Wirkung von Fassaden auf die Stadt
Städte und Gemeinden stehen vor der großen Herausforderung, den vorhandenen städtischen Raum nicht nur kommerziell zu nutzen oder brach liegen zu lassen, sondern für das Gemeinwohl nutzbar zu machen. Wie dies gelingen kann und welche Rolle die Fassadengestaltung dabei spielt, erfahren Sie im Interview mit Marcus Gwechenberger, Stadtrat und Dezernent für Planen und Wohnen der Stadt Frankfurt a. M., und Torsten Becker, Vorsitzender des Städtebaubeirats der Stadt Frankfurt a. M. und Stadtplaner.
Marcus Gwechenberger, Sie wurden 1976 in Viernheim geboren, studierten Geografie, Politik und Soziologie in Heidelberg sowie Städtebau und Siedlungswesen an der TU Darmstadt. Seit dem 22. Juni 2023 sind Sie Dezernent für Planen und Wohnen der Stadt Frankfurt a. M. Was hat sich seitdem für Sie geändert?
Marcus Gwechenberger: Am meisten geändert hat sich für mich, dass ich jetzt in einer repräsentativeren Funktion bin. Ich freue mich über die Chance, für die Stadt Frankfurt gestaltend tätig zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Mir ist es wichtig, die baukulturelle Qualität unserer Stadt zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Torsten Becker, Sie wurden 1971 geboren und sind seit Mai 2018 Vorsitzender des Städtebaubeirats der Stadt Frankfurt a. M. und Stadtplaner. Sie haben Raum- und Umweltplanung an der Universität Kaiserslautern studiert und sind seit 2002 selbstständiger Stadtplaner in Frankfurt. Weiterhin leiten sie die Arbeitsgruppe Stadtplanung der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen. Darüber hinaus sind Sie, wie auch Herr Gwechenberger, aktiv in der DASL – Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Sie engagieren sich bei „Making Frankfurt“. Vielleicht ganz kurz für diejenigen, die nicht wissen, was sich dahinter verbirgt: Was macht „Making Frankfurt“?
Torsten Becker: Making Frankfurt ist ein Netzwerk aus kreativen Köpfen, das sich gegründet hat, um jenseits gängiger Verfahren und Beteiligungsprozesse Debatten zur Zukunft Frankfurts anzustoßen. Auslöser war die Diskussion um die Neugestaltung des Mainkais, der vom Autoverkehr befreit werden soll.
Städte sehen sich heute, insbesondere in ihren Zentren, vielfältigen Hausforderungen ausgesetzt. Klimawandel, Wirtschaftsstandort, Mobilität, Tourismus, nur um einige zu nennen. Wie sollten Städtebau und Architektur für diese Herausforderung Ihrer Meinung nach aufgestellt sein?
Marcus Gwechenberger: Flexibel. Es ist von zentraler Bedeutung, dass Strukturen geschaffen werden, die auch auf Veränderungen bzw. aktuelle Entwicklungen reagieren können. In diesem Zusammenhang gibt es drei zentrale Fragestellungen. Bei der ersten Fragestellung geht es um die Zukunft der innerstädtischen Leitfunktionen: Es gibt deutliche Veränderungen beim Einzelhandel, der viel stärker online stattfindet als noch vor zehn Jahren. Ähnlich sieht es mit der Leitfunktion Arbeit aus. Frankfurt ist die Hauptstadt der Pendlerinnen und Pendler. Gleichzeitig merken wir, dass eine Veränderung stattfindet, was die Nutzung von Homeoffice und Präsenzarbeit im Büro betrifft. Zurzeit gibt es den Trend, dass Unternehmen größere Büroflächen aufgeben und in kleinere Flächen umziehen, die dafür aber zentraler gelegen sind. Sie möchten damit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen attraktiveren Arbeitsplatz bieten.
Die zweite Frage ist: Wie können wir Mobilität in der Innenstadt neu organisieren? Die Frankfurter Innenstadt ist hervorragend durch den ÖPNV erschlossen, der Stadtraum ist jedoch an vielen Stellen noch ziemlich autogerecht. Daran schließt sich die dritte Frage an: Wie können wir den öffentlichen Raum weiterentwickeln? Bei der Weiterentwicklung des öffentlichen Raums verfolge ich den Ansatz, prozesshaft vorzugehen und auch Angebote auszuprobieren. Es geht mir darum, die sozialen Rahmenbedingungen, beziehungsweise den jeweiligen Charakter der Plätze bei der Neugestaltung und Weiterentwicklung stärker zu berücksichtigen.
