Der Pritzker Preis 2022 geht an Francis Kéré
Der 56jährige Architekt Diébédo Francis Kéré lebt seit 1985 in Deutschland und betreibt in Berlin das international tätige Architekturbüro Kéré Architecture 15.03.2022Welche Rolle spielt Architektur in Kontexten extremer Knappheit? Was ist der richtige Ansatz für die Praxis, wenn man gegen alle Widrigkeiten arbeitet? Sollte es bescheiden sein und man das Risiko eingehen, widrigen Umständen zu erliegen? Oder ist Bescheidenheit der einzige Weg, um relevant zu sein und Ergebnisse zu erzielen? Sollte man ehrgeizig sein, um Veränderungen anzuregen? Oder läuft Ehrgeiz Gefahr, fehl am Platz zu sein und zu einer Architektur des bloßen Wunschdenkens zu führen?
Francis Kéré hat in den letzten Jahrzehnten brillante, inspirierende und bahnbrechende Wege gefunden, um diese Fragen zu beantworten. Seine kulturelle Sensibilität sorgt nicht nur für soziale und ökologische Gerechtigkeit, sondern begleitet den gesamten Projektprozess derart, dass diese Haltung der wohl gangbare Weg zur Legitimität eines Gebäudes in einer Gemeinschaft ist. Francis Kéré weiß sehr bestimmt, dass es in der Architektur nicht um das Objekt, sondern um das Ziel geht; nicht das Produkt leitet, sondern der Prozess.
Das gesamte Werk von Francis Kéré zeigt uns die Kraft der Materialität, die aus dem Ort kommt. Seine Gebäude für und mit Gemeinschaften entstehen direkt aus dem Kontext gemeinschaftlichen Handelns – in ihrer Herstellung, den Materialien, ihren Programmen und ihrem einzigartigen Charakter. Sie sind erdverbunden und verbunden mit den Menschen, die in ihnen stehen, sitzen, liegen. Sie haben Präsenz ohne Vorwand und eine von Anmut geprägte Wirkung.
Geboren in Burkina Faso als Sohn priviligierter Eltern, die auf einer Schulbildung ihres Sohnes bestanden, studierte Francis Kéré Architektur in Berlin. Von dort aus ist er immer wieder aus der Ferne in seine weitere Heimat, ist er gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er hat aus seiner europäischen architektonischen Ausbildung geschöpft und sie mit den Traditionen, Bedürfnissen und Bräuchen seines Landes kombiniert. Er war entschlossen, Bildungsressourcen von einer der führenden technischen Universitäten der Welt zurück in sein Heimatland zu bringen und diese Ressourcen das indigene Know-how, die Kultur und die Gesellschaft seiner Region fördern zu lassen.
Er hat diese Aufgabe kontinuierlich auf eine Weise verfolgt, die gleichzeitig den Ort und die Tradition respektiert und dennoch das Angebot transformiert, wie in der Grundschule in Gando, die so vielen auch über die Grenzen von Burkina Faso hinaus als Beispiel diente und der er später einen Komplex von Lehrerwohnungen und eine Bibliothek hinzufügte. Dort verstand Kéré, dass ein scheinbar einfaches Ziel, nämlich Kindern einen angenehmen Schulbesuch zu ermöglichen, im Mittelpunkt seines architektonischen Projekts stehen musste.
