Der Turm

Ein Weiden-/Stahlgeflecht wird zum Tragwerk; von Rüdiger Sinn, Stuttgart

Seit Jahren wird am Institut Grundlagen moderner Architektur (Igma) in Stuttgart an einem neuen Fachgebiet geforscht: dem Bauen mit lebenden Bäumen. Die so genannte Baubotanik ist eine noch junge Disziplin, die nun – mit dem Bau eines Baumturmes –ihren ersten Erfolge feiert. Im Herzen von Oberschwaben in Süddeutschland wurde dieser Tage der Turm der Öffentlichkeit vorgestellt.

Zwei Jahre lang studierte Ferdinand Ludwig am Igma in Stuttgart. Dann fand er das, was ihn an der Architektur wirklich interessierte: der lebende Baum als Tragwerk. Es müsse doch möglich sein, Bäume in ihrem Wachstum so zu formen, dass diese später Lasten aufnehmen können – dachte er, wälzte Bücher und begann zu experimentieren. Mit seiner Idee,  Tragwerkskonstruktionen aus lebenden Bäumen zu entwickeln, faszinierte er auch seinen damaligen Kommilitonen Oliver Storz. Zusammen entstand während einer Seminararbeit ein rund 20 Meter langer, begehbarer Steg aus Weiden.

Dieses erste Experiment der Baubotaniker steht seit vier Jahren in einer idyllischen Gegend, nahe der kleinen Ortschaft Ruhestetten bei Wald, unweit vom Bodensee. Der Name Riedstraße, die zu dem Gelände führt, verrät schon die Eigenschaften des Untergrunds. Der Boden ist tief, zwei Meter bester Torf bedeckt den Lehmboden, ideale Wachstumsbedingungen für die Pflanzen. Nun hat das Gelände, das eigentlich von einem Bildhauer und Künstler genutzt wird, einen neue Attraktion zu bieten: Seit Ende August ragt ein neun Meter hoher Turm aus der Wiese. Das Projekt wird von Ferdinand Ludwig wissenschaftlich begleitet. Inzwischen promoviert der 29-jährige am Igma in Stuttgart und kann auf einige selbst gemachte Erfahrungen in der Baubotanik zurückgreifen. 

Zusammen mit Oliver Storz, der ebenfalls promoviert, erforschen die Wissenschaftler auf dem Areal eines Kulturbetriebs im Stuttgarter Norden unterschiedliche Eigenschaften von Pflanzen und experimentieren mit Tragwerkskonstruktionen. Storz hat eine Baumtrainingsanlage aufgebaut, dort werden die Bäume, mittels einer komplexen Seilkonstruktion regelmäßig in Bewegung versetzt. Storz untersucht dabei, ob die Bäume, durch die gezielte Stimulation besondere Wuchseigenschaften hervorrufen. Ferdinand Ludwig dagegen untersucht Pflanzenverbindungen mit unterschiedlichen Bäumen. Artenscreening nennt Ludwig seine Versuche. Fein säuberlich stehen dort 600 Bäume in großen Pflanzenkübel in Reih und Glied. Platanen seien besonders verbindungsfreudig. „Je jünger die Pflanzen, desto besser lassen sie sich miteinander verbinden“, erklärt er und zeigt auf die Schnittstelle zweier junger Platanen, deren Stämme sich – über Kreuz mit einer Schnur straff aneinander gebunden – miteinander verschweißt haben. Überwallung wird dieses Phänomen genannt, bei dem beide Bäume eine feste Holzverbindung eingehen. „Wenn die Pflanzen fusionieren, ist das Experiment geglückt“, sagt Ludwig. Das entstandene Kreuz bildet dabei eine stabile Verbindung und ist als Tragwerk brauchbar.

