Wohnen im ehemaligen Weinlager, Basel/CH
Im Baseler Stadtteil St. Johann entwickelt sich neben rauchenden Schornsteinen und noch bestehenden Industrie-brachen eine spannende Mischung aus Gewerbe, Kultur und Wohnen. Esch Sinztel Architekten aus Zürich vermitteln mit ihrem ersten großen Umbauprojekt städtebaulich zwischen der dichten Blockrandbebauung und den angrenzenden Großstrukturen im Lysbüchel-Areal.
Der Fassade des ehemaligen Weinlagers ist ein „maschinengrünes“ Stahlgerüst vorgesetzt, das Austritte für die Wohnungen bietet. Die seitlichen, wellblechverkleideten Anbauten dienen der Austeifung des Wohnregals
Foto: Paola Corsini
Im Nordwesten von Basel liegt der Stadtteil St. Johann, der von Industrie und der Gleistrasse vor dem St. Johann Bahnhof geprägt ist. Von der Baseler Innenstadt führt die Elsässer Straße geradewegs durch St. Johann. Auf der einen Seite liegt der Novartis Campus mit seinen weißen Hochhäusern und bemerkenswerten Bauwerken, die vom Architekten-Starkult der vergangenen 20 Jahre zeugen. Auf der anderen Straßenseite bricht die Blockrandbebauung abrupt ab. Dahinter erstreckt das weitläufige Lysbüchelareal, ein ehemaliges Verteilzentrum des Großhändlers Coop. Die Stiftung Habitat hatte die südlichen Grundstücke 2013 erworben, um ein gemischtes Quartier mit bezahlbarem Wohnraum zu schaffen. 2020 entstand im Norden des Quartiers bereits das Kultur- und Gewerbehaus ELYS (baubüro in situ). Für den südlichen Abschnitt entwickelte die Stiftung einen Masterplan. Der sah zum einen die Entwicklung des ehemaligen Weinlagers vor, zum anderen den Bau einer neuen, kleinteiligen Blockrandbebauung auf zwölf individuellen Parzellen, um die gründerzeitliche Bebauung fortzuführen. Die kleinen Parzellen verkaufte die Stiftung einzeln an Genossenschaften und Baugruppen im Baurecht. Für den Umbau des Weinlagers lud sie im Jahr 2018 vier Architekturbüros ein, Entwürfe für die Umnutzung zu entwickeln. Esch Sintzel Architekten aus Zürich erhielten den Auftrag, der eine Wohnnutzung mit Café und Gewerbe im Erdgeschoss, Gemeinschaftsraum und Dachterasse vorsah, was nicht nur von weitem an den Marseiller Protoyp von Le Corbusiers Wohnmaschine erinnert.
Analyse des Vorgefundenen
Das auf Wohnungsbau spezialisierte Büro realisierte mit dem Weinlager in Basel sein erstes größeres Umbauprojekt. Die Auseinandersetzung mit dem komplexen Bestand beschreibt Marco Rickenbacher, Partner bei Esch Sintzel, als besonders reizvoll: „Basel hat viele faszinierende Industrieflächen, die leerstehen. Besonders am Stadtrand gibt es interessante Entwicklungsgebiete, wie auch das Lysbüchelareal.“ Das Weinlager steht gerade einmal 500 m von der französischen Grenze entfernt. Das Areal ist allseitig eingekesselt: Im Norden die Grenze, im Osten der Novartis Campus, im Süden die dichte Wohnstadt, im Westen die Gleistrasse. Wie auch die Stadt am Dreiländereck insgesamt, kann das Industriegebiet nur nach Innen wachsen. Bei dem gleichzeitigen Wunsch nach Dichte war zunächst unklar, wie sich das sperrige Lagerhaus im Quartier Lysbüchel einfügen kann. Esch Sintzel sehen es als Vermittler. „Das Weinlager ist die Bruchstelle zwischen der klassischen Wohnstadt und der Industrie bzw. der zukünftigen Wohnstadt“, sagt Rickenbacher. Dennoch ordnete sich das Projekt dem Blockrandstrukturbaugesetz unter. Ein politischer Prozess für einen neuen Bebauungsplan hätte der Stiftung zu lange gedauert, erzählt der Architekt, „also haben wir versucht, das Weinlager in die Form des Gesetzes hinein zu bekommen.“
Das erweiterte Lagergebäude aus den 1970er-Jahren auf dem freien Grundstück zu Beginn der Planungen
Foto: Esch Sintzel Architekten
Im Studienauftrag begannen Esch Sintzel Architekten mit der Analyse des vorgefundenen Lagergebäudes, dessen Geschichte in die 1950er-Jahre zurückreicht. Das erste Bauwerk von 1955 ist nur noch Plänen zu entnehmen. Es handelte sich um ein dreigeschossiges Fabrik- und Lagerhaus mit zwei riesigen Untergeschossen von 4 und 6 m Deckenhöhe. Bis zu 10 m unter die Erde lagerte hier Wein in eingebauten Tanks und in Fässern, oben wurde der Wein in Flaschen umgefüllt. Die Struktur aus mächtigen Pilzstützen, die sich nach oben hin verjüngen, war mehr als ausreichend fundiert und machte eine spätere Aufstockung möglich. Die Gestaltung der Nachkriegsmoderne musste in den 1970er-Jahren weichen, als das Gebäude mit einer Stahlkonstruktion von 20 auf 30 m verbreitert und um zwei Etagen von je knapp 5 m Höhe aufgestockt wurde, sowie eine fensterlose Verkleidung aus hellbraunem Blech erhielt. Nach wie vor lagerte hier Wein für den Großhändler Coop.