Herr Becker, Martina Löw, Soziologin an der TU Darmstadt, fordert in ihrem Buch „Soziologie der Städte – ein unverwechselbares Stadtbild“ mehr Bildqualitäten in modernen Städten. Wie beantworten Sie diese Forderungen in Bezug auf Frankfurt am Main?
Torsten Becker: Die Eigenlogik der Städte ist ja ein ganz zentraler Forschungsstrang, den wir eigentlich schon immer so geahnt haben und der durch Martina Löw nochmal stärker in den Fokus gerückt ist. Frankfurt hat eine sehr spezifische Eigenlogik im Verhältnis zu anderen Städten. Das hängt mit der langen Geschichte zusammen, mit der spezifischen topografischen Situation, also mit der zentralen europäischen Lage am Main. Frankfurt hat wirklich eine ganz exzellente Besonderheit, das ist in meinen Augen die offene und liberale Stadtgesellschaft, die sich über Jahrhunderte ausgeprägt hat. Das spiegelt sich in der Agilität der Akteure wider, in der Offenheit, neue Dinge auszuprobieren und sozusagen das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und das ist, finde ich, ein ganz zentrales Thema der Eigenlogik Frankfurts und das muss sich im Grunde auch in der Stadtplanung und im Stadtbild wiederfinden.
Wie sehen Sie das Thema der begrünten Fassaden?
Marcus Gwechenberger: Eine begrünte Fassade ist für mich grundsätzlich wichtig. Die Stadt Frankfurt hat kürzlich die Freiraumsatzung verabschiedet. Sie zielt genau darauf: mehr Grün in der Stadt! Grüne Fassaden sind bei Hochhäusern jedoch nicht immer sinnvoll. Es gibt leider Beispiele, bei denen alle zwei Jahre die Pflanzen ausgetauscht werden müssen, weil die Begrünung nicht funktioniert. Im 35. Stockwerk mit großem Aufwand Grün an die Fassade zu bringen, mag auf Plänen gut aussehen, hat aber ökologisch einen untergeordneten Wert. Von daher muss man differenzieren, denn eine grüne Fassade muss nicht immer grün sein. Sie kann auch nachhaltig sein, weil zum Beispiel Recyclingmaterialien eingesetzt werden oder weil eine vorhandene Fassade aufbereitet und wiederverwendet wird.
Herr Becker, Walter Benjamin schreibt im Passagenwerk: „Straßen sind die Wohnungen des Kollektivs. Die Straße als Salon der Städte.“ Ist das Ihrer Meinung nach noch eine zeitgemäße Assoziation?
Torsten Becker: Also, das Passagenwerk von Benjamin ist ja wirklich sehr schön. Der Salon spiegelt so ein bisschen was Vergangenes wider, aber trotzdem finde ich es immer noch aktuell. Weil man das jetzt auch in der momentanen Nutzung der Innenstadt eigentlich ganz gut erkennen kann. Markus Gwechenberger hat es ja gesagt, das Thema Einzelhandel ist im Wandel begriffen und trotzdem ist gerade am Samstagnachmittag wahnsinnig viel los in der Innenstadt. Und das ist jetzt vielleicht nicht der Besucher des gutbürgerlichen Salons aus dem 19. Jahrhundert, den man da antrifft. Aber wenn Sie sich jetzt gerade mal den Bereich rund um die Kleinmarkthalle anschauen, was dort an Menschenmassen unterwegs ist, um unter anderem mit anderen Menschen sozusagen einfach Teil der Stadt, Teil der Stadtgesellschaft zu sein, dann spürt man, darum geht es eigentlich, es geht um das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein.
Gibt es für Sie in Frankfurt ein positives Beispiel, wo so etwas Ihrer meiner Meinung nach richtig gut umgesetzt wurde?
