwaige Informationen werden laufend aktualisiert, denn schließlich wird die Logistik dieser speziellen Biogasanlage fortlaufend verfeinert. So hat die Familie Frese beispielsweise an einigen Abholorten geruchsdichte Zwischenspeicher gebaut, in denen die organischen Abfälle mehrere Wochen lang gelagert werden können – auf diese Weise konnten die Transport-intervalle optimiert werden. In diesem Sinne dürfen wir gespannt sein, was sich die Tüftler aus Titmaringhausen und Christoph Hesse Architects noch ausdenken werden, um dem Hochsauerlandkreis weitere Impulse für die Energie- und für die Architekturversorgung zu schenken.
Oliver Hamm