Mächtige Unterzüge und Pilzstützen aus Beton bestimmen die Wohnungen. Geschickte Grundrisse und großzügige Öffnungen der Fassade ermöglichen dennoch helle und angenehme Räume
Foto: Paola Corsini
Maßnahmen
Für die Transformation des ehemaligen Weinlagers in ein Wohnhaus war schnell klar, dass die Anbauten der 1970er nicht erhalten werden können, da der Gebäudequerschnitt zu tief für eine Wohnnutzung gewesen wäre. Auch die Maße der damals aufgestockten Etagen waren nicht praktikabel und hätten auch den Tageslichteintrag auf die Nachbargrundstücke unzulässig verringert. Die Architekten sahen vor, die Stahlstruktur abzutragen und anschließend für einen neu proportionierten Aufbau zu verwenden. Bei Abbrucharbeiten wurde der Stahl allerdings ohne Rücksicht auf die geplante Weiterverwendung entnommen und war danach nicht mehr brauchbar. Was an Substanz blieb war damit die massive Stahlbetonstruktur aus den 1950er-Jahren. Entlang der Längsseiten nahmen die Architekten dann Schnitte vor, um die Tiefe des Gebäudes auf 17 m zu verringern. Damit verschwand an beiden Längsseiten die äußere Stützenreihe. Anstelle der Betonstützen kamen neue, geschälte und getrocknete Fichtenstämme zum Einsatz. Sie stehen 1 m vor der Fassade nach innen versetzt.
Die geschälten Fichtenstämme stehen 1 m von der Fassade nach Innen versetzt. Sie sind der Länge nach durchbohrt, um Risse zu minimieren. Das helle Holz hat eine besondere Haptik und verändert den Raumeindruck, der sonst von rohen Betonstützen dominiert wird
Foto: Paola Corsini
Der rund 70 Jahre alte Beton war noch weitgehend intakt. Untersuchungen zeigten, dass er in dieser Zeit in keiner Weise an Druckfestigkeit eingebüßt hatte, jedoch erforderte die geringe Armierung in den Decken eine nachträgliche Verstärkung der Struktur gegen Horizontalkräfte. Die Architekten setzten daher an den beiden kurzen Seiten eine aussteifende Klammer an. Als erdbebengefährdete Region sind die auszuhaltenden Horizontalkräfte in Basel zehnmal höher als beispielsweise in Zürich. Wie „Buchstützen“ sollten die Anbauten das instabile Regal halten. Die Anbauten greifen mit je zwei C-förmigen Elementen an den Ecken und einem T-förmigen in der Mitte um den Bestand. Unter der Erde zogen die Architekten eine weitere Ebene in das zuvor 6 m hohe Untergeschoss ein, sodass nun drei Ebenen vornehmlich als Tiefgarage mit 50 Auto- und Fahrradstellplätzen dienen. Ganz im Gegensatz zur deutschen Stellplatzverordnung ist die Schaffung von Parkplätzen in Basel genehmigungspflichtig. Nur wenige von ihnen sind besetzt. In Zukunft soll die Tiefgarage aber dem ganzen Quartier dienen und wird dann vermutlich auch stärker ausgelastet sein.
Der Keller bietet eine weitere Nutzung: Unterhalb des Cafés, wo die volle Deckenhöhe von 6 m erhalten blieb, haben die Architekten spektakuläre Musikproberäume geschaffen. Dazu setzten sie kleine schalldichte Kuben zwischen die mächtigen Stützen in das Raumvolumen ein. Der Bestand ist roh belassen und wirkt monumental. Auf der anderen Seite finden sich, ebenfalls in 10 m Tiefe, die in der Schweiz vorgeschriebenen Schutzräume, die die Bewohnerinnen und Bewohner in Friedenszeiten als Kellerräume nutzen können.