Marcus Gwechenberger: Ich finde, die Kaiserstraße ist eine fantastische Straße. Sie hat sehr schöne Fassaden und die Erdgeschosse sind alle mindestens 4 m hoch. Der Gehweg ist breit, es gibt tolle, alte Bäume und Schatten. In den Erdgeschossen gibt es vielfältige Gastronomie und einen guten Einzelhandelsmix. Die Vorzone vor den Gebäuden ist nutzbar und es gibt auch noch genügend Platz für konsumfreien Aufenthalt. Daher ist die Kaiserstraße für mich ein sehr gelungenes Beispiel für guten Städtebau und gute Fassaden.
Torsten Becker: Ein anderes Beispiel ist die etwas später entstandene Braubachstraße. Was dort wirklich schön ist: Da sind Häuser entstanden, die ein ganz spezielles Erdgeschoss haben, nämlich mit einem Galeriegeschoss, wo vorne ein hoher Raum ist und im hinteren Bereich noch eine eingeschobene Ebene. Diese Ladenlokale funktionieren richtig gut und werden auch zunehmend in Neubauquartieren eingesetzt, wie beispielsweise in der Hamburger Hafencity. Da sieht man, was für eine tolle Qualität diese überhohen Erdgeschosse haben. Und sie führen zu einer viel schöneren Gliederung der Fassaden und eröffnen ganz andere Nutzungsmöglichkeiten im Erdgeschoss.
Sie haben gerade die Hamburger Hafencity angesprochen. Sie waren 2022 mit dem Städtebaubeirat in Hamburg. Was kann man in Frankfurt von Hamburg oder auch von anderen Städten lernen?
Torsten Becker: Insbesondere die Qualität der Fassaden war deutlich höher als in Frankfurt, das war schon frappierend. Hamburg hat in diesem Punkt offenkundig eine größere Tradition und einen anderen Umgang mit Materialität. Das kommt sicherlich aus der Zeit des ehemaligen Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher, der Klinker sehr stark eingefordert hat. Ein weiterer deutlicher Unterschied ist die Qualität des öffentlichen Raums, sowohl in den neuen Quartieren als auch in der Innenstadt.
Marcus Gwechenberger: Ich würde noch das Thema Zwischennutzung und kulturelle Nutzung an zentral gelegenen Orten ergänzen. Da sind wir in Frankfurt nicht so gut wie in Hamburg. In Hamburg gibt es schöne Beispiele, wo man in sehr zentraler Lage kulturelle Nutzung und auch Zwischennutzung zulässt. Wenn ich mir im Vergleich den Kulturcampus in Frankfurt anschaue, sehe ich noch große Potenziale. Ich setze mich dafür ein, dass die verschiedenen öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen hier in Zukunft besser zusammenarbeiten. Es geht hier um mehr koproduktive Stadtentwicklung.
Wenn Sie jetzt einen Wunsch frei hätten, was müsste geändert werden, damit gerade dieser Ort besser belebet werden könnte?
Marcus Gwechenberger: Mehr Gemeinwohlorientierung bei öffentlichen Projektentwicklungen. Das ist, glaube ich, in Hamburg anders. In Hamburg ist da ein anderer Geist, in Leipzig und Wien übrigens auch. Man sagt, dass die öffentliche Hand auf allen Ebenen verantwortlich für ihre Umgebung ist. Die öffentliche Hand agiert gemeinsam und versucht einvernehmlich, Prozesse in Gang zu setzen, die gemeinwohlorientiert sind. Und das vermisse ich in Frankfurt an manchen Stellen. Es gibt in Frankfurt leider zahlreiche Beispiele, bei denen in der Vergangenheit öffentliches Eigentum privatisiert und zum Höchstpreis veräußert wurde.
Aber wie und wer müsste gegensteuern?
Marcus Gwechenberger: Es ist Aufgabe der öffentlichen Hand, neue Prozesse für eine gemeinwohlorientierte und integrierte Stadtentwicklung anzulegen, eine Stadtentwicklung, die prozesshaft gestaltet ist und bei der auch mit Zwischenständen gearbeitet wird. In Frankfurt denkt man noch zu sehr vom Endprodukt her, das am Ende vielleicht gar nicht kommt, weil sich die Zeit weitergedreht hat. Und das passiert in der Stadtentwicklung ja häufig, dass es neue Erkenntnisse und neue Rahmenbedingungen gibt. Dieser Ansatz, der momentan auch in Frankfurt und Rhein-Main noch zu stark verfolgt wird, führt eben zu Brachen in zentralen Lagen. Ich finde, solche Brachen sollten wir uns nicht mehr leisten. Wir sollten darauf achten, dass Flächen immer genutzt werden. Was nicht in Ordnung ist, dass Gebäude 20 Jahre leer stehen, die der öffentlichen Hand gehören. Und da haben wir in Frankfurt leider viele Beispiele – das darf nicht sein.