Als Reaktion auf die besonderen klimatischen Bedingungen in seiner Heimat (Hitze) auf dem Hintergrund, Nachhaltigkeit in Architektur zu übersetzen, entwickelte er eine ad-hoc-, eine höchst performative und ausdrucksstarke Architektursprache: Doppeldächer, thermische Masse, Windtürme, indirekte Beleuchtung, Querlüftung und Schattenkammern (statt herkömmlicher Fenster, Türen und Säulen) sind nicht nur zu seinen Kernstrategien geworden, sondern erfüllen darüber hinaus tatsächlich den Status gebauter Würde. Seit dem Abschluss der Schule in seinem Heimatdorf verfolgt Kéré das Ethos und die Methode, mit lokalem Handwerk und Können zu arbeiten, um nicht nur das bürgerliche Leben kleiner Dörfer, sondern bald auch nationale Beratungen in gesetzgebenden Gebäuden zu verbessern. Dies ist der Fall bei seinen beiden laufenden Projekten für die Nationalversammlung von Benin, die sich im fortgeschrittenen Bau befinden, und für die Nationalversammlung von Burkina Faso. Beide Projekte sind aufgrund der aktuellen politischen Situation im Land vorübergehend gestoppt.
Das Werk von Francis Kéré ist seinem Wesen und seiner Präsenz nach das Ergebnis seiner Umstände. In einer Welt, in der Architekten Projekte in den unterschiedlichsten Kontexten bauen – nicht ohne Kontroversen – trägt Kéré zur Debatte bei, indem er lokale, nationale, regionale und globale Dimensionen in eine sehr persönliche Balance aus Basiserfahrung, akademischer Qualität, Low- und High-Tech einbezieht. So gelang es ihm mit seinem Entwurf des Serpentine-Pavillons ein längst vergessenes, wesentliches Symbol der Urarchitektur weltweit in eine universelle Bildsprache und auf besonders wirkungsvolle Weise zu übersetzen: den Baum.
Francis Kéré hat einen sensiblen Bottom-up-Ansatz in Bezug auf die Beteiligung der Gemeinschaft entwickelt. Gleichzeitig hat er kein Problem damit, die bestmögliche Art eines Top-Down-Prozesses in sein Denken über fortschrittliche architektonische Lösungen einzubauen. Seine gleichzeitig lokale und globale Perspektive geht weit über Ästhetik und gute Absichten hinaus und ermöglicht es ihm, das Traditionelle mit dem Zeitgenössischen zu integrieren.
Die Arbeit von Francis Kéré erinnert uns auch an den notwendigen Kampf, nichtnachhaltige Produktions- und Konsummuster zu ändern, während wir uns bemühen, angemessene Gebäude und Infrastruktur für Milliarden Bedürftige bereitzustellen. Er wirft grundlegende Fragen auf nach der Bedeutung von Beständigkeit und Dauerhaftigkeit des Bauens im Kontext ständiger technologischer Veränderungen und der Nutzung und Wiederverwendung von Bauwerken. Gleichzeitig verbindet seine Entwicklung eines zeitgenössischen Humanismus einen tiefen Respekt vor Geschichte, Tradition, Präzision, geschriebenen und ungeschriebenen Regeln.
Seit die Welt dem bemerkenswerten Werk und der Lebensgeschichte von Francis Kéré Aufmerksamkeit zu schenken begann, dient er als eines der wenigen wirklichen Leuchtfeuer in der Architektur. Er hat uns gezeigt, wie die Architektur heute die Bedürfnisse der Menschen auf der ganzen Welt widerspiegeln und bedienen kann, einschließlich der ästhetischen Bedürfnisse. Er hat uns gezeigt, wie Lokalität zu einer universellen Möglichkeit wird. In einer Welt in der Krise, inmitten sich verändernder Werte und Generationen erinnert er uns an das, was war und zweifellos weiterhin ein Eckpfeiler der architektonischen Praxis sein wird: ein Gemeinschaftsgefühl und eine erzählerische Qualität, die er selbst so mitfühlend zu erzählen vermag; und Stolz. Damit liefert er eine Erzählung, in der Architektur zu einer Quelle anhaltenden und dauerhaften Glücks und Freude werden kann.
Für die Gaben, die er durch seine Arbeit geschaffen hat, Gaben, die über den Bereich der Architekturdisziplin hinausgehen, wird Francis Kéré zum Pritzker-Preisträger 2022 ernannt.