Die Westseite des Weinlagers richtet sich zu dem neu enstehenden Block aus 12 individuellen Parzellen. Das sperrige Weinlager faltet seine Fassade hier auf und beherbergt ein öffentliches Café im Erdgeschoss
Foto: Paola Corsini
Weiterbauen mit dem Bestand
Für die Suche nach neuen Stahlelementen für die Aufstockung wandten sich die Architekten an das „baubüro in situ“. Die hatten zu diesem Zeitpunkt noch nicht „zirkular“ gegründet, übernahmen es aber für Esch Sintzel, Materialien zur Wiederverwendung zu finden. Leider waren keine ausreichenden Mengen von kompatiblen Materialien verfügbar, sodass sich die Architekten für eine Fortführung der Stahlbetonstruktur entschieden. Von der insgesamt verbauten Masse macht der Bestand ca. die Hälfte der Baumaterialien aus, rund 40 % der Grauen Energie konnten im Vergleich zu einem Neubau eingespart werden. „Es ging uns nicht allein darum, Energie einzusparen. Für uns war wichtig, dass die Architektur noch eine zusätzliche Dimension erhält: Wir bewahren 70 Jahre Geschichte an diesem Ort und bauen damit weiter“, sagt Rickenbacher.
In das Stahlbetonregal haben die Architekten vom Erdgeschoss bis zum fünften Obergeschoss Wohnungen mit nichttragenden Gipswänden gebildet. „Die Struktur hat eine Permanenz, aber die Nutzung ist flüchtig“, sagt der Architekt. Die Wände folgen nicht dem Stützenraster, die massiven Pfeiler stehen mitten in den Fluren und in den Wohnungen. „Die Stützen sind die Protagonisten der Erzählung. Sie waren noch nie umbaut, daher sind sie das auch jetzt nicht und stehen frei in den Wohnungen.“ Sie schränken zwar die Räume ein, leisten aber auch eine Zonierung der Wohnungen mit nur 2,80 m Breite und 17 m Länge.
Die 64 Wohnungen variieren in ihrer Größe zwischen 1,5 und 7,5 Zimmern. Sie verlaufen fast alle in Nord-Süd-Richtung durch die Hausbreite. Erschlossen werden sie über zwei Innenstraßen und daran angegliederte Treppenhäuser. Die „rues interieures“ sind „schwierige Räume“, so Rickenbacher. „Aber die Säulen im Gang geben Privatheit, die Glasbausteine dienen der visuellen Kommunikation zwischen Innen und Außen, lassen aber keine Einsicht zu.“
Die erste Innenstraße erschließt die Wohnungen im Erdgeschoss. Sie haben niedrige Decken, dafür profitieren sie von einem Ausgang zum Garten. Vier Treppenhäuser führen in die nächsten beiden identischen Etagen, in denen die Wohnungen verschachtelt aneinander liegen, um für jede Wohnung eine Ausrichtung nach Süden zu sichern. Die zweite Innenstraße im dritten Obergeschoss ist der Auftakt für die Aufstockung und einen Typologiewechsel. Hier sind die Maisonettewohnungen untergebracht. In den Bestandsdecken darunter ließen die weniger stabilen Decken keine Durchbrüche für Maisonette zu. In der fünften Etage ist der Gang als Laubengang an die frische Luft verlagert. Sichtbar bepflanzt bietet er einen gemeinschaftlichen Außenraum für die von hier erschlossenen Wohnungen.
Die mächtigen Pilzstützen sind die Protagonisten des Gebäudes. Freistehend und in Reihe zonieren sie die Innenstraßen und Wohnungen
Foto: Paola Corsini
Wohnmaschine
Anders als in Le Corbusiers Unité d’habitation schieben die Architekten die Wohnungen also nicht in das „Flaschenregal“ hinein, sondern verzahnen sie mit der Gebäudestruktur. Die Wände zwischen den Wohnungen stehen genau versetzt zu den Stützenachsen und damit immer im Abstand von 3 Metern. So konnten 64 Wohnungen untergebracht und eine Energiebezugsfläche von 40 m² pro Person erreicht werden.
In einer Wohnmaschine darf eine Dachterrasse nicht fehlen. Die in Anlehnung an das Marseiller Vorbild überdachte Terrasse ist als frei nutzbarer Raum für die 170 Bewohnerinnen und Bewohner geplant. Ein Gemeinschaftsraum eignet sich für Geburtstage und Nachbarschaftsfeste. Dabei bietet sich ein Blick in alle Richtungen auf das vielfältige Quartier. Gemeinschaft, aber auch Licht, Luft, Sonne versprach sich Le Corbusier. Esch Sinztel Architekten gelingt die Transformation des schwierigen Bestands in eine Wohnstruktur mit viel Charakter, die die Entwicklung des Lysbüchel Quartiers einen großen Schritt weiter bringt.