Torsten Becker: Die öffentliche Hand hat einfach eine besondere Verantwortung, bestimmte Prozesse anzuschubsen und manchmal auch Nischen zu sichern. Und eben auch durch die Nutzung oder Zwischennutzung von eigenen Immobilien bestimmte Dinge zu ermöglichen, die sonst am freien Markt einfach nicht möglich sind. Da haben wir im Grunde in Frankfurt seit Jahrzehnten eine Liegenschaftspolitik, die anders ist als in anderen Städten. In den 1990er-Jahren hat man in Frankfurt versucht, viele Liegenschaften zu verkaufen, um den Haushalt zu sanieren. Das waren politische Fehlentscheidungen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind.
Hier geht es um Haltung: Wie geht die öffentliche Hand um mit Prozessen, mit der Verantwortung für das Gemeinwohl? Wo schafft sie Nischen, die es sonst nicht gäbe? Ein anderes Thema sind die hohen baulichen Standards. Viele öffentliche Liegenschaften werden nicht dem Markt zugeführt, auch nicht für Zwischennutzungen, weil man teilweise aus Sicherheitsbedenken heraus extrem hohe Ansprüche stellt. Und da wäre es manchmal vielleicht ganz gut, wenn man die Dinge einfacher handhaben könnte. Da steht man sich manchmal mit technischen Maximalforderungen und Sicherheitsmaximalforderungen auch so ein bisschen selbst im Weg.
Herr Gwechenberger, ich habe im Kontext Ihrer Lehrtätigkeit gelesen, dass Sie innerstädtische Impulsprojekte im europäischen Vergleich untersucht haben. Gibt es ein aktuelles Projekt, das Sie für Frankfurt als Impulsprojekt bezeichnen würden?
Marcus Gwechenberger: Aus meiner Sicht ist „Frankfurt Nordwest – Neuer Stadtteil der Quartiere“ ein Impulsprojekt. Es handelt sich um ein neues großes Gebiet, wo 7 000 Wohnungen und 4 000 Arbeitsplätze entstehen sollen. Dort möchte ich gerne das Thema Koproduktion in den Vordergrund stellen. Wie können wir koproduktive Prozesse in Gang setzen? Wie können wir neue Stoffkreisläufe, neue Energiekreisläufe und auch soziale Prozesse initiieren? Wie können wir Mobilität neu denken und daraus Erkenntnisse ableiten, die wir auch auf andere Quartiere übertragen können? Ein weiteres Impulsprojekt ist der Gutleuthafen. Dort möchte ich gerne das Thema Produktive Stadt nennen. Im wirtschaftlichen Bereich ist für mich der Industriepark Griesheim ein wichtiges Impulsprojekt. Das ist ein großer Industriepark, der momentan mehr oder weniger komplett brach liegt. Wir entwickeln dort ein neues Areal mit gewerblicher und industrieller Nutzung. Wir möchten dort neue Produktion ansiedeln, aber auch das Gebiet für die Bevölkerung zum Main hin öffnen. Das heißt, dass neben einer neuen Durchwegung auch Funktionen für die Nachbarschaften im Industriepark angeboten werden, beispielsweise Sport- und Freizeitangebote sowie Gastronomie, Kultur, Clubs etc. Dies würde auch die Aufenthaltsqualität im Gewerbegebiet erhöhen. Und es ist mir wichtig, dass auch in Industrie- und Gewerbegebieten Architektur und Freiräume mit gestalterischem Anspruch entstehen. Da ist in vielen deutschen Gewerbegebieten noch Luft nach oben.
Ich wünsche Ihnen neben dem vorhandenen Herzblut für die Themen viel Kraft und Energie bei der Umsetzung Ihrer Projekte.
Marcus Gwechenberger, Torsten Becker: Danke!
Das Interview führte DBZ-Chefredakteur Michael Schuster am 27.07.2023