Diese Verbindungstechnik wird unter anderem auch am „Baumturm“ in Ruhstetten angewandt. Seit Juli war Ludwig mit Helfern und dem Künstler Cornelius Hackenbracht (Neue Kunst am Ried) dabei, den Turm vorzubereiten. Pflanzenkübel an Pflanzenkübel wachsen hunderte junge Weidenpflänzchen an einem temporären Gerüst bis in neun Meter Höhe. Mit sieben Wachstumsebenen wird erreicht, dass sich die unteren Pflanzen an bestimmten Schnittstellen mit den Pflanzen auf der nächsten Ebene berühren und sich miteinander verbinden. Diese so genannte Addition von Pflanzen sei im Grunde nicht neu, sondern werde im Gartenbau seit Jahrhunderten gepflegt, erklärt Ludwig. „Das Pfropfen, also das Vermehren von Pflanzen, ist nichts anderes.“ Er und seine Mitstreiter rücken den jungen Bäumen mit Bändern, Schnüren und sogar Edelstahlschrauben zu Leibe. Bäume verschrauben? Ja, das sei sogar besser als schnüren oder mit Bändern verbinden, da der Baum sonst stranguliert werden könne. Ein Gerüst und eingeflochteneBambusstäbe geben die Wachstumsrichtung vor. Das Ziel ist von Ludwig klar definiert: Die Pflanzen sollen später die Metallstützen ersetzen und selbst als Traggerüst für die drei Aussichtsplattformen dienen. Das kann aber noch dauern. Acht Jahre vermutet Ludwig, dann haben sich die Pflanzen zu einem einzigen Organismus verwachsen. In den darauf folgenden 30 Jahren wird das Bauwerk dann durch das Dickenwachstum noch stabiler und soll Sturm und Wetter trotzen. 

Dass die Baubotanik eine Zukunft hat, davon ist Ludwig überzeugt. „In den Innenstädten können lebende Bauwerke entstehen und das Stadtklima verbessern“, ist er sich sicher. Nicht unbedingt, um darin zu wohnen, so weit möchte er nicht gehen, aber als lebende Refugien in der Stadt. Das sei ökologische Bauweise im eigentlichen Sinn. Die Platane ist dabei Ludwigs Favorit. Nicht nur die guten Verbindungseigenschaften überzeugen den Forscher, der typische Stadtbaum bringt hervorragende ökologischen Eigenschaften mit und kann zudem sehr groß werden. Geht man von der Annahme aus, dass zwei Drittel der Maximalhöhe eines Baumes für Baumbauwerke geeignet sind, sind das bei diesen Bäumen immerhin 20 Meter Höhe.

Wurden die Architekten anfangs im Institut als Sonderlinge eher belächelt, haben sie sich nun etabliert. „Die Uni Stuttgart ist die Heimat der Baubotaniker geworden“, freut sich Ludwig, der mit Institutsleiter Professor Gerd de Bruyn eine großen Fürsprecher hat. Das ist auch notwendig, um das Projekt zu finanzieren. Unterstützt wird Ludwig von der Bundesstiftung Umwelt und  Sponsoren. Direktes Geld floss dabei wenig. Die Geldgeber – vor allem Fachfirmen aus dem Bau- und Gartenbaubereich – arbeiteten umsonst für das Projekt und lieferten beispielsweise das Gerüst und die Pflanzen.

Wohl wissend, dass das Projekt den Wissenschaftler Jahre begleiten wird und seine Pflanzen das Gerüst seiner Arbeit werden, stieß Ludwig bei der Einweihung des Turmes „auf das Wachstum“ an.

Baubotanik

Der Begriff „Baubotanik“ beschreibt die Idee, Tragstrukturen mit lebenden Holzpflanzen zu bilden. Baubotanik versucht, die ästhetischen Qualitäten wachsender Bäume mit den Anforderungen statischer Prinzipien zu verbinden.

Baubotanische Strukturen entstehen in Koproduktion zwischen uns als Architekten und der Pflanze. Dazu verbinden wir die das Primärtragwerk bildenden Pflanzen mit technischen Bauteilen zu pflanzlich-technischen Verbundstrukturen.

Im Verlauf ihrer Lebenszeit bildet jede baubotanische Struktur einen eigenen Charakter und eigene Besonderheiten aus. Ihre ästhetischen Qualitäten entstehen unmittelbar durch teilautonome Wachstumsprozesse und die zukünftige Form der Struktur ist durch den Austrieb bestimmt, der sich kontinuierlich an das Ökosystem anpasst.

Durch adaptive Wachstumsprozesse verändert die Pflanze die Stabilität, Funktionalität und Ästhetik des Baus, jedoch nicht dessen Grundgeometrie. Dabei werden Architekt und Nutzer zu Gärtnern, die sich „ihren“ Bau über die Zeit hinweg immer neu aneignen können. Zum Haushalt kommt das „Haus-halten“.

Während soziale und räumliche Prozesse durch die Geschwindigkeit des Baumwachstums verlangsamt werden, wird die Entstehung einer Pflanzenstruktur beschleunigt, indem diese nicht mehr allein wächst sondern teilweise artifiziell konstruiert wird.

Infoseite zur Baubotanik

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