Natalie Scholder/DBZ
Projektdaten
Objekt: Umnutzung „Wohnen im ehemaligen Weinlager“
Standort: Weinlagerstraße 11, 4056 Basel/CH
Typologie: Wohnen 1,5- bis 7,5-Zimmmer: Durchwohnen, Maisonette, Kleinwohnungen
Bauherrin: Stiftung Habitat, Basel/CH
Nutzung: Wohnen, Café-Bar, Gewerbe
Architektur: Esch Sintzel GmbH, Zürich/CH
Team Architektur: Laurent Burnand (PL), Seraina Spycher (PL), Laura Zgraggen (PL), Nahuel Barroso, Andreas Hasler, Luca Helbling, Witold Kabirov, Xijie Ma, Nadja Moser, Eva-Maria Nufer, Johannes Senn, Marco Rickenbacher (verantwortlicher Partner)
Baumanagement und -leitung: Proplaning AG, Basel
Team Baumanagement: Maik Sütterlin (OBL), Dieter Mendes Hall, Armin Schärer, Matteo Andrisano, Johann Mensch, Maria Crespi, Cornelia Lamm (Administration), Udo Pfaff (GPL, verantwortlicher Partner)
Generalplanung: Generalplanung in Zusammenarbeit (ARGE GP Lysbüchel); Esch Sintzel GmbH, Architekten ETH BSA SIA; Proplaning AG
Bauzeit: 05.2021 – 04.2023
Zertifizierungen: Minergie-P-Eco
Grundstücksgröße: 3 600 m²
Grundflächenzahl: 0.38
Geschossflächenzahl: 3,5
Nutzfläche gesamt: NGF Schweiz (Nettogeschossfläche): 11 100 m²
Nutzfläche: 8 660 m²
Technikfläche: 548 m²
Verkehrsfläche: 1 885 m²
GF Schweiz (Geschossfläche): 12 630 m²
Brutto-Rauminhalt: 42 000 m³
Fachplanung
Tragwerksplanung: Aerni + Aerni Ingenieure AG, Zürich; www.aerniaerni.ch; Aegerter & Bosshardt AG, Basel, www.aebo.ch
HLK-Planung und Fachkoordination: Bogenschütz AG, Basel, www.abicht-gruppe.ch
Sanitärplanung: Technik im Bau AG, Luzern,
www.tib.ch
Elektroplanung: Edeco AG, Aesch, www.edeco.ch
Bauphysik & Akustik: Gartenmann Engineering AG, Basel, www.gae.ch
Landschaftsarchitektur: Stauffer Roesch AG, Basel, www.staufferroesch.ch
BIM-Koordination: Kaulquappe AG, Zürich,
www.kaulquappe.com
Signaletik: Büro Berrel Gschwind, Basel,
www.dasbiest.ch
Farbberatung: Archfarbe, Andrea Burkhard, Zürich, www.andreaburkhard.ch
Energie
Energiebezugsfläche EBF: 7 524 m²
Heizwärmebedarf Qh: 16 kWh/m²a
Grenzwert Qh,li für Umbauten: 25 kWh/m²a
Heizwärmebedarf Qh, in % des Grenzwertes: 64
Elektrizität, inkl. Wärmepumpe: 34 kWh/m²a
Gesamtenergiebedarf (Heizwärmebedarf + Elektrizität): 50 kWh/m²a
Energieerzeugung: Grundwasser-Wärmepumpe
Eigenenergieversorgung erneuerbare Energie (PV, SK, Umweltwärme): 18 kWh/m²a
Art der erneuerbaren Energie: Sonnenenergie (ca. 700 m² PV, Leistung: 142 kWp)
Lüftungskonzept: Minergie Kaskadenlüftung
Hersteller
Fichtenstämme geschält: Neue Holzbau AG Lungern, www.neueholzbau.ch
Bodenbeläge (Anhydrit geschliffen): Repoxit AG, www.repoxit.com
Fassade (Trapezblech): Montana Bausysteme AG, www.montana-ag.ch
Fenster: GAWO Gasser AG Fensterfabrikation,
www.gawo.ch
Innenwände/Trockenbau (Glasbausteine): Semadeni Glasbeton AG, www.semadeni-glasbeton.ch
Innenwände/Trockenbau (Diamantplatten): Knauf AG, www.knauf.de
Stahlstützen und -träger: Fritz Loretan AG,
www.loretanag.ch
Software /CAD/ Zutrittssysteme: Archicad
Türen / Tore: GAWO Gasser AG Fensterfabrikation, www.gawo.ch
Wärmedämmung (Swisspor Pur): Swisspor AG, www.swisspor.com